Die Narben aus der Vergangenheit

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„Geht das denn wieder?“, frage ich beunruhigt.

„Ja. Und ich habe eben die Pille wieder eingeworfen. Wir haben auch einiges nachzuholen und Ellen hätte mich mit nichts heute aus dem Haus gebracht. Nicht, bevor du die Hawaitoasts abgearbeitet hast.“ Sie grinst süffisant.

So ist das also! Sie hatte auch gar nicht vor zur Kirmes zu gehen.

Schnell antworte ich: „Ich bezahle sofort. Hawaitoast … was mag das kosten? Also mindestens ein schönes Vollbad zu zweit, eine heiße Ganzkörpermassage und die halbe Nacht Zuwendungen aller Art“, zähle ich auf. Mir wird heiß und ich kann es gar nicht abwarten, sie endlich wieder in meine Arme zu ziehen und lieben zu dürfen.

Carolin steigt von meinem Schoß. „Ja, klingt gut! Eine angebrachte Bezahlung.“

„Okay, ich lasse das Badewasser einlaufen“, sage ich.

„Und ich schaffe hier eben ein wenig Ordnung. Treffpunkt Badezimmer … in wenigen Minuten. So lange kann ich noch aushalten. Aber keine Minute länger“, sagt sie mit sanfter Stimme, die schon so viel verspricht.

Ich mache einen Schritt auf sie zu, aber sie hebt abwehrend die Hand. „Badewanne“, raunt sie nur.

Ich muss lachen. Würde ich es drauf anlegen … sie hätte keine Sekunde eine Chance. Aber ich füge mich, die Vorfreude auskostend.

Am Samstagnachmittag stehen Ellen und Daniel mit Kuchen vor der Tür.

Ich verstaue gerade die letzten Einkäufe, die ich mitgebracht habe, im Kühlschrank und Carolin beendet die Reinigung des Badezimmers.

Wir hatten am vergangenen Abend, bei heißen Küssen und stürmischen Erkundungen der Körper, das Wasser aus der Wanne verdrängt. Um den Wassermassen auf dem Fußboden Herr zu werden, mussten wir einige Handtücher opfern, die aber das ganze Ausmaß an Staub anzeigten, der sich überall angesammelt hatte. Darum wollte Carolin heute die Zeit nutzen, um die Wohnung zu entstauben und zu wischen. Dafür war ich einkaufen gegangen.

„Kuchen!“, ruft Ellen gut gelaunt und Carolin schickt sie und Daniel zu mir in die Küche, während sie selbst in unseren kleinen Wäscheraum verschwindet.

Daniel begrüßt mich mit unserem Handschlag und wirft einen Blick zurück, ob Carolin in der Nähe ist.

„Und? Alles klar?“, fragt er und ich weiß, er meint, ob ich mit Carolin über Julian gesprochen habe. Warum er allerdings so mit der Tür ins Haus fällt, erfahre ich, nachdem ich bejahe.

„Julian war gestern mit Michaela auch auf der Kirmes. Und nicht nur das! Er war auch den ganzen Abend bei uns“, raunt Daniel leise.

„Glaubst du, das war so geplant, um an Carolin heranzukommen?“, frage ich ihn.

„Ich denke schon.“

„Nah, dann war ja gut, dass wir nicht mitgegangen sind. Und kamst du mit ihm klar?“

„Ging so. Er war den ganzen Abend überfreundlich und hat mich sogar in eins der Karussells eingeladen.“

„Der versucht es auch mit allen Mitteln“, raune ich.

Daniel fügt hinzu: „Aber er ist auf dich ganz schlecht zu sprechen. Er führt sich so auf, als wäre er ein eifersüchtiger Gockel.“ Daniel grinst.

Ich kann nur ernst nicken. Die Gefahr, dass Julian einiges aus meinem Leben den Eltern steckt, ist nicht gebannt.

Carolin kommt zu uns in die Küche und wir beenden das Gespräch sofort.

Ellen sieht ihr lächelnd entgegen. „Bist du schon wieder arbeitswütig?“, fragt sie und kann das scheinbar gar nicht verstehen.

„Ich musste mal wieder sauber machen“, verteidigt Carolin sich und wirft sich auf einen Stuhl.

„Tja, das versteht sie bei mir auch nie“, sagt Daniel.

„Ihr Helden des Alltags habt es echt nicht leicht mit uns Zeiss-Clarkson“, brumme ich mürrisch, weil Daniel und Carolin da mehr Gemeinsamkeiten aufweisen, als mir lieb ist. Fast fühle ich eine Eifersucht auf Daniel in mir hochkriechen.

Wir trinken Cappuccino und essen Erdbeerkuchen. Carolin stochert gedankenverloren in ihrem Kuchenstück herum, während Ellen mich fragt: „Und … heute Abend? Geht ihr mit?“

Ich weiß, noch einen Abend entlässt sie uns nicht aus ihren Klauen. „Von mir aus! Aber erst abends. So um neun.“

Ellen freut sich und wendet sich an Carolin: „Gut, dass war gestern auch echt klasse dort. Ich zeige dir dann voll das schräge Karussell.“

Carolin stochert weiter in ihrem Erdbeerstück herum und reagiert nicht.

„Carolin? Hey, Erde an Carolin. Ich rede mit dir!“, versucht Ellen sie aus ihren Gedanken zu reißen.

Das sind die Momente, wo ich mir wünsche, Carolins Gedanken lesen zu können. Wenn sie so abdriftet, werde ich sofort nervös. Ich hätte auch gerne eine gewisse Kontrolle über diesen Teil von ihr, der sie ab und zu weit weg von mir gefangen hält. Ich hasse das.

„Ähm, ja? Was?“

„Das war gestern echt cool! Und dazu das tolle Wetter! Wir sind überall reingegangen, außer in dieses eine Wahnsinns-Monsterkarussel. Ich schwör dir, das ist der Hammer!“

„Wir können ja vielleicht heute Abend auch zur Kirmes gehen?“, meint Carolin ohne Begeisterung. Sie sieht mich an.

„Um neun! Wir haben das gerade eben schon geklärt. Wo warst du mit deinen Gedanken?“, brumme ich.

„Ach so. Gut!“, sagt sie nur, und isst ihren Kuchen weiter.

Nur weil Daniel und Ellen da sind, entgeht sie einem Übergriff von mir, der sie schon dazu bringen würde, mir zu sagen, was in ihrem Kopf vorgeht. Und ich kann es nicht mal verschieben. Daniel und ich müssen gleich noch zu einem befreundeten Automechaniker, der einige Ersatzteile für Daniels BMW verkaufen will.

Nach dem Kaffeetrinken wollen wir uns auf den Weg machen. Ellen möchte noch bei Carolin bleiben und sie wollen noch einen weiteren Cappuccino trinken.

Ich sehe Carolin unschlüssig an und muss doch schlucken, dass ich hier und jetzt nicht erfahren werde, was sie wieder so weit von mir wegbrachte. Aber dass es etwas Derartiges gibt, wurmt mich tief in meinem Inneren und ist für mich ein unerträglicher Zustand, den ich nur mit Mühe ertragen kann.

Zukunftsvision

Dass ich überhaupt zu dieser Kirmes gehe, liegt nur an dem Umstand, dass ich mir dort mein Quäntchen Zukunftsvision holen will. In diesem Herbst treibt es mich mehr denn je zu diesem Einblick in meine Zukunft.

Die Vorhersage der Hellseherin Madame Moinette, die dort jedes Jahr ihr Zelt aufschlägt, hatte sich bisher für mich in vollem Umfang erfüllt. Sie hatte mir gesagt, dass ich auf jemanden treffen werde, die mein ganzes Leben verändern wird. Und so ist es dann auch gekommen. Ich bin auf Carolin gestoßen. Nun muss ich wissen, wie es mit uns weitergeht.

Daniel und Ellen gehen dicht hinter uns durch die Menschenmasse, die sich über den lauten, bunten Platz schiebt.

Ich halte Carolins Hand fest in meiner. An ihrem Gesichtsausdruck sehe ich, dass sie sich unwohl fühlt. Sie wirkt in dieser schrillen, lauten Buden- und Karussellwelt klein und zerbrechlich. Immer wieder wird sie angerempelt und ich ziehe sie dicht an mich heran. Sie wirkt wie ein Plastikball in einem tosenden Meer.

Für Ellen hingegen scheint das hier eine Welt zu sein, die sie täglich erleben könnte und sie hätte doch nie genug davon. Sie zieht Daniel zu einer Bude und fordert von ihm, dass er ihr eine Rose schießt. Natürlich lässt er sich nicht lange bitten, bezahlt und schießt aus dem Stegreif drei Rosen ab. Ellen gibt er eine Weiße und eine Rote. Carolin hält er eine Gelbe hin, die sie unsicher nimmt. Sein Lächeln ist entwaffnend und ich denke, nur deshalb nimmt Carolin die Rose überhaupt an und knüllt sie wenig später ziemlich lieblos in ihre Handtasche.

Ich besehe mir das Ganze mit gemischten Gefühlen. Dass Daniel ihr die Rose gab, ließ in mir eine Welle der Entrüstung hochtreiben. Aber dass Carolin sie dann in ihre Handtasche knautschte, ließ diese Welle wieder zu einer seichten Gischt werden. Und sie fordert nichts von mir. Weder, dass ich ihr eine Blume schieße, noch sonst etwas.

Ellen drängelt bei einer Hot Dog Bude, dass sie Hunger hat und wir holen uns alle ein Hot Dog.

Immer wieder treffen wir auf Bekannte und bleiben hier und da stehen, um jemanden zu begrüßen und uns kurz zu unterhalten. Dabei versucht Carolin mehr als einmal sich von meiner Hand zu lösen.

Ich weiß, es sind die verblüfften Blicke, die sie treffen und verunsichern. Hier und heute scheint auch der Rest der Welt zu erfahren, dass ich nicht mehr der Alte bin. Es gibt ein Mädchen an meiner Seite und ich bekenne mich ganz offen zu ihr.

Aber scheinbar ist das immer noch ein Problem für Carolin, dass ich nicht einschätzen kann. Mittlerweile denke ich aber, dass ihre Ausbruchversuche nur dazu dienen, den neuen Erik nicht vor allen bloßzustellen. Denn viele sparen nicht mit dummen Bemerkungen diesbezüglich, was mir wieder vor Augen hält, was alle über mich denken. Ich gelte immer noch als Junkie, Drogendealer, Schläger, Geldeintreiber, irrer Draufgänger und Frauenherzenbrecher, den bisher keine länger als eine Nacht halten konnte. Und für den einen oder anderen bin ich wahrscheinlich auch noch ein seelenloser Mädchenhändler. Das zumindest meine ich in den Gesichtern der Leute zu erkennen, die mich an diesem Abend begrüßen und ansprechen - mehr oder weniger freundlich, aber vollkommen überrascht darüber, mich nun mit einer Frau an meiner Seite zu sehen.

Dass Carolin lieber nicht der Gerüchteküche um mich herum auch noch Nahrung geben will, verstehe ich zwar, entlasse sie aber keinen Moment aus meinem festen Griff. Ich habe mich geändert und sie an meiner Seite zu haben soll das jedem klarmachen. Wo ich immer glaubte, mit so etwas eher Schwäche zu zeigen, erfüllt es mich nun mit Stolz. Zu viele Menschen hatten in den letzten Jahren begonnen, mich als Irren hinzustellen, statt meinen Lebenswandel als cool zu bezeichnen. Ich schnallte das nur lange nicht und eins ist mir klar … ich will nicht mehr als irrer Draufgänger ohne vernünftige Lebensperspektive bezeichnet werden, der sein Leben einfach nicht geschissen bekommt.

 

Ich versuche den Weg zu dem etwas abgelegenen Zelt zu finden, in dem ich mir meine Zukunftsvision holen will, was sich aber bei jeder Kirmes erneut als schwierig erweist. Es sind so viele Straßen und Gassen und man hat nur schwer einen Überblick. Außerdem bin ich nervös. Was werde ich erfahren? Und wenn es eine schlechte Nachricht ist, wie soll ich dann damit umgehen?

Mir ist unwohl bei dem Gedanken. Aber ich muss es tun.

Wir schieben uns weiter durch die Menschenmengen, als wir erneut stehen bleiben, weil Ellen freudig ausruft: „Bitte Daniel! Bitte, bitte!“

Er lächelt sie ergeben an und geht an den Tresen, um sich die Auswahl an Zuckerherzen zeigen zu lassen.

In mir bäumt sich alles auf. Aber ich muss feststellen, dass für Daniel ein normaler Lebenswandel so einfach zu meistern ist, wie für die meisten Menschen. Er ist da so ganz anders als ich.

Ich sehe Carolin unschlüssig an, die sich einfach nur das Treiben um uns herum ansieht, ohne weiter auf Ellen und ihre Bitte einzugehen.

Daniel steht unschlüssig an der Bude und besieht sich die Aufschriften der Herzen, während Ellen ihn mit leuchtenden Augen beobachtet.

Unsicher beuge ich mich zu Carolin herunter und frage dicht an ihrem Ohr: „Möchtest du auch?“ Dabei nicke ich zu der Bude, an der Daniel steht.

„Bitte nicht. Ich steh da nicht so drauf und es wäre mir peinlich, den ganzen Abend damit herumlaufen zu müssen“, antwortet sie fast schon entsetzt.

Ich atme auf. Grinsend nehme ich sie in den Arm und flüstere ihr erleichtert ins Ohr: „Ich glaube, du wurdest extra für mich gemacht.“ Ich küsse sie auf die Schläfe und sie sieht mich verdutzt an.

In dem Moment ruft Ellen ohne Gnade: „Erik, du musst auch eins kaufen.“

Ich starre sie an. Warum tut sie das? Aber dann fällt mir etwas ein, als ich Ellens leuchtenden Augen sehe und brumme: „Sie ist so nervig! Aber sie hat dich zu mir gebracht und dafür hat sie ein wenig Dank verdient.“

Carolins Blick trifft meinen und ich zwinkere ihr zu. „Sie will, dass ich auch eins kaufe?“ Mit dieser Frage ziehe ich Carolin zur Bude und neben Daniel. Der hat gerade eins herausgefischt, dass er der dicken Verkäuferin präsentiert. „Das nehme ich.“

„Und ich das“, sage ich. Ein kurzer Blick in Carolins fassungsloses Gesicht sagt mir, dass sie das überhaupt nicht verstehen kann. Aber sie weiß schließlich nicht, was ich vorhabe.

Die Verkäuferin lächelt und zieht unter dem Tresen die zwei richtigen Herzen hervor. Wir bezahlen und Daniel dreht sich zu Ellen um und hängt ihr seins um.

Die Liebe meines Lebens - prangt mit weißer Zuckerschrift von dem riesigen Herz.

Ellen springt ihm an den Hals und küsst ihn stürmisch, völlig überwältigt von so viel offengezeigter Zuneigung. Sie steht da voll drauf.

Ich warte, bis der erste glückliche Anflug vorbei ist und Ellens Blick auf mich trifft. Sie sieht mich verunsichert an und löst sich von Daniel.

Ich hänge ihr mein viel Kleineres um den Hals, auf dem steht: „Mein Glücksbringer.“

Ellen sieht irritiert auf das kleine Herz über dem großen.

Ich erkläre ihr: „Du hast mir mein Glück gebracht.“ Mit den Worten ziehe ich Carolin dicht an meine Seite und küsse sie.

Carolin, sowie auch Ellen, scheinen von meiner Geste betroffen zu sein. Und ich weiß, so eine Aktion hätte mir keiner zugetraut … vor allem Ellen nicht. Aber es macht mir immer wieder Spaß, alle mit etwas zu Schocken, womit sie bei mir nicht rechnen.

„Musst du mir wieder die Show stehlen?“, brummt Daniel, lacht dann aber und schlägt mir freundschaftlich auf den Arm.

„Carolin will keins. Also kriegt Ellen eins“, sage ich nur und fügt noch einmal hinzu: „Wenn Ellen Carolin nicht angeschleppt hätte, wäre mein Leben immer noch ein trostloses Nichts.“ Ich weiß, das klingt wie aus einem Kitschroman … ist aber die volle Wahrheit.

Carolin drängt sich aus meiner Umarmung und zieht mich schnell weiter, als hätte sie Angst, dass es noch schlimmer mit mir werden könnte. Ich muss darüber schmunzeln. So wenig mir bisher solche theatralischen Gesten lagen, genauso wenig steht auch sie in aller Öffentlichkeit auf dergleichen.

Ellen hingegen kann ihr Glück gar nicht fassen, gleich zwei Herzen tragen zu dürfen.

In einer Sackgasse finde ich am Ende der langen Budenreihen das bunte Zelt der Hellseherin.

„Das habe ich gesucht“, raune ich leise und ziehe Carolin in die Richtung.

„Och ne, Erik, nicht schon wieder!“, ruft Ellen und verzieht das Gesicht.

Daniel raunt dicht hinter uns genervt: „Alle Jahre wieder.“

Ich werfe ihm einen schnellen Blick zu. „Ihr müsst nicht warten. Aber ich muss schauen, was sie diesmal sagt“, erkläre ich.

Carolins irritierter Blick wandert von Daniel zu Ellen, die ihr missmutig erklärt: „Das ist eine Hellseherin. Alles völliger Humbug!“

Ich glaube meine Aktion rechtfertigen zu müssen und sage: „Bisher hat sie wirklich gute Aussagen gemacht.“

„Hat sie Carolin vorausgesagt?“, fragt Ellen bissig.

„Sie sagte zumindest, dass ich im Sommer auf jemanden treffen werde, und dass das meine Welt verändern wird“, antworte ich gelassen und Ellen sieht mich überrascht an. Da sie nichts mehr erwidert, frage ich Carolin: „Willst du auch?“

Sie schüttelt entsetzt den Kopf.

„Gehst du denn mit rein?“, frage ich, weil auch sie dem Ganzen ziemlich entrüstet gegenübersteht.

„Besser nicht. Ich warte hier!“, antwortet sie. Ihr ganzes Gesicht spiegelt eine Angst wider, die ich kenne. Anfangs ging mir das auch so. Wenn man auf diese Weise in die Zukunft blicken lässt, kann das einen auch in einen Abgrund stoßen. Aber bisher erfuhr ich auf diese Art nur Annehmbares.

Ich nicke und wende mich an Daniel und Ellen: „Bleibt ihr dann doch bitte bei ihr?“

„Natürlich!“, sagt Daniel sofort.

Ich gebe Carolin einen Kuss und gehe schnell zu dem Zelteingang. Noch nie schlug mein Herz so heftig und war meine Unsicherheit so groß, als ich in das Zelt trete.

Die gleiche Gehilfin, wie bei der letzten Kirmes im Frühjahr, tritt mir entgegen und lächelt mich freundlich an.

„Ist Madame Moinette frei?“, frage ich sie und sie antwortet mit einer angenehmen Stimme: „Sie erwartet Sie bereits.“

Ich sehe sie überrascht an und folge ihr in den hinteren Teil, froh nicht warten zu müssen.

Hinter dem Tisch sitzt Madame Moinette und sieht mir aus ihren dunklen Augen freundlich entgegen.

Ich gehe zu ihr und setze mich auf einen der zwei Stühle.

„Erik“, sagt sie nur und macht keinerlei Anstalt zu einer weiteren Begrüßung.

Ich bin nervös und raune ohne Umschweife, um das zu kaschieren: „Madame Moinette, ich möchte Sie heute erneut bitten einen Blick in meine Zukunft zu werfen.“

Ich will ihr erklären, wieso und dass ihre letzte Aussage sich bewahrheitet hat. Aber sie hebt nur die Hand, dass ich nicht weiterreden soll. Einige Zeit sieht sie mich nur mit einem unergründlichen Blick an. Dann nickt sie fast unmerklich und schiebt sich an den Tisch heran.

„Du wirkst verändert. Die Kälte hat dich nicht mehr so fest im Griff. Es gibt etwas, das dich erwärmt und doch auch ängstigt. Gib mir deine Hand.“

Fast wie unter Hypnose reiche ich ihr meine Hand, die sie fest mit ihrer umschließt. Ihre andere Hand gleitet an einen Gegenstand, der unter einem Tuch verborgen ist. Ich warte und alles in mir beginnt nervös zu beben.

„Ruhig“, raunt die alte Frau vor mir, deren schwarzen, langen Haare über eine weiße Bluse fallen, die die Schultern freilässt. Ein buntes Kopftuch hält die Mähne zurück.

Ich kann nur auf die geschlossenen Augen starren, die von langen schwarzen Wimpern umrahmt sind und versuche mich zu beruhigen und an nichts zu denken.

Es dauert, bis sie raunt: „Dein Leben erfährt im Moment viele Höhen und Tiefen. Du hast einige Erfolge zu verzeichnen, aber auch schlimme Niederlagen. Das, was du dir als deine Zukunft erhofft hast, erwies sich als Sackgasse. Dafür trat etwas anderes in dein Leben und gibt dir eine neue Perspektive. Und es gibt dir auch Kraft.“

Einen Moment scheint sie sich erneut konzentrieren zu müssen und ich sehe, wie sich ihre Stirn runzelt, bevor sie fortfährt: „Du bist nicht mehr allein. Ich sehe, es gibt eine Frau an deiner Seite. Ihr Schicksal und deins sind untrennbar durch die gleichen Schrecken in der Vergangenheit, starken Gefühlen und einer gegenseitigen Abhängigkeit verbunden. Was ich sehe ist aber nicht nur gut. Diese Frau birgt ein dunkles Geheimnis, das ich nicht erkennen kann. Etwas zieht sie von dir weg. Es wird schwer sein, sie an dich zu binden, obwohl du sie brauchst. Aber sie entscheidet letztendlich, was mit euch geschieht.“

Die Worte der Hellseherin nehmen mir den Atem. Wo sie anfangs noch ertragbar klangen, bin ich nun erschrocken und verunsichert. Das, was sie über Carolin sagt, beunruhigt mich.

„Aber werden wir zusammenbleiben können, wenn sie es zulässt?“, frage ich atemlos.

Es dauert, bis Madame Moinette antwortet: „Da ist etwas, das sie zwingen will sich gegen dich zu stellen. Aber wenn sie dem widersteht, wirst du ihre Liebe behalten. Ihr werdet auch glücklich werden können, aber …“ Ihre geschlossenen Augenlider flackern. „Erik, in deinem Leben sehe ich keine Kinder.“

Ich bin etwas verwirrt. Was interessiert mich, ob ich Kinder haben werde?

Ihre Hand löst sich aus meiner und ich will nach ihr greifen. Das alles ist viel zu verwirrend. Ich brauche genaueres. Aber sie setzt sich zurück und sieht mich nur an.

„Mehr kann ich dir im Moment nicht sagen. Da ist etwas, das dein Schicksal seltsam verschleiert und ich weiß nicht genau, warum sich das mit deiner Kinderlosigkeit so in den Vordergrund drängt. Möchtest du Kinder haben? Unbedingt?“

„Nein!“, antworte ich wie aus der Pistole geschossen. „Ich habe mir darüber auch noch nie Gedanken gemacht.“

Madame Moinette steht auf und ihre Gehilfin tritt ein, um mich hinauszubegleiten.

Ich bin noch gar nicht bereit zu gehen. Aber ich weiß, mehr wird sie mir nicht sagen. Dennoch wende ich mich noch einmal um: „Bitte, Frau Moinette, kann ich Ihnen eben jemanden schicken, in deren Zukunft Sie bitte auch sehen? Es ist mir wichtig.“

Sie nickt nur, überhaupt nicht überrascht und winkt ihrer Gehilfin zu, die mich hinausbegleitet. Ich zahle ihr zwei Sitzungen und raune: „Ich schicke sie sofort herein. Bitte warten Sie!“

Ihr Lächeln sagt mir, dass sie natürlich nichts anderes tun wird und ich komme mir blöd vor.

Vor dem Zelt sehen mich Ellen, Carolin und Daniel fragend an.

„Nah, biste jetzt schlauer?“, fragt Ellen ironisch.

Statt auf ihre Frage zu antworten, sage ich zu Carolin: „Und nun du. Sie wartet! Wenn du nicht allein gehen willst, kann ich mitkommen … oder Ellen.“

„Was ist mit mir?“, brummt Daniel gespielt aufgebracht. „Vielleicht möchte sie lieber mich mitnehmen?“

Carolin wird blass und sieht mich ungläubig an. „Bitte, ich möchte wirklich nicht.“

„Aber ich habe bezahlt und sie wartet“, brumme ich und will sie unbedingt in dieses Zelt kriegen. „Komm, die ist wirklich gut!“, versichere ich ihr.

„Bitte Erik …“, versucht Carolin dem Unvermeidlichen zu entgehen.

„Abgelehnt“, raune ich und lasse keine Widerrede zu.

„Ellen!“, ruft sie entsetzt und hält ihr mit flehendem Blick die Hand hin.

„Ich darf mit?“, kreischt Ellen aufgeregt.

„Alleine gehe ich da bestimmt nicht rein“, mault Carolin aufgebracht, weil ich sie zu so etwas zwinge. Aber ich sehe das als Notwendigkeit an. Für mich und für sie.

Ellen greift energisch ihre Hand und geht sogar vor.

Ich sehe den beiden hinterher und ziehe nervös eine Zigarette aus meiner Zigarettenschachtel.

Daniel sieht mich mit einem seltsamen Blick an und murmelt: „Und, gut oder schlecht?“

Ich kann nur die Schultern hochziehen und äußere mich nicht weiter. Daniels Blick wandert besorgt zu dem Zelteingang, hinter dem Ellen und Carolin verschwunden sind. Dann sieht er mich wieder an. Er tritt dicht an mich heran und raunt leise und mit ernstem Gesicht: „Ich glaube, es ist Ansichtssache, ob man solchen Hellsehern glaubt oder nicht. Wenn sie nichts Gutes zu sagen hatte, dann hoffe ich, dass du dich davon nicht runterziehen lässt.“

 

Ich weiß nicht, was ich ihm antworten soll. Aber ich ahne, dass er einfach nicht möchte, dass es in meinem Leben nicht gut läuft, denn er ist untrennbar damit verbunden. Schon durch Ellen. Und in der Vergangenheit waren ich und meine Schwester nicht leicht für ihn zu ertragen gewesen. Das ist mir mittlerweile, ohne das großkotzige Gefühl durch die Drogen, die alles verwischen, klar. Ich war oft genug ein unausstehliches Arschloch, auch ihm gegenüber.

Endlich kommt nach zwei Zigarettenlängen Ellen aus dem Zelt. Sie ist verwirrt und verunsichert und sieht zum Zelteingang zurück.

Auch ich werde nervös. Wo ist Carolin?

„Die Tussi hat mich einfach rausgeholt. Mittendrin. Frag mich nicht, warum. Ich würde die Aura stören“, brummt Ellen aufgebracht.

Ich will zum Zelteingang stürzen, als Ellen ihre Hand um meinen Oberarm legt und mich aufhält. „Wir sollen dieser Moinette einige Minuten geben, hat die Tussi gesagt.“

Ich bleibe stehen und gebe in Gedanken der ganzen Sache fünf Minuten, dann nehme ich den Laden auseinander.

Aufgebracht greife ich nach meinen Zigaretten und nehme mit fahriger Bewegung eine dritte. „Eine Zigarettenlänge“, brumme ich und zünde sie an. Viel zu schnell rauche ich sie auf und will erneut losstürmen, als Carolin aus dem Zelt tritt, blass und nach Luft schnappend.

„Puh, was hat sie noch von dir gewollt? Mich hat die eine Tussi schon rausgeholt“, erklärt Ellen ihr, weil Carolin verwirrt ist, dass sie draußen wartet.

Carolin schüttelt unwillig den Kopf und kommt direkt auf mich zu. Ohne ein Wort schiebt sie sich in meinen Arm und ich lege meine Arme um sie.

Verdammt, was ist da drinnen passiert?

Ich hauche ihr einen unsicheren Kuss auf die Stirn und frage mit belegter Stimme: „Alles in Ordnung?“

„Ja, alles okay“, raunt sie nur.

Ellen meint: „Gruselig. Und was für ein blödsinniger Kauderwelsch. Ich habe nichts von dem verstanden, was die gebrabbelt hat … außer das mit den Kindern. Naja, Kinder kriegt jeder“, murrt sie.

Carolin sieht mich an und ich sie. In mir zieht sich alles zusammen. Was ist mit Kindern? Hat Madame Moinette ihr gesagt, dass sie welche bekommt?

In mir spannt sich alles wie eine Gitarrenseite und ich habe das Gefühl, etwas könnte jeden Moment in mir zerreißen.

Ich schlucke und versuche in Carolins Blick eine Antwort darauf zu finden. Aber ich werde warten müssen, bis ich sie fragen kann. Und ob sie mir eine Antwort geben wird ist fraglich.

Es ist schwer, wieder in die Atmosphäre des Jahrmarktes einzutauchen. Ich möchte Carolin wegbringen und mit ihr über alles reden. Aber ich weiß auch, dass es ihre Entscheidung ist, ob sie mir sagen wird was die Hellseherin ihr gesagt hat. Genauso wie es ihre Entscheidung ist, ob wir zusammenbleiben. Das hat Madame Moinette zumindest zu mir gesagt.

Wir kehren dem Zelt den Rücken zu und stürzen uns wieder in die Kirmeswelt. Ich drücke Carolins Hand und sie sieht mich an. Sie wirkt genauso bedrückt und verwirrt, wie ich mich fühle. Vielleicht hätte ich sie nicht zwingen sollen zu Madame Moinette zu gehen?

Von hinten bekommt Carolin einen Schubs und ich kann sie gerade noch davor bewahren, nach vorne zu stürzen. Es ist das Trampel Susanne, die Lesbe, die sie von hinten in einem Anfall von Freude anfiel. Ich muss mich zurückhalten, um sie nicht zusammenzufalten. Aber auch Carolins andere Freundinnen sind da und freuen sich darüber, uns gefunden zu haben.

Ich freue mich gar nicht. Und noch weniger, als ich Julian und Michaela einige Meter von uns entfernt stehen sehe.

Julians Blick ist starr auf Carolin gerichtet, als wolle er sie hypnotisieren.

Michaela sieht mich an und ich frage mich, was sie bereit ist zu tun, um meine Aktion von damals zu rächen? Sie kann mich nur hassen.

Carolin schluckt verdattert, als ihr Blick auf ihren Bruder fällt.

Ich drücke beruhigend ihre Hand. Er wird nicht an sie herankommen, solange ich es verhindern kann.

Daniel und Ellen schieben sich neben sie und ich weiß, die beiden wollen sie auch beschützen.

Sabine fällt Carolin als nächstes um den Hals. Sie hat einen Typ an der Hand, der Carolin offensichtlich nicht unbekannt ist.

Ich registriere drei oder vier weitere Leute, die ich nicht kenne und nehme sie sofort in Augenschein, um ihr Gefahrenpotenzial einzustufen. Die beiden Männer registrieren meinen Blick, scheinen aber nicht weiter an uns interessiert zu sein. Das Mädchen gehört scheinbar mit zu Carolins Clique.

„Dass wir euch hier gefunden haben. Echt Hammer!“, ruft Sabine aufgedreht Carolin zu.

Es ist klar, dass alle davon ausgehen, dass wir mit ihnen mitgehen und es scheint keinen Ausweg zu geben. Ellen ist sogar richtig froh, auf die Bande gestoßen zu sein.

So ziehen wir gemeinsam weiter. Ich bleibe mit Carolin weit vorne in der Gruppe und sehe, dass Julian und Michaela am Ende bleiben. Das ist sein Glück.

Vor der Geisterbahn beschließen einige hineinzugehen. Scheinbar will Carolin einen Ausbruchversuch wagen und geht stur weiter, mich mitziehend. Aber Andrea und Sabine tauchen hinter uns auf und halten sie zurück. „Wartet, wir wollen da rein!“, ruft Sabine mit leuchtenden Augen.

Es werden Karten gekauft und Ellen kommt grinsend zu uns und wedelt mit ihren vor meiner Nase herum, um uns zum Mitfahren zu bewegen.

Ich sehe zu den Gondeln, in die immer vier Personen passen. Aber das ist mir wirklich zu albern.

Carolin schüttelt energisch den Kopf und knurrt: „Ne, ich will da nicht rein.“

Ellen versucht sie zu überreden und dann noch mal, ob sie mich erweichen kann. Aber letztendlich fahren Julian und Michaela mit ihnen mit.

Carolin schiebt sich in meinen Arm und ich halte sie umschlungen. Ihre Nähe tut gut und nimmt etwas den Schrecken, der immer noch durch meine Adern kriecht, ausgelöst von meinem Besuch bei der Hellseherin … und von Julians Anwesenheit.

Lachend und johlend tauchen die ersten in ihrer Gondel wieder aus dem Bauch der Geisterbahn auf und steigen aus.

„Mann, war das irre!“, ruft Sabine schon von weitem. Daniel und Julian kommen als nächstes. Julians Blick wandert sofort suchend zu Carolin, die sich noch dichter an mich heranschiebt.

Ich verstehe nicht, was das zwischen den beiden ist. Warum legt Julian es so darauf an wieder an Carolin heranzukommen?

Zum ersten Mal schiebt sich mir ein ungehöriger Gedanke in den Kopf. Er ist schließlich nur ihr Halbbruder …

Unverkennbar ist Daniel mit Julian ganz gut klargekommen. Ich kann nur darauf hoffen, dass Daniel herausfindet, wie Julian so tickt und was er vorhat. Ich verdränge den Gedanken, dass Julian andere Gefühle für Carolin hegt als rein geschwisterliche.

Die ganze Gruppe zieht weiter, nun von Ellen und Michaela angeführt, die Daniel und Julian mitziehen. Angesichts dieses Trends lassen Carolin und ich uns nach ganz hinten fallen.

Der Break Dance wird als nächstes angesteuert und auch mir juckt es in den Nervenbahnen. Ich liebe den Kick der schnellen Karussells und würde gerne auch einmal fahren.

„Wollen wir auch?“, frage ich Carolin mit wachsender Vorfreude.

„Tut mir leid, ich kann mit so etwas nicht fahren“, antwortet sie verlegen. „Ich habe noch nie ein Karussell überstanden, ohne dass ich hinterher kaum noch stehen konnte und mein Magen Harakiri begehen wollte.“

„Schade“, sage ich und bin doch etwas enttäuscht.

„Bitte, geh mit den anderen mit. Ich rühre mich auch nicht von der Stelle“, fleht sie mich an.

Ich sehe Julian hinterher, der zur Kasse geht und Karten kauft und schüttele energisch den Kopf.

„Bitte Erik, ich möchte, dass du mitgehst. Sonst habe ich ein schrecklich schlechtes Gewissen“, jammert sie auf.

Daniel taucht neben uns auf. „Komm Alter, ich habe Karten. Los, die anderen setzen sich schon.“ Er zeigt auf Julian, der neben Michaela Platz nimmt und mir ist klar, er kann Carolin nichts tun, wenn er mitfährt.

Carolin schiebt mich energisch in Daniels Richtung und ich greife eine seiner Karten und folge ihm.