Die Narben aus der Vergangenheit

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Ich verstehe nur noch Bahnhof. Doppelträger, vorgegebene, selbstbestimmte, gute und schlechte Wege, Kinderlosigkeit und Kinder mit mehreren Vätern, die in trauter Mehrsamkeit zusammenhausen und besser keine Kinder zeugen sollten …

Ich versuche alles noch einmal auf einen für mich verständlichen Punkt zu bringen, aber Madame Moinette spricht weiter: „Außerdem steht etwas Dunkles dahinter, das ich als Bedrohung ausmache, aber nicht klar definieren kann. Es ist alles so verworren und als wolle ein Schleier es unsichtbar machen.“

„Okay“, sage ich leise. „Heißt das, dass allein bei Carolin die Entscheidungskraft liegt, weil sie mein Schicksal, aber auch das von zwei anderen ist?“

„Die wahrscheinlich beide auch Doppelträger sind. Ja. Eine unglaubliche Häufung, die mir so noch niemals untergekommen ist. Ich bin etwas verwirrt darüber, kann es aber nur so deuten“, gesteht die Frau vor uns und scheint einen Augenblick in eine andere Welt abzutauchen. Leise murmelt sie, eher an sich selbst gerichtet: „Wir wissen zu wenig über diese Doppelschicksale, ihre Ursache und ihre Entstehung.“

Langsam geht mir diese Doppelgeschichte wirklich auf den Geist.

„Aber ich bin definitiv eins ihrer Schicksale?“, frage ich geradeheraus.

„Offensichtlich.“

„Gut, wenn sie sich also für mich entscheidet, wird unser Schicksal sich erfüllen, wie es auch immer weitergeht?“

„Genau“, sagt Madame Moinette.

„Frau Moinette, und ich habe keine Mitbestimmungsgewalt?“, frage ich mürrisch noch einmal nach.

Sie sieht mich seltsam an und antwortet: „Aber natürlich. Wenn du sie verprügelst und betrügst wird sie dich verlassen und sich dem anderen Schicksal zuwenden. Das ist, was du selbst bestimmen kannst und was den Weg von deiner Seite aus ändern kann. Auch wenn ihr Schicksal sagt, dass ihr zusammen alt werdet.“

Ihre Worte sind wie ein Hieb ins Gesicht. Ich werde Carolin niemals schlagen oder betrügen. Aber sie muss einiges bei mir aushalten, dass ich nicht ändern kann und das jede andere, die wählen könnte, schon längst in die Flucht geschlagen hätte.

Carolin flüstert neben mir „Und was können die anderen tun, damit sich das Schicksal zu ihren Gunsten wendet?“

Madame Moinette sieht von ihr zu mir und dann wieder Carolin an. „Ich sagte schon, dass du ein Schicksal in dir trägst, das mächtig ist und nicht nur von Betroffenen herbeigesehnt wird, sondern auch von Außenstehenden, die aus der Erfüllung Kapital schlagen wollen. Dem zu widerstehen und dagegen anzukämpfen kann eure ganze Kraft fordern und die anderen letztendlich gewinnen lassen, wenn ihr nicht stark genug seid.“

Ihre Worte winden sich wie klebriger Schleim in meinem Kopf. Carolin hatte nichts davon erwähnt, dass es da auch noch irgendwelche anderen Einflüsse gibt, die sie in das andere Schicksal drängen wollen. Von was oder wem sprechen die beiden?

„Sie sagen, es betrifft zwei Männer. Aber es ist doch nur ein Schicksal“, sage ich und versuche das Ganze irgendwie zu verstehen.

„Deren Leben ist unweigerlich miteinander verbunden. Die beiden Männer tragen das gleiche Schicksal, dass bei Erfüllung dann für jeden einzelnen weitergeht, ohne die Verbindung zu Carolin zu verlieren. Und es ist ihr Schicksal, mit beiden gleichzeitig verbunden zu sein“, antwortet die Frau vor uns.

„Hä? Wie, sie ist dann mit beiden zusammen?“, frage ich aufgebracht.

„Was ich sehen kann … sie ist mit beiden fest und ausschließlich verbunden. Das sehe ich klar … und die Kinder, die daraus entstehen werden, und die seltsam Wichtig über Allem zu thronen scheinen. Aber solange ich nicht weiß, welches Schicksal Carolin zur Erfüllung bringt, kann ich nicht sehen, wie es weitergeht.“

Carolin sieht völlig überfordert von mir zu der Frau vor uns. Ihr Gesichtsausdruck wandelt sich von verunsichert in mürrisch und ich sehe Madame Moinettes Augen zu ihr wandern und sie mustern. Fast scheint es um uns herum zu knistern.

„Gute Einstellung. Ich sagte dir gestern schon, das ist ein guter Weg“, raunt sie Carolin mit weicher Stimme zu, ohne dass diese auch nur ein Wort gesagt hat.

Carolin wirkt kurz verdutzt und ich versuche zu ergründen, was hier gerade vor sich geht. Dann nickt Carolin kaum merklich und sieht mich an.

„Und nun geht. Ich habe euch alles erklärt, was ich euch sagen konnte. Ich wünsche euch alles Gute und dass ihr stark seid“, sagt die Frau vor uns und erhebt sich.

„Vielen Dank, Madame Moinette“, sagt Carolin viel zu schnell und steht auf.

„Vielen Dank“, raune ich, bin aber unzufrieden. Ich habe nicht das Gefühl, genug zu wissen, um klar erkennen zu können, was ich tun soll und welche Chancen wir haben.

Die junge Frau erscheint hinter uns und begleitet uns in den vorderen Teil des Zeltes. Ich frage sie, meine Geldtasche zückend: „Was kostet das Gespräch? Der übliche Preis?“

Sie schüttelt den Kopf und winkt ab. „Madame Moinette möchte diesmal keine Bezahlung.“ Sie schiebt uns zum Ausgang und ich sehe sie nur fassungslos an. Dass sie kein Geld wollen, verunsichert mich, weil ich nun das Gefühl habe, es war keine Vorhersage unserer Zukunft, sondern eine Erklärung und ein Wegweiser für arme, hoffnungslose Fälle, die der Frau da drinnen nur leidtun.

Als uns die frische Luft umfängt, atme ich gierig die sauerstoffreiche Luft ein und uns umfangen sofort der Rummel und der Lärm wieder. In dem Zelt hatte ich nichts davon mitbekommen.

Ich greife nach Carolins kalter Hand und ziehe sie mit mir fort, dem nächsten Ausgang entgegen. Ich will nach Hause, über alles nachdenken und Carolin und mich in unserer Wohnung einsperren, bis ich weiß, was ich tun soll. Vielleicht für immer. Dann kann uns nichts angreifen, nichts uns auflauern und nichts uns zerstören.

Wir laufen nach Hause und sprechen unterwegs kein Wort. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Ich versuche die Worte der Hellseherin zu verstehen, zu durchleuchten und einen Weg zu finden, der mein und Carolins Schicksal zu einem Einzigen werden lässt, dass kein anderes, mächtiges, von der Welt angeblich gefordertes bedrohen kann.

Erst als die Haustür hinter uns ins Schloss fällt und wir die Treppe zur Wohnung hochgehen, atme ich auf. Ich fühlte mich da draußen verletzlich und unsicher. Hier ist unsere Welt, in die nichts und niemand eindringen kann.

Als ich die Wohnungstür hinter uns zuschließe, sehen wir uns unschlüssig an.

Ich schüttele den Kopf und raune leise: „Ich habe die ganze Zeit versucht, dieses Durcheinander von Schicksalen auf die Reihe zu bekommen und ich komme gar nicht drauf klar, dass dich ein Schicksal mit gleich drei Männern verbindet.“

Carolin sieht mir in die Augen und sagt entschieden: „Falsch! Ein Schicksal verbindet mich mit dir und das andere mit zwei anderen. Das hat Madame Moinette ganz klar so gesagt. Aber mich interessiert sowieso nur das Schicksal mit dir und ich werde persönlich dafür sorgen, dass nur das sich erfüllt.“

Ihre Worte müssten mich trösten und aufbauen. Aber ich bin in einem Gefängnis aus Kälte und Unsicherheit gefangen und knurre nur, alles Schlechte auf den Tisch werfend: „Ein Kinderloses?“

Ohne zu zögern antwortet Carolin: „Ja, ich wähle das Kinderlose. Das hat einen ganz wichtigen Grund. Wenn ich ein Kind in die Welt setze, weiß ich nicht, ob es nicht auch mit dem alten Vermächtnis des Alchemisten belastet wird und das möchte ich keinem Kind zumuten.“

Die alte Geschichte aus ihrer Familie, die auch nichts ist, was mein Gehirn verstehen kann.

Carolin sagt leise und niedergeschlagen: „Allerdings ist es schade, wenn du kein Kind bekommst. Du wärst bestimmt ein guter Vater. Vielleicht etwas zu übervorsichtig, aber total lieb. Und so ein kleines, blondes Lockenköpfchen mit braunen Augen … Aber wie gesagt, in meinem Leben sind Kinder keine gute Idee.“

Sie geht an mir vorbei ins Wohnzimmer und ich sehe ihr nach. Es war unverkennbar etwas in ihrer Stimme, dass sie bedauert, dass es diesen kleinen Lockenkopf nicht geben wird. Sie ist wie alle Frauen. Irgendwann wird sie Kinder haben wollen und dann?

Ich gehe zum Wohnzimmerfenster, während Carolin sich auf das Sofa fallen lässt. Mir eine Zigarette anzündend, sehe ich hinaus und ziehe den Zigarettenrauch tief in meine Lunge.

„Hm, zumindest bin ich beruhigt, dass ich auch wirklich eine Rolle in deinem Leben spiele“, sage ich nach einiger Zeit und das ist wirklich das Einzige, das von den ganzen Ausführungen der Hellseherin klar zu sein scheint.

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass das alles so mit diesen Schicksalen funktioniert“, meint Carolin nachdenklich. „Was ist mit all den anderen Menschen, die man mal kurz oder länger getroffen hat? Ist das auch alles im eigenen Schicksal integriert oder nur die wichtigen, großen Dinge? Also ich weiß nicht, ob das alles so stimmen kann … mit dieser Schicksalsgeschichte.“

„Keine Ahnung. Ich steige da auch nicht durch. Vielleicht hätte man niemals zu ihr gehen sollen und wäre dann zwar nicht schlauer, aber auch nicht so durcheinander“, antworte ich ihr.

Ich rauche meine Zigarette und sehe auf die Stadt hinaus, die sich vor unserem Fenster ausbreitet, höre die Autos brummen und das Heulen von Sirenen. Aber in meinem Kopf laufen so viele Fragen ab, dass sie alles übertönen. War es mir von Anfang an bestimmt gewesen, diese Daniela als Kindermädchen zu bekommen und war es ihre Bestimmung, sich mir gegenüber so zu verhalten und mich so zu verletzen, um dann für Jahre dafür ins Gefängnis zu gehen? Oder war das ein Punkt gewesen, wo sie die Möglichkeit gehabt hatte, einen besseren Weg einzuschlagen und versagte? Und was war mit den vielen Frauen, die ich verletzte, um mich letztendlich für die Tat von Daniela zu rächen? War das das Ergebnis des Resonanzprinzips oder sollte jeder Frau eine Möglichkeit geboten werden, meine Rachegedanken niederzuringen, was jedoch keiner gelang? Dazu musste erst Carolin kommen.

 

Carolin ist mein Schicksal. Mit ihr musste es anders laufen, denke ich energisch. Sie ist kein Zufall, bei dem ich zufällig anders tickte. Sie ist meine Bestimmung … und dass zwei anderer Typen.

Hinter mir springt Carolin vom Sofa auf und rennt aus dem Wohnzimmer.

Ich drehe mich erschrocken um und werfe den Zigarettenrest aus dem Fenster. Dass sie plötzlich aus dem Zimmer stürmte, verunsichert mich.

Ich laufe zum Badezimmer und höre sie sich über der Toilette übergeben. Sie kniet auf dem Fußboden, am ganzen Körper zitternd.

„Carolin, oh Mann, was ist denn los?“

Ihr Zustand, der plötzlich so umschwenkte, erschreckt mich zutiefst.

Sie lässt sich an die Wand neben der Toilette gleiten und zieht etwas Toilettenpapier von der Rolle, um sich den Mund abzuputzen.

Ich spüle und ziehe sie auf die Beine. Besorgt frage ich sie: „Hast du dir den Magen verdorben?“

Sie schüttelt nur den Kopf und haucht leise und zittrig. „Geht schon wieder.“ Aber in ihrem Blick liegt Verzweiflung und ich wüsste zu gerne, was der Auslöser ist. Aber ich ahne, sie wird es mir nicht verraten. Wie sie mir nichts verrät.

Ich bringe sie zum Sofa zurück, auf das sie sich fallen lässt und murmelt: „Das ist nur die ganze Aufregung und mein empfindlicher Magen.“

Ich ziehe sie an meine Brust und wünsche mir erneut, ihre Gedanken lesen zu können. Sie hatte mir nichts davon gesagt, dass ihr zweites Schicksal viel stärker als unseres sein soll und sogar andere es erfüllt wissen wollen, um, wie hatte die Hellseherin gesagt, Kapital daraus zu schlagen. Sie wusste davon und hatte mir nichts gesagt. Was weiß sie noch, was sie mir verschweigt? Mir hatte Madame Moinette gesagt, dass Carolin ein dunkles Geheimnis in sich birgt.

Aber um sie hier und jetzt zu beruhigen, antworte ich leise: „Ich bin auch ziemlich durcheinander und fühle mich auch nicht besonders gut“, und küsse sie auf ihre verschwitzte Stirn. „Das ist auch alles nicht leicht zu verkraften. Komm, ich bringe dich ins Bett. Ruhe dich einfach aus und ich gehe eben nach Daniel sehen, ob er schon wieder da ist.“ Ich sprach es aus, ohne selbst über die Bedeutung nachgedacht zu haben. Es war ein eigenständiges Handeln meines Körpers und Kopfes und ich bin verwirrt, während ich sie aus meinen Armen schiebe.

Mir wird klar, ich brauche etwas und deshalb zieht es mich zu Daniels Wohnung. Ich komme sonst nicht mehr klar.

Carolin sieht mich an. Ich fühle fast ihr stummes Entsetzen und sehe zu Boden. Auch sie weiß, was ich damit ausdrücke und was ich damit meine.

Langsam erhebt sie sich, als müsse sie das ganze Dach erst hochheben, um stehen zu können und raunt: „Ich gehe ins Bett. Geh du nur. Ist vielleicht besser.“

Ihre Worte klingen aufgebracht und resigniert und sind das, was sie sein sollen: Eine Anklage. Sie weiß, ich komme nicht mehr klar und meine offensichtliche Schwäche macht mich wütend.

Sie geht an mir vorbei ins Schlafzimmer und ich sehe ihr hinterher. Hätte sie mich an die Hand genommen, gesagt, dass sie mich nicht gehen lässt, so würde ich bleiben. Aber sie lässt nur die Tür laut ins Schloss krachen.

Ich spurte los, von Selbstzweifeln und Wut getrieben, greife meine Jacke und verlasse die Wohnung. Dabei lasse ich die Tür hinter mir genauso laut zufallen, wie Carolin es zuvor mit der Schlafzimmertür getan hatte. In meinem Bauch liegt ein Stein und ich spüre betroffen seine Schwere, die meine Unzulänglichkeit auf erdrückende Weise zum Ausdruck bringt. Das schürt meine Wut über alles, was mir immer wieder passiert und mit einem Mal fühlt sich sogar die Liebe zu Carolin falsch an.

Vor Daniels Tür klingele ich Sturm. Aber er macht nicht auf. Er ist nicht da und ich verlasse wütend das Haus und laufe in die Stadt. Ich bin am Ende und alles übersteigt meine Kräfte.

Es ist kalt und nieselt leicht. Ich schließe meine Jacke und laufe geduckt durch die Straßen. In einer Nische eines Schuhgeschäftes bleibe ich stehen und zünde mir eine Zigarette an. Ich nehme mein Handy in die Hand und will Daniel anrufen, um zu erfahren, wo er steckt. Aber noch bevor ich seine Nummer drücke, frage ich mich, was ich ihm sagen soll?

Du, Daniel, komm mal schnell nach Hause, ich brauche dringend meine Dosis Weiß?

Er würde mich genauso ansehen wie Carolin.

Ich schüttele den Kopf und atme tief durch. Aus dem Nieseln wird Regen und ich sehe auf der anderen Straßenseite eine kleine Kneipe, die mir wenig einladend entgegenleuchtet. Vielleicht genau das Richtige für meine aufgebrachte, trostlose Verfassung.

Schnell sprinte ich zur Tür, trete meine Zigarette aus und gehe hinein. Es ist nicht viel los und ich setze mich an die Theke. Eine brünette, ältere Frau beugt sich über den Tresen und fragt: „Was solls denn sein?“

„Ein Bier“, brumme ich, weil sie mich ansieht wie Sam und Teddy Frischfleisch. Doch dann verbessere ich mich: „Ne, mach mir ein Wodka O-Saft … einen doppelten am besten.“

Sie nickt und grinst mich ziemlich herausfordernd an und ich sehe mich um, ob es nicht noch andere Männer in dem Laden gibt, denen sie sich widmen kann. Aber es sitzt nur ein steinalter, betrunkener Kerl in einer alten Strickjacke an der anderen Seite der Theke, und eine Männerrunde mit scheinbar dem Altersheim entlaufenen Kartenspielern an einem Tisch. Mir ist klar, warum ich hier gerade zur Attraktion werde.

Sie stellt mir ein Glas hin und ich trinke einen Schluck. Das mit dem Doppelten hat sie wirklich wörtlich genommen. Zumindest was den Wodkaanteil angeht, der schmeckt wie der Doppelte vom Doppelten.

Da auch andere rauchen, zünde ich mir eine Zigarette an und die Wirtin beginnt Gläser zu polieren. Aber sie sieht dabei nicht die Gläser an …

Ich trinke meinen Wodka eilig aus, weil ich lieber schnell wieder gehen möchte. Aber bevor ich mir den letzten Schluck in die Kehle kippe, steht schon ein neuer Dring da. „Geht aufs Haus“, sagt die Wirtin. „Du siehst so aus, als brauchst du noch einen.“

Sie hat recht. Demnach könnte sie mir gleich die Flasche hinstellen.

„Danke“, raune ich und trinke das erste Glas leer.

Die Wirtin bringt an den Rentnertisch neue Getränke und einer packt ihr doch tatsächlich an den Hintern. Ich kann es nicht fassen! Und sie quiekt auf, als wäre sie fünfzehn.

Ich trinke das zweite Glas auch ziemlich schnell leer und die Wirtin fragt: „Noch einen?“

Ich will eigentlich gehen, aber ich kann nicht. Ich fühle mich einfach noch nicht bereit für die Welt da draußen. Außerdem wird Carolin sauer sein, weil sie denkt, ich bin schon wieder zugedröhnt und ich wäre das auch, wenn Daniel zu Hause gewesen wäre.

Bevor ich etwas sage, steht schon das dritte Glas vor mir.

Die Wirtin sieht mich an und murmelt: „Das Leben ist ein Schwein.“

Sie spricht mir aus der Seele und ich nicke. Und dann sage ich leise: „Und ich bin auch eins. Meiner Freundin geht es nicht gut und ich bin einfach abgehauen.“

Es dauert, bis die Wirtin sagt: „Warum solltest du anders sein als all die anderen Männer?“

Ich sehe sie mürrisch an. „Ich muss anders sein. Sonst hätte sie sich nicht in mich verliebt.“

Sie lacht gehässig auf. „Weißt du, Junge, wahrscheinlich hast du recht. Ich habe mir schon immer gedacht, dass es anders sein muss, als es nach außen hin scheint. Ihr Männer seid die Guten und ganz okay. Es sind die Frauen, die euch zu Schweinen machen, stimmt’s?“, sagt sie und ihre Worte klingen verdammt ironisch.

Will sie mich verarschen?

Ich nehme das dritte Glas und trinke einen Schluck. Ich glaube, langsam ist schon aus dem doppelten ein dreifacher geworden. Die Wirtin grinst, als ich mein Gesicht verziehe. Leise raune ich: „Nein, ich war vorher schon eins. Meine Freundin hat aus dem Schwein einen Menschen gemacht. Sie hat so was wie mich gar nicht verdient. Sie hat sogar mal gesagt, dass sie nicht weiß, was sie verbrochen hat, um mich zu verdienen.“ Ich lache wütend bei der Erinnerung daran auf. „Und trotzdem ist sie immer noch da.“

Das Gesicht der Wirtin verfinstert sich. „Du schlägst sie doch nicht, oder?“

Ich sehe auf. „Nein! Ich würde ihr niemals wehtun!“ Mein Mund schließt sich und ich frage mich, was ich hier gerade mache. Was ich getan habe, als ich ging. Habe ich ihr damit nicht sogar wehgetan? Es ist noch keine zwei Tage her und sie hatte sich nur eins von mir gewünscht: Dass sie wichtiger für mich ist als meine Drogen. Ich hatte ihr das versichert und sogar noch einen draufgesetzt. Sie ist das Wichtigste für mich auf der ganzen Welt! Jaja.

„Ich bin wieder der alte Arsch. Das alte Schwein, wie schon mein ganzes Leben lang“, murre ich aufgebracht und trinke das Glas leer, um zu gehen.

„Noch einen? Zum Abschluss?“, fragt die Wirtin und hat schon ein Glas in der Hand.

Mir ist komisch. Das Zeug, das sie mischt, ist zu stark und die Gläser verdammt noch mal zu groß.

„Aber bitte einen normalen“, antworte ich und bleibe sitzen.

Sie stellt einen neuen hin und bringt dann wieder Getränke an den Herrentisch. Diesmal drehe ich mich nicht um. Aber die Alten machen Sprüche, als wären sie gerade dem Jungbrunnen entsprungen.

„Mira, mein Mädchen, kommst du mir heute Nacht die Füße wärmen?“

Ein anderer antwortet lachend: „Die wärmt dir nicht nur die Füße. Auch deine verschrumpelten Eier.“

Noch ein anderer brüllt grölend: „Heute nicht. Mira ist auf einen anderen Fang aus.“

Der ganze Tisch grölt los und ich schüttele den Kopf und nehme einen Schluck aus meinem Glas. Das Getränk ist die Hölle und bestimmt kein einfacher Wodka O-Saft. Ich weiß, nach dem muss ich gehen.

Die Wirtin Mira kommt wieder zurück an die Theke und lächelt. Sie ist gar nicht mehr so alt und hat einen Vorbau, der sich sehen lassen kann.

Ich krame meine Geldtasche hervor und brumme: „Was bin ich schuldig?“

Wieder grölt die Rentnerband hinter mir los und mir wird klar, sie verfolgen jeden meiner Schritte.

„Fünfunddreißig“, höre ich die Wirtin undeutlich sagen und haue ihr zwei Zwanziger auf den Tresen, trinke den Rest meines Glases aus und schiebe mich vom Hocker.

„Hey Junge, komm, Jass eine Runde mit uns!“, ruft einer der Opas vom Tisch und gestikuliert wild, dass ich zu ihnen kommen soll.

Ich winke nur ab und gehe zur Tür. Ich muss schnell hier raus, weil ich das Gefühl habe, hinter mir rattert schon ein Bulldozer heran. An der frischen Luft überrollt er mich dann auch gnadenlos.

Ich sehe auf meine Uhr und habe Schwierigkeiten, die Ziffern zu erkennen. Eine Stunde war ich in der Kneipe und habe das Pensum von zwei Abenden hinter mir.

Ich laufe die Fußgängerzone weiter und frage mich, wohin ich eigentlich gehen soll.

Das Leben ist ein Schwein.

Ich kann so nicht nach Hause gehen. Carolin wird mich gleich vor die Tür setzen.

Ich lasse mich auf eine Treppe zu einem Buchladen fallen und zünde mir eine Zigarette an. Es nieselt nur noch, aber hier sitze ich geschützt und die Woge des Alkohols überrollt mich immer mehr. Das Zeug war auch wirklich erschreckend stark. Vielleicht war der Wodka auch von wer weiß woher geschmuggelt oder von irgendeinem Hinterwäldler selbst gebrannt worden.

Mir ist klar, ich werde bald stock betrunken sein und das macht mich wütend, weil ich mich so auf keinen Fall mehr bei Carolin blicken lassen kann, obwohl sie mir mit jeder Minute mehr fehlt. Und dass es ihr so schlecht ging, als ich abhaute, lässt mein schlechtes Gewissen wachsen wie eine Zauberbohne. Verdammt!

Ich stehe auf und suche nach meinem Handy. Vielleicht sollte ich Daniel anrufen und fragen, ob er endlich zu Hause ist. Aber was soll ich ihm erklären? Dass ich wieder einmal mein Leben nicht geschissen bekomme?

Ich hieve mich hoch und gehe los. Es regnet wieder stärker, aber ich merke das gar nicht. In mir toben immer mehr die Gedanken an all den Scheiß, der mich und Carolin ständig umgibt. Warum kann sie nicht einfach nur ein normales Mädchen mit einem normalen Leben sein?

Wie ein kleiner, roter Teufel knurrt eine Stimme in mir: Ein normales Mädchen? Kein normales Mädchen würde bei dir durchgeknallten Kreatur bleiben.

Ich wollte doch nur wissen, was uns in der Zukunft erwartet - verteidige ich mich, als ginge es darum.

Jaja! Und, weißt du es jetzt? Bist du nun zufrieden? Carolin braucht dich nicht. Sie hat noch zwei andere Männer in petto, die nur auf sie warten. Und die Hellseherin sagte doch, wenn du ihr blöd kommst oder betrunken … oder zugekifft, dann ist sie weg.

 

Ich bleibe stehen und lehne mich an eine Laterne. In meinem Bauch wütet etwas und in meinem Kopf wirbeln kleine Stürme. Ich laufe weiter und weiß, wohin mich meine Füße tragen. Ich gehe in mein Panikreich und werde dort versuchen wieder klar zu werden. Vielleicht sollte ich kalt duschen? Oder mich auskotzen?

Von weiteren wilden Gedanken getrieben, die sich erbarmungslos in meinen Kopf schieben, laufe ich den langen Weg nach Hause.

Wer sind die beiden Kerle, die Carolins anderes Schicksal sind? Und warum sind es zwei? Welche Frau hat ein Schicksal mit zwei Kerlen? Das kann es doch gar nicht geben! Wenn ein Mann zwei Frauen haben will, ist das ja noch verständlich … aber nicht die Sache mit Carolin. UND WER SIND DIE TYPEN?

„Scheiße!“, fluche ich vor mich hin und biege in die nächste dunkle Straße ein. „SCHEISSE!“, brülle ich laut und unbeherrscht.

Tim schiebt sich in meinen Kopf. Seine dunklen Augen und seine schimmernden schwarzen Haare mit dem Blaustich. Und dann Julian, sein Bruder.

Mir stockt der Atem. Zwei Männer, die in einer Verbindung zueinander stehen.

Mein Magen rebelliert und ich lehne mich an eine Hauswand, stütze mich mit der Hand ab und übergebe mich. Ich kotze den Anwohnern direkt auf die Treppe. Nah toll.

Schnell wanke ich weiter und versuche nicht mehr an Carolin und ihre Brüder zu denken. Aber nein … Tim ist nicht ihr Bruder. Er ist nur Julians Bruder. Das hatte er uns doch erklärt.

Ich komme von dem Thema nicht mehr los und trete wütend an einem Hauseingang gegen einen Terrakottatopf mit Blumen. Der springt krachend auseinander und ich laufe weiter. In meinem Kopf brummen Bienen, die langsam zu Hornissen werden. Und dann packt mich die Wehmut. „Das ist meine Carolin!“, jaule ich auf wie ein getretener Hund.

„Kann sie ja auch bleiben“, murrt ein Penner, der ein klappriges Fahrrad schiebt, an dem Tüten und Taschen hängen.

„Du bekommst sie nicht auch noch!“, brülle ich den Typ an und er schiebt sein Fahrrad schnell weiter.

Endlich komme ich nach einer gefühlten Ewigkeit bei der Villa an und versuche mich zusammenzureißen. Im Haus ist alles dunkel und wenn ich Glück habe sind meine Eltern nicht da.

Ich schließe die Haustür auf und stolpere die Treppe hoch. Da keiner in den Flur gestürmt kommt und das Flutlicht anwirft, scheint wirklich keiner da zu sein.

In meinen vier Wänden angelangt, suche ich sofort nach der Fernbedienung und schließe meine Tür mit einiger Mühe, weil ich verlernt habe, sie blind zu bedienen. Und ich bin blind, oder sehe vielmehr alles doppelt, oder sogar dreifach … wie mein Wodka. Die Tussi hat mich voll abgefüllt. Wie einen dummen Buben. Und mehr bin ich auch nicht.

„Carolin, was willst du mit mir?“, frage ich leise und in einem Anflug von Selbstzerstörung. „Du kannst jeden haben. Sogar zwei auf einmal. Aber du willst mich!“, überkommt mich eine traurige Erkenntnis, und lässt mich nicht nur auf mein Sofa fallen, sondern auch einen winzigen Lichtblick in mein Gehirn. Ich suche nach meinem Handy. Ich muss ihr Bescheid sagen, dass ich zu Hause schlafe.

Mit größter Schwierigkeit schreibe ich: „Schatz, sei mir nicht böse. Ich wollte dir so nicht unter die Augen treten und schlafe zu Hause.“

Mehr kriege ich nicht auf die Reihe und versende das. Mein Kopf schaltet sich aus und beginnt wie ein Hamster in einem Rad seine Runden zu drehen. Mir ist wieder übel und ich versuche, auf meinem Sofa liegend und ohne meine Schuhe oder Jacke auszuziehen, schnell einzuschlafen. Carolin hätte mich ins Bett gebracht und schlafen gelegt. Ganz sicher.