Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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Das Vermächtnis aus der Vergangenheit
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Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

Teil 3: Die Liebe

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Drogenkinder

Für immer und ewig?

Marcels Glücksengel

Eriks Panikraum

Verwirrende Gefühle

Die Marcel Verschwörung

Gefühlschaos

Ein verwegener Plan

Keine Wahl

Eriks Sumpf

Bekenntnisse

Impressum neobooks

Drogenkinder

Mein Handy reißt mich aus dem Schlaf. Verwirrt suche ich danach und finde es unter meinem Kopfkissen.

Mir wird klar, dass ich in meinem Bett liege und mich tatsächlich in den Schlaf geweint hatte.

Auf dem Display sehe ich Ellens Nummer, und ich raune kraftlos: „Hallo!“ in den kleinen Apparat.

Ellen ist meine neue Freundin aus der Schule, in die ich seit zwei Tagen gehe. Wir hatten sofort einen besonderen Draht zueinander und verbrachten sogar schon den vergangenen Abend zusammen in der lauten, wilden Partyscene der Osnabrücker Nachtwelt.

Ohne eine Begrüßung höre ich Ellen fröhlich das Gedicht ins Telefon trällern, das wir als Fleißaufgabe von unserer neuen Klassenlehrerin aufgebrummt bekommen haben. Das Gedicht am Montag vortragen zu können, ist die Voraussetzung dafür, dass wir weiterhin Schüler in ihrer Klasse bleiben dürfen.

Als Ellen geendet hat, bittet sie mich um meinen Einsatz. Ich sehe sie vor mir, wie sie ihr Handy in das lockige Gewusel ihrer blonden Haare drückt und ihre braunen Augen zusammenkneift, als ich nicht sofort antworte.

Völlig durcheinander versuche ich erst mal meine Gedanken zu ordnen.

Stotternd und überfordert beginne ich die Strophen aus meinem Gedächtnis zu ziehen, das scheinbar aber beschlossen hat, die Arbeit zu verweigern.

„Wow, vielleicht noch an den Einzelheiten pfeilen und du schaffst das morgen schon irgendwie“, meint Ellen gnädig und will mir damit wohl Mut machen.

„Hoffentlich!“, jammere ich mit weinerlicher Stimme.

„Hey, alles in Ordnung? Du klingst nicht gut“, höre ich sie sofort besorgt fragen.

Ich überlege, was ich ihr sagen soll. Marcel hat mich verlassen und ich Tim, und meine früher mal beste Freundin hasst mich bis zum Sankt Nimmerleinstag. Das ist das bittere Resümee dieses Sonntags.

In mir fühlt sich alles trostlos und traurig an. So beginne ich ihr von Marcel zu erzählen, und dass er jetzt über Tim und mich Bescheid weiß und er mich deshalb zum Mond geschossen hat. Außerdem, dass meine bislang beste Freundin nicht mehr meine Freundin ist, weil Tim sie wegen mir stehen ließ und ich Tim gesagt habe, dass ich nicht mit ihm zusammen sein kann.

„Ellen, alle sind weg. Und das innerhalb von einem Tag. So was kann auch nur ich schaffen“, schluchze ich.

„Ach, die sind doch nicht weg. Weg heißt tot, und das sind die nicht. Du kannst sie alle noch wiedersehen und mit ihnen sprechen, wenn du willst. Glaub mir, weg ist etwas anderes.“ Sie klingt bedrückt und mir ist klar, sie erinnert sich an ihren Alex, der sich mit einer Überdosis in den Himmel beförderte.

Verdammt, das wollte ich nicht! Ellen sollte nicht durch mich an ihren eigenen Kummer erinnert werden.

„Du hast recht. Sie sind nicht weg. Ich habe nur ihre Freundschaft und Liebe verloren. Alles nicht ganz so schlimm“, versuche ich sofort einzulenken und Ellen zu beruhigen. Es tut mir leid, sie mit meinem unbedachten Ausruf an Alex und seinen Tod erinnert zu haben.

„Schon gut. Ich bin ziemlich drüber weg“, sagt sie und ich würde sie am liebsten in den Arm nehmen.

„Gut, dass morgen wieder Alltag ist. Rocken wir morgen die Schule?“, versuche ich mit gespielter guter Laune unsere Stimmung zu heben.

„Klar! Also noch mal von vorne: Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland …“

Ellen ist unerbittlich.

Ich sage es noch mal auf und dann gibt sie es ein weiteres Mal zum Besten. Weil ich noch ziemlich schlecht bin, muss ich auch noch mal ran und bringe immer mehr durcheinander.

Ellen lacht und versucht es mit einer Engelsgeduld so lange, bis auch ich ziemlich textfest bin. Mit ihr zusammen geht es mir wieder besser und ich freue mich auf den Start der neuen Woche. Ellen ist mein Halt und die neue Schule und Osnabrück mein neues Zuhause.

Die komplette Klasse findet sich am Montag wieder im Klassenzimmer ein und unsere Lehrerin ist zufrieden. Sie hatte uns, angesichts der Tatsache, dass es ihr letztes Jahr vor der Rente ist, vor die Wahl gestellt, nicht mehr zu erscheinen oder lern- und wissbegierig zu bestmöglichen Schülern zu mutieren. Sie will aus uns die beste Klasse machen, die sie je befehligte und hat sofort schweres Geschütz aufgefahren, um da keinerlei Missverständnisse aufkommen zu lassen.

Als fünf das Gedicht mehr oder weniger gut vorgetragen haben, ist sie noch zufriedener und gibt für alle in der Cafeteria ein Eis aus. Scheinbar ist sie doch nicht so ein Drachen, wie wir erst befürchteten.

So vergeht die Woche mit viel lernen. Ich fahre jeden Tag mit dem letzten Bus nach Hause und begründe das vor meinen Eltern damit, dass ich mit Ellen zusammen lerne. Meine Mutter ist darüber wenig erfreut, duldet es aber ohne großes Murren.

Sie hatte mich am Montagabend noch nach Marcel gefragt, und was aus uns und unserem vielversprechenden Neubeginn geworden ist.

„Ach Mama, frag nicht. Es ist endgültig vorbei“, hatte ich nur antworten können und an meinem traurigen Blick und meinen aufsteigenden Tränen merkte sie, dass ich schwer damit kämpfe. Deshalb ist sie wohl froh, dass ich wenigstens in der neuen Schule glücklich bin und dort gute Freunde gefunden habe, die mich auf andere Gedanken bringen. Sie selbst sieht sich mit meinem Zustand schon wieder völlig überfordert.

Mein Handy bleibt die ganze Woche erschreckend leer und still. Tim schreibt mir kein einziges Mal und ruft mich auch nicht an. Von Marcel höre ich auch nichts, was mir allerdings klar war. Und von Christiane erwarte ich nichts mehr. Auch die anderen Mädels schreiben mir nicht mehr zurück. Scheinbar hat Christiane ihnen erklärt, dass man mich besser meidet. Also liegt mein altes Leben völlig brach.

Die letzte Scheunenfete des Jahres steht an und ich beschließe, nicht hinzugehen.

Stattdessen wollen Ellen und Susanne am Freitagabend mit mir durch Osnabrück ziehen und ich sage ihnen sofort zu.

Susanne kennt noch andere Clubs als Ellen und wir verbringen den Freitagabend mit Tanzen, Reden und Trinken. Mittlerweile habe ich mir sogar schon selbst Zigaretten gekauft, damit ich nicht immer bei den anderen schnorren muss. Dass ich das mal tun würde, hätte ich nie im Leben gedacht.

Aber Susanne ist den ganzen Abend nicht besonders gut gelaunt. Während Ellen und ich viel Spaß haben, geht ihre Laune immer mehr baden und da es ein langer Tag war, beschließen wir früh zu gehen.

Ellens Eltern sind erneut das ganze Wochenende unterwegs. Mittlerweile weiß ich, dass ihrem Vater einige Sportgeschäfte in Dortmund, Oldenburg, Bremen und Osnabrück gehören und sie immer irgendwo eingeladen sind oder einfach nur so für einige Tage verschwinden. Ellen weiß eigentlich nie, wo sie gerade sind.

Ich konnte meine Eltern überreden, das Wochenende bei Ellen bleiben zu dürfen. Auch sie scheinen immer mehr das kinderlose Leben zu genießen, zumal Julian und ich für sie nur noch stressmachende Problemkinder sind.

Auch in der vergangenen Woche besuchten sie Julian in der Klinik, in der er bis zu seiner Verhandlung sein Dasein fristet. Angeblich weiß er nicht, was er mir und Tim mit seinem Übergriff angetan hatte. So wie meine Mutter es auslegte, kann er sich nicht erinnern, was wirklich vorgefallen war. Aber ich bezweifle, dass er ihnen immer die Wahrheit sagt.

Es ist spät, als wir zu Ellen aufbrechen wollen. Susanne will nicht mehr mitgehen und so bringen wir sie zu ihrem Bus. Ich vermute langsam, dass sie es nicht gerne sieht, dass Ellen und ich sogar schon ganze Wochenenden zusammen verbringen. Sie zickte in der letzten Stunde, nachdem wir ihr das sagten, fast nur noch herum, als wäre sie eifersüchtig auf mich. So sind wir beide froh, dass wir sie los sind und beschließen, am nächsten Tag die Stadt ohne sie unsicher zu machen.

Als wir bei Ellen zu Hause ankommen und durch die Seitentür ins Haus gehen wollen, bleibt Ellen beunruhigt stehen. Innen ist scheinbar der Teufel los und sie wirft mir einen schnellen, beunruhigten Blick zu. Als wir die Tür aufschließen, brüllt uns laute Musik entgegen.

Ellens Bruder Erik kommt aus dem oberen Stockwerk die Treppe hinunter, gefolgt von einem Mädel mit schwarzen Zöpfen, bunter Bluse, schwarzem Rock mit Tüllunterrock, kaputten Netzstrümpfen und Springerstiefeln. Sie ist so dick geschminkt, dass man von ihrem Gesicht kaum was sehen kann.

 

Erik schiebt sie an uns vorbei und gibt ihr einen Klaps auf den Hintern, der ihr unmissverständlich klarmacht, dass sie weitergehen soll. Wohin auch immer.

Ellen schließt wutschnaubend die Tür hinter uns und Erik baut sich direkt vor mir auf und sieht mich an, als hätte er mich noch nie gesehen.

Er ist fast einen Kopf größer als ich und seine blonden Haare sind heute nicht zurückgekämmt und mit Gel gebändigt. Er hat Locken wie Ellen, die ihm ins Gesicht fallen und unter denen seine Augen seltsam aufblitzen. Mit seiner dunklen, rauchigen Stimme raunt er an mich gerichtet: „Nah, ihr zwei fehlt noch. Wir machen gerade Party. Kommt doch auch ein bisschen dazu.“

Seine fast netten Worte passen aber irgendwie nicht zu seinem Gesichtsausdruck. Der wirkt eher abweisend, als sein Blick zu Ellen gleitet.

Die ignoriert seine Worte und stürmt an uns vorbei die Treppe hoch. Dabei schnauft sie wütend wie ein Stier.

Ich bin etwas irritiert, weil sie so aufgebracht ist. Was regt sie so auf?

Ich folge ihr, um Eriks Aufmerksamkeit nicht weiter herauszufordern. Er soll sich besser um andere kümmern.

Ellen folgt unterdes der immer lauter werdenden Musik in Eriks Wohnbereich, dessen dunkle Tür heute weit offensteht.

Ich bleibe unschlüssig an der Treppe stehen und warte lieber darauf, dass sie wieder herauskommt. Aber die Musik ist gut und ich höre Stimmen aus Eriks Wohnung in den Flur dringen, die gute Laune verkünden.

Plötzlich spüre ich eine Bewegung hinter mir und sehe mich erschrocken um. Erik steht direkt hinter mir auf der Treppe und sieht mich immer noch so seltsam an. Sein schwarzes T-Shirt und seine verwaschene Jeans zeigen klar ersichtlich, dass er ziemlich durchtrainiert ist.

Heute fällt mir das besonders auf. Am letzten Wochenende, wo ich ihm schon begegnet war, hatte ich das weitgehendst zu übersehen versucht, noch völlig von Marcel und Tim ausgefüllt. Aber heute registriere ich das – was mir gar nicht gefällt. Schließlich soll mein Interesse an Männern für die nächste Ewigkeit ausgelöscht sein. Doch dass er uns nun folgte und sich hinter mir aufbaut, wie eine undurchdringliche Mauer, macht mich nervös. Warum lässt er mich nicht einfach in Ruhe? Schließlich wartet unten ein Mädel auf ihn, der er eben noch sein ganzes Interesse geschenkt hatte.

Ich spüre seine Hand auf meinem Rücken, die mich weiterdrängt. Um seiner Berührung zu entgehen, folge ich Ellen schnell, die irgendwohin in Eriks Wohnbereich verschwunden ist. Da ich in Eriks Teil des oberen Stockwerks noch nicht war, und nur Ellens kenne, kann ich meine Überraschung kaum verbergen, als ich durch einen kleinen Flur in ein separates Wohnzimmer gelange. Seine Wohnung muss viel größer als Ellens sein. Ellen hat ein Zimmer, das Wohn- und Schlafzimmer zugleich ist.

Einige junge Männer und drei Mädels sitzen oder stehen mit einer Bierflasche oder seltsam bunten Getränken in der Hand in dem großen Raum. Ein riesiger Fernseher zeigt Musikvideos. Unscheinbare Boxen mit einer unglaublichen Klangstärke, die an den Wänden angebaut sind, geben die Musik aus den Videos wieder. Ein Sofa und ein Sessel sind vor dem Fernseher gruppiert und auf dem kleinen Wohnzimmertisch stehen seltsame Gefäße und Flaschen, sowie Gläser mit einem bunten Getränk. Ein dicker, bunter Aschenbecher prangt zwischen all dem Kram. An der seitlichen Wand stehen ein großes Sideboard und ein bis zur Decke reichender Schrank.

„Mann Erik! Was stinkt das hier drinnen?“, faucht Ellen außer sich und ich sehe sie nur irritiert an. Warum ist sie so wütend? Ich rieche den süßen Geruch auch, kann aber nicht bestimmen von was das ist. Aber das Ellen sich deswegen aufregt, verstehe ich nicht.

„Komm Schwesterchen. Reg dich ab und trink etwas mit mir“, raunt Erik und sein Blick wandert erneut in mein Gesicht. „Ihr könnt bei dem Lärm eh nicht schlafen.“

Ich sehe Ellen an und lächele ihr zu. Mir will nicht in den Sinn kommen, warum sie hier den Moralapostel spielt. Sie ist sonst auch nicht so und kann schlecht die Party ihres großen Bruders crashen.

In einem Anfall von „Geschwister sollten nett zueinander sein“ sage ich: „Kurz können wir doch. Ein Getränk, okay?“, um die Stimmung zwischen den beiden etwas zu entschärfen.

Mir selbst geht es im Moment zu gut, und ich möchte, dass das so bleibt. Mein Befinden ist zumindest besser, als ich es je für möglich gehalten hätte. Solange ich beschäftigt bin, gehören meine Gedanken nur mir und nicht Marcel oder Tim. Und um sie auch nicht wieder zu ihnen gleiten zu lassen, ist mir etwas Trubel um mich herum nur recht.

Mich trifft Ellens ungläubiger Blick. Aber sie lässt sich von mir erweichen, scheint aber nicht gerade glücklich über meine Entscheidung zu sein.

Erik wirft seiner Schwester einen Handkuss zu. Doch sein Blick wirkt unergründlich und wenig freundlich. Fast erscheint mir seine Geste verächtlich, statt geschwisterlich zugetan. Er ist offensichtlich von Haus aus kein netter Typ. Aber das hatte Ellen mir in den letzten Tagen auch schon mehrfach zu verstehen gegeben.

Trotzdem werde ich bei den beiden fast schon ein wenig melancholisch. Immerhin haben sie ein normales Geschwisterverhältnis. Nicht wie ich und Julian.

Erik bringt uns tatsächlich ein Bier, das er mit einer theatralischen Bewegung vor uns öffnet. Dabei grinst er seine Schwester unverschämt an.

Ich bin etwas verwirrt. Hatte er nicht letztes Wochenende braune Augen wie Ellen? Seine Augen wirken heute seltsam dunkel und seine langen, dichten Augenwimpern tonnenschwer und geben seinem Blick etwas Verwegenes. Aber mir fällt trotzdem wieder auf, dass die beiden sich sehr ähneln. Erik hat das gleiche feingeschnittene, schmale Gesicht, aber eine gerade Nase, während Ellens etwas schief ist. Außerdem hat er breite, interessant geschwungenen Augenbrauen, die dunkler sind als seine blonden Locken, die ihm heute wild ins Gesicht fallen.

Ellen nickt nur, als wäre ihr das Flaschenöffnen auf diese Weise wichtig. Warum auch immer. Hier kann es schließlich nicht darum gehen, dass sie untergeschobene Drogen oder KO-Tropfen befürchtet.

Wir werfen uns zusammen in den freien Sessel und sehen uns dicht aneinandergedrängt die Videos an.

„Prost!“, raune ich ihr zu.

„Prost!“, antwortet sie und wir lassen die Flaschen aneinander klirren. Sie scheint ihre Wut langsam wieder herunterzufahren.

Interessiert schaue ich mich in dem Raum um und sehe Erik am Schrank lehnen und uns beobachten. Schnell sehe ich weg. Er ist mir heute irgendwie unheimlich.

Noch ein neuer Pulk junger Leute trifft ein und der Raum füllt sich noch mehr. Ellen winkt Daniel zu, der ihr einen Handkuss zuwirft. Er ist der Fahrer des BMWs, der uns letzten Samstag nach Hause brachte.

Ich bin von seiner Geste überrascht und seine blauen Augen ruhen ausschließlich auf Ellen, als wäre sie sein Universum. Dabei streicht er sich durch sein kurzes, dunkles Haar.

„Hu, was war das denn?“, frage ich neugierig und spreche auf den Handkuss an.

Ellen grinst. „Du meinst wegen Daniel? Der ist voll süß und wir waren Mittwoch noch zusammen im Kino“, flüstert sie und ich knuffe ihr in die Seite. „Soso!“

Sie hatte mir nichts davon erzählt, aber ich erinnere mich, dass sie es am Mittwochabend sehr eilig hatte.

Zwei Videos später, und nach dem leeren des Biers, wird Ellen unruhig.

„Ich gehe mal eben aufs Klo. Kann ich dich hier einen Moment allein lassen?“, fragt sie.

Ich nicke.

Sie schiebt sich aus dem Sessel und geht.

Ich bin froh, etwas mehr Platz zu haben und mache es mir bequem, mich auf die Videos konzentrierend. Aber ich bemerke trotzdem, dass Daniel den Raum direkt hinter Ellen verlässt. Sind die beiden irgendwie verabredet?

„Wo ist Ellen hin?“, fragt Erik plötzlich neben mir.

Ich bin verwirrt. Sie ist doch gerade erst aus dem Raum verschwunden und schon fragt er nach ihr.

„Toilette“, brumme ich und sehe mir weiter das nächste Video an. Dabei versuche ich ihn zu ignorieren.

„Magst du?“ Erik setzt sich auf die Sessellehne und reicht mir eins der bunten Getränke.

Ich sehe aus dem Augenwinkel den Riss in seiner Jeanshose, der über seinen Oberschenkel verläuft und darunter kräftige Muskelpartien erahnen lässt. Kann er sich keine heilen Jeans leisten?

„Was ist das?“ Ich sehe auf das Glas und habe das Gefühl, bei ihm vorsichtig sein zu müssen.

Ich höre ihn leise lachen, sehe ihn aber nicht an, als er antwortet: „Muntermacher. Schmeckt gut. Probiere mal!“

Ich nehme das Glas entgegen und probiere das etwas dickflüssige Getränk. Es ist teuflisch süß.

„Danke!“ Ich hoffe, er geht jetzt wieder. Aber stattdessen nimmt er sich eine Zigarette aus seiner Schachtel und bietet mir auch eine an. Ich nehme sie, ohne ihn anzusehen und er gibt mir Feuer. Langsam wird mir klar, dass ich nach Marcel und Tim überhaupt nicht scharf darauf bin mit einem Mann irgendwelche Konversation zu betreiben. Aber Erik geht nicht. Er stößt sein Glas an meins und raunt: „Prost!“

Ich nicke nur und nehme noch einen Schluck. Dabei lasse ich meinen Blick durch den Raum zur Tür wandern. Wo bleibt Ellen nur?

„Wo kommst du eigentlich her? Ich habe dich noch nie vorher hier irgendwo gesehen“, fragt er und schaut auf mich herunter. Ich spüre seinen Blick wie ein Brenneisen auf mir. Unangenehm.

„Ich komme auch nicht aus Osnabrück. Ich wohne außerhalb“, gebe ich eine vage Angabe und sehe an ihm vorbei.

Sein Blick fixiert mich immer noch und eine Locke fällt in sein Gesicht. Ich sehe das aus dem Augenwinkel und wage nicht, ihn direkt anzusehen.

„So, von außerhalb! Und gibt es da außerhalb so etwas wie einen Freund?“, fragt er und betont unwirsch das Wort „außerhalb“.

„Nicht mehr“, antworte ich ehrlich und wünsche mich in diesem Moment an Marcels Seite, wo ich doch immer behütet unterkriechen konnte. Die Anwesenheit und der Blick von diesem aufdringlichen Typ beunruhigen mich allmählich immer mehr.

„Gut!“, raunt er und lässt sich, bevor ich Einwände erheben kann, zu mir in den Sessel rutschen.

Ich will aufstehen und ihm den Platz überlassen, aber er legt den Arm um mich und hält mich fest. „Wo willst du hin?“, fragt er, als könne er sich gar nicht vorstellen, warum ich jetzt aufstehen will.

„Ich muss mal gucken, wo Ellen steckt“, brumme ich und fühle mich schrecklich unbehaglich.

In dem Moment kommt sie auf uns zugestürmt und reißt ihren Bruder aus dem Sessel. „Das ist mein Platz! Verschwinde!“, faucht sie ihn böse an. Sie nimmt mein Glas und riecht daran und dann an meiner Zigarette.

Das ist mir dann doch etwas peinlich. Er ist doch ihr Bruder!

„Mann Ellen, was soll das?“, schnauzt Erik sie auch schon aufgebracht an und schiebt seine Locken hinter das Ohr. Eine kürzere Strähne fällt ihm in einem welligen Kringel wieder ins Gesicht.

„Sie hat verdammt schlechte Erfahrungen mit Brüdern gemacht … wie ich auch“, faucht sie und funkelt ihn wütend an.

Eriks Blick wird noch eine Nuance dunkler, aber er dreht sich auf der Stelle um und geht.

Mich angrinsend, fragt Ellen: „Alles klar?“

Kleinlaut flüstere ich: „Ja schon. Warst lange weg.“

Ellen lächelt jemandem zu und ich sehe Daniel an der Tür stehen und ein Bier in der Hand halten. Das ist wohl die Erklärung.

Wir bleiben nicht mehr lange und schließen alle Türen bis in Ellens Reich, die wir schließen können. So ist der Lärm weitgehend ausgesperrt.

Als wir endlich in der Waagerechten liegen, frage ich Ellen: „Was meintest du damit, dass du auch schlechte Erfahrung mit deinem Bruder gemacht hast? Was hat er denn getan?“

„Der ist nicht so schlimm wie dein Bruder, aber es reicht“, brummt sie nur und äußert sich nicht weiter. Ich frage lieber auch nicht weiter nach.

Wir schlafen am nächsten Tag bis mittags, bummeln durch die Stadt und machen nachmittags noch die Hausarbeiten für Montag fertig. Eigentlich wollen wir noch am Abend los, aber Ellen hat keine richtige Lust und wir beschließen, uns bei ihr einen Videofilm anzuschauen. Auch ihre Fernsehanlage ist mit allem Drum und Dran. Die Eltern müssen wirklich reich sein.

Aber es ist Samstag, und mir drängt sich immer wieder auf, dass mein altes Leben heute die letzte Scheunenfete des Jahres feiert.

 

Es ist ein komisches Gefühl, nicht dabei zu sein. Aber dieses Leben ist vorbei und mit seltsam bleischwerem Herzen versuche ich mich auf den Film zu konzentrieren.

Irgendwann klopft es an Ellens Zimmertür und Erik schaut herein. „Ellen, Daniel ist da. Kannst du eben kommen? Irgendwas ist los.“ Er klingt herablassend und arrogant, als könne er sich nicht vorstellen, dass Daniel etwas Wichtiges von Ellen will.

Ich weiß mittlerweile, dass Daniel Eriks bester Freund ist und die beiden ständig zusammenhängen. Ellen sagte mir gestern noch, dass dieser Umstand der einzige dunkle Aspekt an Daniel und seinem Wesen ist. Ansonsten scheint sie ihn wirklich zu mögen.

Ich kann ihn noch nicht einschätzen und glaube, dass er mich nicht gerne an Ellens Seite sieht. Aber ich weiß nicht, warum das so ist.

Ellen springt sofort auf und bittet mich in ihrem Zimmer auf sie zu warten. Dann geht sie und ich schaue beunruhigt den Film weiter. Was kann nur passiert sein?

Es dauert und dauert. Irgendwann klopft es wieder an der Tür und Erik steht erneut im Türrahmen. „Carolin, Ellen musste weg. Magst du zu uns kommen? Wir sind in der Küche und backen Plätzchen.“ Diesmal klingt er freundlicher.

Im Sommer Plätzchen backen?

„Ne, lass mal. Ich schau mir noch den Film an“, winke ich verunsichert ab.

Er kommt ins Zimmer und ich starre ihn erschrocken an.

„Gut, dann schaue ich mit“, sagt er, als wäre es das normalste der Welt.

Das ist doch wohl ein Scherz!

Er steuert direkt das Bett an und ich kann es nicht fassen. Ich will mit ihm auf gar keinen Fall fernsehen und schon gar nicht, wenn wir zusammen dabei auf Ellens Bett liegen müssen. Die bringt mich um … oder ihn, wenn sie das sieht.

„Okay, ich komme ja!“, zische ich und springe regelrecht von der Matratze.

Erik schmunzelt und nickt süffisant. War das seine Absicht?

Er wartet in Seelenruhe ab, bis ich meine Schuhe übergestreift habe und an ihm vorbei durch die Tür schlüpfe.

Ich muss mir dabei eingestehen, dass ich schon etwas neugierig bin, wer da was für Plätzchen backt.

Tatsächlich riecht es nach Keksen, als wir die Treppe hinunter in den unteren Wohnbereich gehen und die Küche ansteuern. Es herrscht schon am Eingang reges Treiben, laute Musik und Gelächter. Als wir in den Raum treten, sehen alle auf.

„Das ist Carolin!“, stellt Erik mich vor, was aber scheinbar niemanden wirklich interessiert. Er schien das auch nur anstandshalber gesagt zu haben.

Seine Hand in meinem Rücken drängt mich zu einer großen Esstheke weiter und er schiebt mir einen Hocker zurecht.

Ich setze mich verunsichert und er sagt freundlich: „Ich hole dir etwas zu trinken. Möchtest du etwas Bestimmtes?“

„Weiß nicht. Vielleicht ein Bier?“, frage ich verunsichert.

Diese fremden, jungen Leute, die mich mit Desinteresse strafen oder mich sogar herablassend mustern, geben mir das Gefühl, nicht dazuzugehören.

Erik nickt und verlässt die Küche, was mich etwas irritiert. Ein Mädel steht vor dem offenen Kühlschrank und nimmt ein Bier heraus. An der Tür ist ein integrierter Flaschenöffner, an dem sie gekonnt die Flasche öffnet und damit zu der Gruppe an der Tür Stehender geht, durch die Erik gerade verschwunden ist.

Mich völlig fehl am Platz fühlend, will ich lieber wieder in Ellens Zimmer gehen, als ein Typ mit einem langen Pferdeschwanz mir einen Teller vor die Nase stellt.

„Die sind sau gut!“, rühmt er die runden Kekse, die nicht besonders appetitlich aussehen. „Willste?“

Ich bin über seine fast schon netten Worte irritiert, die er an mich richtet.

Natürlich nehme ich einen seiner Kekse, wenn er sie mir schon so nett anbietet. Und er schmeckt - wenn man mal von dem seltsamen Nebengeschmack etwas absieht. Aber ich habe Hunger und esse auch noch einen zweiten. Auch der Langhaarige bedient sich und auch andere, die an mir vorbeikommen, greifen beherzt zu.

Erik taucht wieder auf und lacht, als er mich an einem Keks knabbern sieht. „Braves Mädchen.“ Seine Augen blitzen dabei auf und ich sehe, dass sie heute brauner sind als gestern. Auch sein Blick wirkt klarer. Aber ich weiß nicht, was er meint. Wohl, weil ich hier noch brav sitze.

Er stellt mir eine Cola hin. „Alkohol gibt es für dich erst mal besser nicht“, sagt er und um seine Mundwinkel spielt ein verschmitztes Lächeln.

Ich verstehe nicht, was der Ausspruch soll. Aber vielleicht hat Ellen ihm verboten, mir Alkohol zu geben, wenn sie nicht da ist.

Er nimmt sich auch einen Keks und schiebt mir noch mal den Teller hin.

Ich nehme auch noch einen und er grinst mich an. Das ist schon alles komisch.

Als ich fertig gegessen habe, zieht er mich vom Hocker.

Beunruhigt sehe ich mich um, weil ich nicht weiß, was er vorhat.

Er beugt sich zu mir vor und raunt: „Komm, wir gehen nach oben.“

Ich starre ihn verunsichert an. Was hat er nur mit mir. Er soll sich doch um seine Freunde kümmern und nicht um mich. Außerdem will ich nicht mit ihm irgendwohin gehen.

Er dreht sich mit mürrischem Blick zu mir um, als ich ihm nicht folge, als könne er es nicht fassen. Seine Hand schnellt vor und greift nach meinem Handgelenk, bevor ich es verhindern kann. Sowieso bin ich heute irgendwie nicht besonders auf Zack. Meine Reaktion lässt wirklich zu wünschen übrig und mein Kopf füllt sich mit einem zähflüssigen Nebel. Wahrscheinlich liegt das an der abgestandenen Luft.

Er zieht mich erbarmungslos hinter sich her … hoch in sein Wohnzimmer.

Ich will protestieren, weiß aber, dass ich hier und ohne Ellen keine Chance gegen ihn habe. Er füllt groß und stark den kompletten Raum vor mir. Zumindest kommt es mir so vor und mein Herz beginnt ängstlich gegen meine Brust zu hämmern.

Nur, weil überall junge Leute herumstehen und trinken, rauchen oder sich unterhalten, versuche ich mich zu beruhigen, weil mir eigentlich nichts passieren kann. Trotzdem ist mir klar, dass ich die nächste Gelegenheit nutzen muss, um mich wieder in Ellens Zimmer abzusetzen.

„Komm, ich möchte tanzen“, höre ich Erik sagen.

„Oh ne! Nicht tanzen!“, erwidere ich erschrocken, was aber offensichtlich von der lauten Musik verschluckt wird, weil Erik nicht darauf reagiert. Er zieht mich einfach in seine Arme.

Erik ist ein guter Tänzer, was ich schon am letzten Samstag auf unerfreuliche Weise feststellen musste. Trotz seiner bulligen Gestalt war er sehr vorsichtig mit mir umgegangen, als wäre ich aus Porzellan und hatte mich kaum berührt. Da war sogar Tim, der körperlich fast nur die Hälfte von Erik ist, wesentlich ruppiger mit mir umgegangen.

Aber ich hatte Schwierigkeiten, die Nähe eines männlichen Wesens zu ertragen – und habe es noch. Zu sehr hatte ich in den letzten zwei Wochen unter ihnen gelitten. Und Marcel fehlt mir schrecklich. Das wird mir in diesem Augenblick auf beängstigende Weise klar und dieses Gefühl gewinnt erschreckend an Intensität.

Erik zieht mich etwas mehr an sich, sich wohl daran erinnernd, wie ich beim letzten Mal vor ihm geflohen war. Da hatte er nicht damit gerechnet, dass ich mich aus seinem Griff winden werde. Diesmal scheint er schlauer zu sein – oder ehrgeiziger.

Ich sehe immer wieder zur Tür, ob Ellen nicht bald aufkreuzt, um mich zu retten. Dabei geht es nicht nur um ihren Bruder, der mich im Arm hält, sondern auch um die aufkeimenden Gedanken an Marcel, die meinen Kopf matern. Ob er heute bei der Scheunenfete ist und dort seinen Spaß hat? Zumindest lässt mich der Gedanke daran und an das, was auf der letzten Scheunenfete passiert war, erschauern.

Mittlerweile bereue ich, dass ich ihm das mit Tim gesagt habe. Ich hatte meine letzte Chance auf ein bisschen Glück damit zerstört.

Ich schlucke und spüre die Traurigkeit darüber in mir hochkriechen.

„Alles klar?“, fragt Erik und sieht mir in die Augen, sich etwas zu mir herunterbeugend.

„Ja sicher!“, seufze ich und verdränge den Gedanken an Marcel. Sogar Tim fehlt mir in diesem Moment. Ich möchte nicht hier sein und in den Armen dieses blondgelockten Bären liegen … und ich will nicht mehr tanzen. Mich haben meine Erinnerungen plötzlich so fest im Griff, dass ich heulen könnte.

„Können wir bitte aufhören?“, frage ich und klinge jämmerlich.

„Wenn du mich so lieb bittest.“ Erik sieht grinsend über mich hinweg. In dem Moment erhasche ich einen Blick auf Daniel, der an der Tür steht und zu uns herüberstarrt.

Ich sehe mich nach Ellen um.

Erik nickt Daniel zu und der nickt zurück. Daniels Blick wirkt mürrisch und mir fällt wieder ein, dass er mich eigentlich nicht mag.

Wo Ellen wohl ist? Ich sehe sie nirgends.

Erik lässt mich los und ich eile an Daniel vorbei rüber in ihre Wohnung. Ich sehe das als meine Chance an, mich aus Eriks Fürsorge zu stehlen, die ich sowieso nicht verstehen kann.

Ellen ist nicht in ihrem Zimmer und auch nicht in ihrem Badezimmer. Ich suche sie woanders, finde sie aber nirgends. Mir wird mulmig. Unten in der Küche ist sie zwischen den vielen Gestalten, die sich mittlerweile eingefunden haben, auch nicht auszumachen.