Ein verhängnisvoller Wunsch

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Ein verhängnisvoller Wunsch
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Sabine von der Wellen

Ein verhängnisvoller Wunsch

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Isabels verlorene Träume

Ein neuer Weg

Eine erschreckende Erkenntnis

Der Vergangenheit ausgeliefert

Die Maifeier

Die Ernüchterung

Keine Zeit für Träume

Eine ungewisse Zukunft

Cedrics Hoffnung

Die Geister, die sie rief

Des Schicksals langer Arm

Nicht immer gibt es ein Happy End

Epilog

Impressum neobooks

Isabels verlorene Träume

Weiches, trostspendendes Licht drang von der Straßenbeleuchtung in das halbdunkle Wohnzimmer. Von dem Lärm auf der Straße war kaum noch etwas zu hören. Manchmal fiel ein bunter Lichtschimmer auf die Wand gegenüber dem Fenster und fernklingendes, dumpfes Donnern rollte durch die kleine, gemütliche Wohnung.

Die Kerze auf dem kleinen Tisch war schon lange heruntergebrannt und die schön geschmückte und zum Essen angerichtete Tafel im Halbdunkel versenkt. Ein paar Luftschlangen hingen schlapp von der Lampe herunter und berührten fast den Hals der leeren Sektflasche.

Plötzlich durchbrach das nahe Kreischen eines der letzten Feuerwerkskörper dieser Silvesternacht die Stille und langsam kam Bewegung in die Gestalt vor dem kleinen Sofa.

„Verdammt!“

Leise und gehemmt drang dieser Laut aus dem rot angemalten Mund, dessen Farbe sich bis zum Wangenknochen verschmiert hatte.

„So eine verdammte Scheiße.“

Langsam schob Isabel sich von dem dunkelblauen Teppich hoch und hielt sich noch einen Moment an der Sofalehne fest, um sich dann stöhnend auf die Füße zu ziehen.

Leicht schwankend bemühte sie sich darum, einige Schritte vorwärtszutun. Doch die Koordination ihres Körpers wollte sich offenbar nicht ihrem Willen unterwerfen. Seufzend versuchte sie es erneut, als sich plötzlich etwas in ihrem Magen aufbäumte, als hätte sie ein Wildpferd verschluckt.

Eine Hand vor den Mund reißend, lief sie mit wankenden Schritten zur Toilette und schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich über der Schüssel auf die Knie fallen zu lassen. Dort erbrach sie sich und suchte blind nach dem Papier, um sich den Mund abzuputzen. Ein bitterer Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus und wieder schüttelte sich ihr Körper in Würgekrämpfen.

Der Geruch von Erbrochenem erfüllte den Raum und sie hob schwerfällig den Arm und drückte die Toilettenspülung. Glucksend verschwand die stinkende Flüssigkeit aus Alkohol und Gallensaft im Toilettenschlund.

Einige Zeit blieb sie noch benommen vor der Toilette hocken, bevor sie erneut versuchte, sich auf die Füße zu stemmen.

Ihr Blick fiel auf den kleinen Spiegel über dem Waschbecken. Dunkel verschmierte Augen und ein entsetzlich entstellter Mund sahen ihr Mitleid heischend entgegen. Sprenkel von Erbrochenem verdunkelte das schöne Blau ihres Kleides.

Der Mund öffnete sich und leise drangen aufgebrachte Worte daraus hervor. „Du kotzt mich an!“

Kurz starrten ihr die Augen noch dümmlich aus dem Spiegel entgegen, dann verändert sich deren Ausdruck und der Mund verzog sich breit. Glucksendes Lachen brach in einer Fontäne über das kleine Badezimmer herein.

„Du kotzt mich an! Hahaha! Du kotzt mich wirklich an. Ja, das hast du tatsächlich getan.“

Niveaulos und heruntergekommen. Und dann lachst du auch noch darüber. Ganz schön tief gesunken und sowas von erbärmlich.

Augenblicklich verzog sich ihr Mund und das Lachen wurde von einem Schluchzer abgelöst. Die verschmierten Augen fingen zu glänzen an. Tränen quollen aus ihnen hervor und der eben noch fröhlich gestimmte Gesichtsausdruck wurde zu einer weinerlichen Grimasse.

Isabel schlug die Hände vors Gesicht und wankte laut schluchzend ins Wohnzimmer zurück. Dunkelheit umschloss sie, die plötzlich jäh unterbrochen wurde.

Den Lichtschalter mit der Hand umschließend, sah sie sich verweint in dem Raum um.

Das Essen auf dem kleinen Tisch war nicht angerührt worden. Eine leere Sektflasche stand wie eine Trophäe mitten auf dem Tisch platziert, und eine lag vor dem Sofa auf dem Boden. Die Kerze auf dem Tisch war schon lange in ihrem Halter ausgebrannt und Kälte lag über allem.

Fröstelnd schlich sie zu ihrem Sofa und zog die Decke um ihre Schultern, als ein roter, leuchtender Punkt auf dem kleinen Beistelltisch ihre Aufmerksamkeit forderte.

Schnell warf sie die Decke zur Seite und lief, schwankend wie ein alter Kutter auf hoher See, um das Sofa herum zu dem kleinen Tischchen.

„Er hat doch noch angerufen! Bestimmt hatte er eine Panne oder einen Unfall … auf dem Weg zu mir,“ schoss es ihr dabei hoffnungsvoll durch den Kopf und sie drückte auf den Knopf des Anrufbeantworters, die letzten versiechten Tränen aus den verschmierten Augenwinkeln wischend. „Er hat mich nicht absichtlich sitzengelassen.“

Eine Stimme erklang.

„Isabell, ich kann heute nicht mehr kommen. Wir haben noch Besuch, und da kann ich mich unmöglich loseisen. Tut mir leid.“ Seine Worte waren geflüstert und nur heimlich an sie gerichtet. Dahinter Gelächter und Partystimmung.

Mit einem gequälten Aufschrei riss Isabel den Anrufbeantworter vom Tisch und ließ ihn zu Boden krachen. Dann richtete sie sich auf und stand unschlüssig da.

Eine dumpfe Wut machte sich in ihrem Inneren breit, dehnte sich bis in die letzten Poren aus und ließ sie erzittern. Diese Wut hatte sie fast den ganzen Abend begleitet, wenn sie nicht gerade von dem Elend abgelöst wurde, dass ihr immer wieder ihr trostloses Leben vor Augen gehalten hatte.

Langsam griff sie zum Telefonhörer und wählte eine Nummer. Schon als sie den Hörer an ihr Ohr hielt, überkamen sie die Zweifel.

Was machst du da? Du wusstest doch, dass er verheiratet ist. Er hat eine Familie, mit der er feiert. Das war dir doch klar!

„Berger.“

Das war seine Tochter Jasmin. Sie war einen Tag zuvor zwölf Jahre alt geworden und durfte Silvester das erste Mal mitfeiern.

„Falsch verbunden“, klang es müde und traurig durch den Raum. „Entschuldigung!“

Grüß deinen Vater, hätte sie am liebsten noch voller Boshaftigkeit gerufen. Doch ihr Gewissen verbat ihr das. Schnell schmiss sie den Hörer auf die Gabel, als wäre er glühend heiß. Das alles war so ungerecht, so grausam. Alle feierten diesen Tag, nur sie war allein Zuhause und hatte vergeblich auf einen Mann gewartet, der viel lieber mit seiner Familie feierte.

Alles umsonst. Das schöne Essen, sein Lieblingssekt, für den sie durch fünf Geschäfte gelaufen war, bis sie ihn endlich gefunden hatte und das schöne, blaue Kleid mit der blauen Spitzenunterwäsche und den Strapsen darunter. Sie hatte sich so herausgeputzt, um ihm und sich eine wunderschöne Silvesternacht zu bescheren und ihn seine angeblichen Probleme mit seiner Familie vergessen zu lassen. Schließlich mochte sie ihn wirklich, und hatte auch ein Anrecht auf etwas Glück.

Aber doch nicht mit einem verheirateten Mann!

Langsam ging Isabel in das angrenzende Schlafzimmer, drückte auf den Lichtschalter und sah sich in dem großen Spiegel ihres Schrankes an. Auch hier waren die Kerzen heruntergebrannt. Sie hatte Glück, dass ihre selbstvergessene Unachtsamkeit ihr nicht die Wohnung unter dem Hintern weggebrannt hatte.

Ein gequälter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht, als sich sofort die Erinnerung an den Brand in ihrer Kindheit in ihren Kopf schob. Sie sah sich und ihre Schwester Karin im Schlafanzug und unter einer Decke geschützt aus dem großen Dielentor eilen, von ihrem Vater vor sich hergetrieben. Er selbst war hinter ihnen keuchend zusammengebrochen. Ihre Mutter war zu ihm gerannt und hatte ihn am Arm weitergezogen, mit einem Aufschrei Isabel auffordernd, ihr zu helfen. Zusammen hatten sie ihren Vater weggezerrt, während das alte, schöne Haus ihrer Kindheit vor ihren Augen in hellen Flammen aufgegangen und zusammengefallen war. Und damit hatte ihre ganze schöne Kindheit geendet. Das war der Auftakt zu einem neuen Leben, dass allen Glückes beraubt war. So kam es Isabel zumindest in diesem Augenblick vor. All ihr Glück in ihrem Leben war damals in dieser einen Nacht verbrannt.

Sie wollte nicht mehr daran denken. Jetzt war sie eine erwachsene Frau, die ihr Leben im Griff hatte. Und ja, er ist verheiratet. Aber er hatte ihr gesagt, dass er sie wirklich toll findet und seine Familie kurz vor der Auflösung steht. Er sagte, seine Frau betrügt ihn. Er war so unglücklich … und er liebt seine Kinder doch so sehr! Kinder sind das Beste im Leben! Er hätte sogar einen ganzen Stall voll haben wollen, hatte er gesagt. Aber seine Frau wollte das nicht. Sie muss so ein böser Mensch sein.

 

Mach dir nichts vor. Er wird wegen dir nicht seine Familie aufgeben und eine neue gründen. Das kann er sich gar nicht leisten. Die Unterhaltszahlungen würden ihn bei seinem mickrigen Gehalt ruinieren.

Ihr Gewissen war mal wieder erbarmungslos. Es war ständig da, sagte ihr, was sie zu tun und zu lassen hatte und ließ sie keinen Moment mit Freude etwas Verdorbenes, Hinterlistiges oder Schlechtes tun. Sie hasste es und fühlte sich ihm doch unterworfen. Es wurde manchmal regelrecht zu ihrem Feind und in Augenblicken wie diesen lechzte sie danach, es zu töten.

Aber hatte es bisher nicht meistens recht gehabt? Wenn sie doch bloß mehr darauf gehört hätte. Nie wollte sie sich mit einem verheirateten Mann einlassen, sich nie einem Mann an den Hals werfen, der sie nicht wirklich und wahrhaftig liebte und frei für sie war. Doch was war daraus geworden? Sie hatte Silvester für einen verheirateten Mann geopfert, der sie dann sitzen gelassen hatte.

Geschieht dir ganz recht. Schließlich hast du mit ihm einen deiner streng behüteten Vorsätze gebrochen, nur um die Feiertage zu überstehen.

Nein, es ging um mehr! Sie dachte, dass er länger bleibt. Vielleicht sogar für immer.

Scheiß Kurzschlußpanik. Nie hätte sie gedacht, dass sie jemals so tief sinken könnte, dass sie sich deshalb jemandem an den Hals warf, der zwar gut aussieht, aber vergeben ist.

Aber er hatte ihr auf der Weihnachtsfeier gesagt, dass er seine Ehe satthat und seine Frau ihn betrügt. Er war so am Boden zerstört gewesen, dass sie ihn trösten musste.

Und dabei hast du völlig übersehen, dass du nicht die erste bist, mit der er das abzog.

Isabel starrte immer noch ihr Spiegelbild an und schüttelte unwirsch den Kopf. Auf solche beschissenen Gedanken konnte sie gut verzichten.

Ihr Blick fiel auf ihre schlanke Figur in dem schönen Kleid. Sie hatte sich so schön herausgeputzt und keiner hatte das zu Gesicht bekommen. Wäre sie doch nur auf eine Party gegangen oder mit ihren Freunden losgezogen. Sie hatte doch Freunde, oder? Doch wo waren alle in so einer Nacht? Irgendwo da draußen und feierten.

Du hast selbst alle abgewimmelt und jedem erzählt, dass du die Grippe hast. Selbst schuld!

Nun hatte sie die Nacht der Nächte einsam und allein zugebracht, weil ihr Herzallerliebster sie im Stich gelassen hatte.

Erniedrigend. Warum hängst du dich auch immer an irgendwelche dummen Kerle?

Ja, das war eine berechtigte Frage, die sie sich immer wieder stellen musste und die in ihrem derzeitigen Zustand wahre Krater in ihr Herz riss.

Langsam ließ sie sich auf das Bett sinken. Sollte sie das Kleid und die teure Unterwäsche ausziehen? Ach, egal. Sie würde so schlafen gehen.

Nein, das verknautscht doch alles!

„Ja, verdammt. Ich ziehe es doch schon aus. Verflucht noch mal …!“

Langsam quälte sie sich wieder aus dem Bett und ihr wurde schwindelig. Wieder starrte ihr das verschmierte Gesicht aus dem Spiegel entgegen. Ihr wurde erneut schrecklich übel.

Waschen …?

Diesmal war die Stimme in ihrem Inneren vorsichtiger mit ihren erbarmungslosen Ansprüchen. Manchmal ging das Ganze auch wirklich zu weit. Das war doch schon krank!

„Ach, halt doch den Mund!“, schrie sie ihr Spiegelbild aufgebracht an, dessen Mund aber stumm blieb. Doch sie musste es tun. Sie wollte jemanden verletzen oder einmal diese Stimme in ihrem Inneren niedertreten.

Ihr war plötzlich danach, etwas ganz Schlimmes zu tun. Etwas, was ihr Gewissen bestimmt schocken würde.

Tzzz. Hast du nicht mit dieser Beziehung zu Hardy schon all deine inneren Werte mit den Füßen getreten? Was willst du noch?

Er war es gewesen, der zu ihr ins Bett gekrochen war. Er wollte sie! Er wollte bei ihr sein! Er glaubte sogar, sich in sie zu verlieben!

Blödsinn.

„Doch!“, schluchzte sie auf. „Das war so!“

Außerdem, was hätte sie anderes tun können, als ihm hilfsbereit die Hand entgegenzustrecken, wo es ihm so schlecht ging?

Es war bei der Weihnachtsfeier vor vier Wochen gewesen. Er hatte ihr so traurige Dinge über seine gescheiterte Ehe erzählt und wie einsam er war, dass sie ihn einfach nicht ungetröstet ziehen lassen konnte. Dazu kam, dass seine Frau ihn angeblich an diesem Abend hinausgeworfen hatte und er buchstäblich auf der Straße stand. Isabel musste ihm einfach ein Dach über dem Kopf anbieten – so kurz vor Weihnachten, dem Fest der Liebe, dem sie sowieso schon mit erschreckend ungutem Gefühl entgegensah, und das für sie wieder zum Fest der beklemmenden Einsamkeit zu werden drohte.

Du brauchtest doch nur ein Opfer, dass dich die Einsamkeit vergessen ließ. Und Weihnachten verbrachte er trotzdem bei seiner Familie … und du hast dich auf Silvester vertrösten lassen. Und nun …?

Gott, sie war so dumm! Er war schließlich schon am Morgen nach der Weihnachtsfeier zu seiner Familie zurückgekehrt. Angeblich, weil seine Frau ihn angefleht hatte. Dabei hatte er überhaupt keinen Anruf an diesem Morgen bekommen. Aber sie hatte das anfangs gar nicht gecheckt. Und auch nicht, dass eine Frau, die ihren Mann betrügt, nicht diejenige sein kann, die ihren Mann aus der Wohnung wirft. Das Recht hätte sie gar nicht.

Wie immer hast du vor allem die Augen verschlossen, was du nicht sehen wolltest.

Seufzend starrte sie sich weiter in dem Spiegel an, in dem sich die verschmierten Augen schon wieder mit Tränen füllten. Dabei versuchte sie ihrem Gewissen entgegenzuhalten: „Aber er kam doch seit der Weihnachtsfeier immer wieder zu mir. Er wollte bei mir sein, weil er sich schwer in mich zu verlieben drohte. Ja, das waren seine Worte. Er drohte sich schwer in mich zu verlieben.“

Das hatte etwas in ihr freigesetzt. Eine Hoffnung. Eine dumme Hoffnung.

Zweimal fing er sie sogar in der Arbeit ab und zog sie ungestüm in das Lager und liebte sie auf dem kalten Plastik eines einfolierten Sofas. Nach Weihnachten stand er um Vergebung bettelnd vor ihrer Tür. Er hatte ihr zwar versprochen, Weihnachten bei ihr zu sein, aber das ging dann doch wegen der Kinder nicht. Aber er hatte für sie eine riesige Schachtel Pralinen mitgebracht und einen Arm voller Schwüre, dass Silvester ihr allein gehört, und dass sich im neuen Jahr alles für sie ändern wird. Und er zog sie erneut in ihr Bett und liebte sie mit mindestens zwei Kondomen übereinander.

Diesmal brauchte sie ihr schlechtes Gewissen nicht. Sie erkannte selbst, wie dumm sie war.

„Dumme Kuh!“, rief sie ihrem Spiegelbild entgegen. „Vergiss die Männer! Du brauchst sie nicht!“

Doch, sie brauchte sie. Sonst blieb sie allein und alles würde für sie zu spät sein.

Sie starrte ihr Spiegelbild wie einen Feind an. Diese andere Frau, die sie so erbärmlich um Mitleid heischend ansah und einfach nicht begriff, dass sie sich besser einen Hund anschaffen sollte.

Nein, nicht so ein dreckiges Fellvieh!

Isabel schüttelte den Kopf, als wenn sie erkannte, dass es keinen Zweck hatte. Sie würde nie verstehen – nie begreifen, was wirklich in ihrem Inneren tobte und warum es das tat. Wäre ein Hund nicht die Lösung? Könnte das nicht ein Ersatz sein?

Ihre Vorsätze für das neue Jahr fielen ihr ein. Sie hatte hunderte in ihrem Kopf heraufbeschworen, als sie die Sektflaschen geleert hatte. Jetzt wusste sie nur noch einen und ihr Gewissen rief applaudierend, weil es den wohl zu seinem Lieblingsvorsatz auserkoren hatte: Finger weg von allen Männern oder der ständigen Suche nach einem Vater für ein Kind.

„Und nie mehr nett sein, nie mehr auf dieses verdammte Gewissen hören und sich einen Hund anschaffen“, zischte sie wütend, um dieser Stimme endlich Einhalt zu gebieten. Dabei schlug sie gegen den Spiegel, der Frau mitten ins Gesicht, die noch nicht einmal ihre Miene verzog. Doch ein gewaltiger Sturm tobte durch Isabels Hand und mit Genugtuung stellte sie fest, dass die Frau ihr gegenüber nun doch das Gesicht verzog. Doch das schien nur Sekunden lang so zu sein. Denn ihre Gedanken wollten unbedingt bei der Sache mit dem Hund bleiben. Warum auch nicht? Sie wollte doch nur etwas, was sie bedingungslos lieben konnte und was sie genauso zurückliebte. Außerdem wollte sie etwas, um was sie sich kümmern konnte und dass sie nie verließ.

Hör auf, dich verrückt zu machen. Du hast gar keine Zeit für einen Hund und wirst bestimmt auch noch allergisch. Geh dich jetzt waschen und zieh den Fummel aus. Es ist gleich morgens und etwas schlaf wird dir guttun. Morgen sieht die Welt dann schon anders aus.

Immer noch drangen von draußen die dumpfen Böllerschüsse durch die Nacht und der kreischende Schrei eines Jaulers.

„Pah, ich höre nicht auf dich. Du kannst mich mal! Ich lege mich jetzt so schlafen“, rief sie sich aufmüpfig zu und machte eine wegwerfende Handbewegung zu der Frau im Spiegel, die sie mürrisch anstarrte. Dann schob sie sich schwerfällig von der Bettkante und setzte sich schlurfend in Bewegung. Einen Augenblick wusste sie nicht, was sie eigentlich tun wollte. Seltsam ruhelos trat sie ans Fenster. Die Straßenlaternen warfen müdes Licht auf die Häuserwände und die darunter geparkten Autos und die Straße war menschenleer. Nur hier und da erhoben sich noch buntschillernde Lichterpunkte in den dunklen Himmel über der Stadt. Dort wurde offenbar immer noch gefeiert.

Erneut drangen wie aus weiter Ferne Böllerschüsse an ihr Ohr. Aber nur noch sehr wenige. Die Silvestermeute war langsam des Feierns müde. Aber man konnte dennoch in den Häusern erleuchtete Fenster sehen. Eigentlich noch eine ganze Menge. Da drüben wurde auch noch kräftig gefeiert. Und da, gegenüber im Nachbarhaus, stand jemand am Fenster und sah genauso wie sie hinaus.

Sie griff nach dem Schalosienband und wollte die Schalosie gerade hinunterlassen, als sie ein Gedanke packte. Eigentlich löste ihr Gewissen diesen Gedanken aus, der sie schon brav ins Badezimmer wanken sah, um sich abzuschminken und sich das Kleid auszuziehen …

„Vergiss es“, lallte sie aufmüpfig und immer weniger ihrer Muttersprache mächtig. „Abschminken? Wozu? Ausziehen …, okay!“

Noch während sie die Worte zu sich sagte, schrie es in ihr auf. Nein, tue das bloß nicht!

Hämisch grinsend knöpfte sie ihr Kleid auf. Langsam, ganz langsam. Dabei starrte sie auf das Fenster im gegenüberliegenden Haus und spürte, wie etwas in ihr entsetzt erstarrte. Aber sie ignorierte diese plötzlich aufkeimende Angst vor dem, was sie vorhatte. Heute wollte sie nicht die brave, liebe Isabel sein.

Bewegung kam in die Gestalt im gegenüberliegenden Haus und plötzlich ging das Licht aus.

Etwas enttäuscht wollte Isabel sich abwenden, den Gedanken verwerfend, der sie gerade noch trug, als das Glimmen einer Zigarette ihr verriet, dass die Gestalt immer noch am Fenster stand.

Langsam drang die Tragweite ihres Handelns in ihre Gedankengänge, doch sie verdrängte sie mit aller Macht.

Einmal tun, was sie will. Einmal nicht prüde und brav sein.

Sie schwankte leicht und musste sich am Fensterbrett festhalten, als sie das Kleid sinken ließ. Langsam drehte sie sich einmal um sich selbst und strich sich durch ihr langes, dunkelbraunes Haar. Ein Seufzer drang aus ihrer Kehle, und erschrocken riss sie die Augen auf, die sie kurz geschlossen hatte.

Er war noch da. Er schien sie wirklich zu beobachten.

Genug jetzt, mach die Schalosie runter.

Sie stellte stattdessen ihren Fuß auf die Fensterbank, was ihr erst erhebliche Schwierigkeiten bereitete und sie schwanken ließ wie eine alte Fregatte.

Als sie endlich halt gefunden hatte und ihr Gleichgewicht mit der Situation zurechtkam, rollte sie langsam den Straps herunter. Dabei grinste sie hämisch und kam sich wunderbar verrucht vor.

Plötzlich musste sie aufstoßen und der eklige Geschmack von Sekt und Magensäure verursachte ihr wieder schreckliche Übelkeit.

Hör doch auf und geh ins Bett. Was du da machst ist echt lächerlich.

„Lächerlich?“ Sie griff nach dem Straps und winkte kurz damit. Dann strich sie sich genüsslich über das Bein und zog es wankend wieder von der Höhe auf den Boden. Sie nahm das andere Bein hoch, sich erneut mit einigen Schwierigkeiten ausbalancierend und schälte es aus dem zweiten Straps. Ein Zug bitterer Entschlossenheit lag auf ihrem Gesicht. Auch mit dem winkte sie zu der Gestalt hinüber. Doch diesmal musste sie schon mit beiden Händen nach dem Fensterrahmen greifen, um das Bein, ohne hinten über zu fallen, wieder auf den Boden zu bekommen.

 

Wie wäre es mal mit etwas Yoga im neuen Jahr?

Energisch zog sie ihren Slip herunter.

Macht nichts. Der Typ wird bestimmt nichts sehen können. Seine Wohnung lag zwar eine Etage höher als ihre, aber die Entfernung und die Fensterbank werden es schon verdecken.

Mit dem Slip schwenkte sie einmal über ihrem Kopf und ließ ihn zu Boden fallen. Einen Augenblick spürte sie etwas Hitze auf ihren Wangen, aber sie wollte sich nicht unterkriegen lassen und einmal wirklich verrucht sein.

Sie griff sich zwischen die Brüste und öffnete den BH. Langsam zog sie ihn aus und ließ ihn fallen.

Die Gestalt war immer noch da.

Sie legte ihre Hände auf ihre Brüste. Dabei wurde ihr bewusst, dass er das aber sehen konnte.

Wie eine alles mitreißende Flut überkam sie die Panik. Schnell griff sie zu dem Schalosienband und ließ die schwere Schalosie heruntergleiten.

„Ende der Vorstellung!“, lallte sie dabei und drehte sich leicht taumelnd um. Sie war so müde und so betrunken …

Langsam peilte sie ihr Bett an, kroch unter die Decke, machte das Licht aus und drehte sich auf die Seite. In ihrem Kopf wirbelten kleine Stürme. Doch es dauerte nur einen Augenblick, in dem sie das vor Entrüstung schreiende Etwas, das ihren Auftritt vor dem Fenster nicht fassen konnte, in sich zu ignorieren versuchte. Dann schlief sie ein.

Nur langsam drang das Schnarren des Telefons an Isabels Ohren und wurde von ihrem Gehirn registriert. Sie schlug die Augen auf und fast gleichzeitig schoss ein Schmerz in ihre Schläfen und ihr Magen schien sich seltsam zu verdrehen.

Stöhnend versuchte sie in die Wirklichkeit zu finden.

„Hardy …!“, schoss es ihr durch den Kopf und ihre Hand griff neben sich. Doch der Platz war kalt und leer.

Ach ja, er hatte sie sitzengelassen.

Wieder schnarrte das Telefon.

Isabel stand auf und wankte benommen in ihr Wohnzimmer. Sie nahm den Hörer ab und meldete sich mit rauer, dünner Stimme.

Sofort dröhnten ihr überlaute Worte ins Ohr, die sie den Hörer weit von sich halten ließen. „Ein wunderschönes neues Jahr, mein Schatz. Ich wünsche dir, dass in diesem Jahr endlich alle deine Wünsche in Erfüllung gehen.“

„Danke Mama.“

Ihre Stimme klang zu müde und niedergeschlagen und sie versuchte sich zusammenzureißen. Ihre Mutter sollte glauben, dass es ihr wirklich gut geht. Ansonsten konnte sie sich wieder die besserwisserischen Vermutungen von ihr anhören, warum es ihr schlecht ging und die Fragen beantworten, wieso sie nicht so war wie ihre jüngere Schwester Karin. Die hatte immer alles im Griff mit sich und ihren zwei Kindern und ihrem tollen Ehemann.

Ihre Mutter weiß nicht, dass Klaus, bevor er von ihre Schwester angeschlürt wurde und diese von Liebe auf den ersten Blick sprach, eine One-Night-Bekanntschaft von Isabel gewesen war. Natürlich konnte Isabel das niemandem sagen und Klaus hütete sich, dass von sich aus zur Sprache zu bringen. Also wusste niemand, dass Klaus seine Schwägerin von innen und außen kennt und ihre Mutter hätte Isabel geluncht, wenn sie erfahren hätte, dass sie Männerbekanntschaften für eine Nacht hegte. Das Klaus Isabel dann auch noch anbaggerte, als Karin mit Natalie schwanger war, konnte sie natürlich auch niemandem sagen. Er war betrunken gewesen und hatte Isabel gesagt, dass er Karin nur genommen hatte, weil Isabel ihn damals nicht wiedersehen wollte.

Natürlich hatte sie ihm das weder geglaubt noch ihn weiter erhört, weil sie das ihrer Schwester nicht antun konnte. Aber ab da wusste sie, dass er eigentlich ein Schwein ist, wie alle Männer.

Ihr Blick fiel auf den heruntergefallenen Anrufbeantworter. Mit dem Hörer in der Hand der Mutter lauschend, die ihr von ihrem Silvesterabend mit Karin, Klaus und den Kindern berichtete, stand sie von dem Sofa auf, auf das sie sich fallenlassen hatte und hob das Gerät auf. Kopfschüttelnd stellte sie es wieder hin. Sie konnte sich nicht erinnern wie das Gerät auf den Fußboden gekommen war.

„Es wäre schön, wenn du Karin auch mal wieder besuchst. Sie sagte, du schaust nie bei ihr rein.“

„Ja Mama. Mache ich.“

Isabel sah sich um.

Der Tisch war immer noch ordentlich gedeckt und das Essen stand in den Schüsseln angerichtet vertrocknet und unappetitlich auch noch da. Dazwischen prangte eine leere Sektflasche.

„Die Kinder sind so lebhaft. Du könnest ihr ein wenig mit ihnen helfen. Vielleicht regt das deine Mutterinstinkte endlich mal etwas an.“

Oh Mann. Ihre Mutter hatte überhaupt keine Ahnung, was sich wie in Isabel regt.

„Mama, ich arbeite den ganzen Tag. Und ich denke, Karin kriegt das mit den Kindern auch allein hin.“

Isabel fand beim Sofa die zweite leere Sektflasche.

Hardy, dieses Schwein! Erst erzählte er ihr, dass er unbedingt mit ihr ins neue Jahr reinfeiern will und dann kam er nicht.

„Isabel, du wirst nicht jünger. Wenn du selbst mal Kinder haben willst, wird es langsam Zeit. Ich glaube, in deinem Alter läuft die biologische Uhr schon recht schnell rückwärts. Hast du dich mal bei dem Arzt darüber erkundigt, den ich dir letztens empfohlen habe?“

„Ja Mama, habe ich. Es ist alles noch im grünen Bereich“, log sie und wusste, sie musste das Gespräch schleunigst beenden. „Dann grüß Papa schön von mir und nochmals ein schönes neues Jahr, falls ich das noch nicht erwähnt habe. Ich habe es etwas eilig. Ich habe gleich noch ein Neujahrsessen mit Freunden. Tschüs und bis bald!“ Isabel hörte noch ein perplexes: „Ähm … ja, okay, gut. Bis bald. Und komm mal …“ und legte schnell auf.

Sie atmete einmal tief durch, weil sich erneut Übelkeit in ihrem Bauch ausbreitete und ihre Magensäure immer höher Richtung Ausgang wanderte. Isabel schluckte schnell einige Male, um dem entgegenzuwirken.

Ihre Mutter nervte sie immer wieder damit, dass Isabel Karin nicht mit den Kindern half und selbst keinerlei Anstalt machte, welche zu bekommen. Sie wusste nichts von Isabels Leben. Sie wusste nicht, dass sie Karin so selten besuchte, weil es sie schmerzt, dass Karin zwei so tolle Kinder hat und sie nicht. Sie ertrug es kaum, die Kleinen um sich zu haben und war hinterher immer erschreckend deprimiert.

Ihre Mutter wusste auch nicht, dass Isabel diese Muttergefühle, die sie bei Kindern jedes Mal anfielen, fast ins Grab brachten, und dass sie sich absolut bewusst war, dass sie bald nicht mehr in der Lage sein würde, selbst welche zu bekommen.

Tränen quollen ihr aus den Augen, und Isabel versuchte sie mit aller Macht zu unterdrücken. Bloß nicht schon am frühen Morgen in Selbstmitleid zerfließen. Wo soll das sonst hinführen?

Trotz Gegenwehr machte sich Niedergeschlagenheit bei ihr breit. Sie musste sich erst einmal einen Kaffee kochen und eine Schmerztablette einwerfen, damit die rasenden Kopfschmerzen aufhörten, die mit der Übelkeit erneut eingesetzt hatten.

Langsam schlurfte sie in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an. Dann griff sie in eine Schublade nach den immer dort parat liegenden Tabletten und schluckte eine mit etwas Wasser hinunter. Der nächste Gang führte sie in ihr Badezimmer. Der Blick in den Spiegel verhieß nichts Gutes. Soll das da etwa sie sein? Diese alte Frau mit der verschmierten Schminke im Gesicht.

Es fröstelte sie und ihr wurde langsam bewusst, dass sie nichts anhatte.

So läufst du in der Wohnung herum, und das am helllichten Tag, wo dich jeder sehen kann!

Ah, ihr Gewissen. Das war immer rege und wachsam. Selbst nach so einer Nacht.

Scheu sah sie durch die Tür des Badezimmers in den kleinen Flur und das angrenzende Wohnzimmer.

Tatsächlich! Es war hell - also die Schalosien offen. Ihr wurde mit Erschrecken klar, dass sie eben jeder sehen konnte, als sie aus dem Bett zum Telefon gewankt war.

Schamröte überzog ihr Gesicht und machte es mit der verschmierten Schminke noch unansehnlicher.

„Ach, es wird schon keiner am Fenster gestanden haben“, beruhigte sie sich schnell.

Fenster … Fenster … irgendwie drängte sich ein ungutes Gefühl im Zusammenhang mit Fenster an die Oberfläche.

Ach, egal! Sie musste erst mal duschen.

Sie stieg hinter den Vorhang und ließ das Wasser über ihren Körper laufen. Langsam verschwanden dabei ihre Kopfschmerzen und ihre Lebensgeister erwachten vollständig. Aber mit denen auch die Wut auf den missratenen Silvesterabend.

Sie trocknete sich ab und marschierte, von ihrem großen, geblümten Handtuch umschlungen, in ihr Schlafzimmer. Aus der Küche drang schon der würzige Kaffeegeruch zu ihr herüber, und mit einem dumpfen Hungergefühl im Magen fiel ihr Blick auf den Radiowecker auf ihrem Nachtschrank.