Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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Das Vermächtnis aus der Vergangenheit
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Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

Teil 2: Der Fluch

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Eine verhängnisvolle Macht

Die Entscheidung

Neues aus der Vergangenheit

Die Scheunenfete

Keine Macht dem Liebeslied

Nichts ist wie es scheint

Platinblondes Gift

Die Macht des Fluches

Die gnadenlose Wahrheit

Impressum neobooks

Eine verhängnisvolle Macht

Ich steige langsam aus der Dunkelheit empor. Es ist wie ein körperloses Erklimmen aus einem Abgrund und ich spüre erst allmählich die Schwere meines Körpers und mein Bewusstsein erwacht vollständig. Das zieht mich das letzte Stück in eine vertraute Welt.

Es ist immerhin beruhigend, dass ich aus einem Schlaf erwache, als wäre ich noch am Leben.

Und es ist warm und ich fühle etwas auf meinem Bauch und meiner Hand. Also habe ich immer noch so etwas wie einen Körper.

Und es gibt monotone, etwas aufdringliche Geräusche und gleißendes Licht, das sich sogar durch meine geschlossenen Augenlider drängt.

Langsam öffne ich die Augen.

Ich liege in einem Bett und sehe helles Sonnenlicht durch ein großes Fenster fluten. Das Kopfende meines Bettes ist etwas erhöht und ich erblicke einige Apparaturen, wie in einem Krankenhaus, weiße Wände und einen weißen Schrank. Alles wirkt sporadisch und steril. Dann fällt mein Blick auf die weiße Bettdecke und ich mache den Ursprung dessen aus, was ich schwer auf meinem Bauch fühle. Ich sehe auf den blonden, wirren Haarschopf.

Marcel?

Er hockt neben meinem Bett auf einem Stuhl und sein Kopf liegt auf seinen verschränkten Armen auf meinem Bauch. Unter dem Berg aus Armen, Kopf und Haaren ist meine Hand vergraben.

Ich schließe die Augen und bin mir sicher, ich träume. Aber zumindest bin ich nicht tot.

Meine Augen erneut öffnend, bietet sich mir dasselbe Bild. Marcel schlafend an meinem Bett.

Er ist blass, hat Augenränder und sieht erschöpft aus.

Ich überlege, ob ich mich noch weiter aufsetzen kann als die Position, die ich sowieso schon innehabe. Doch dazu müsste ich mich bewegen und davor fürchte ich mich. Ich möchte den jungen Mann an meinem Bett nicht wecken. Was soll ich zu ihm sagen? Wie ihm begegnen?

Was macht Marcel überhaupt hier? Und warum ist es Marcel, der an meinem Bett sitzt?

Meine Gedanken überschlagen sich.

Ich betrachte sein schmales Gesicht, in das seine blonden Haare fallen, die dunklen Augenbrauen, darunter die schwarzen Augenwimpern und die schmalen Lippen. Sein hervorspringendes Kinn ist unter seinem Handrücken verborgen.

Ich stelle erneut fest, dass er gut aussieht. Aber ich kann nicht fassen, dass er so vertraut an meinem Bett sitzt, meine Hand umschlossen hält und schläft.

Ich schließe wieder die Augen und lasse mich zurück in die Welt fallen, aus der ich so mühevoll aufgetaucht war. Nur einen Gedanken nehme ich mit in diese Welt - Marcel ist bei mir. Ich bin nicht allein.

Als ich erneut erwache, wird die Welt um mich herum noch klarer. Ich nehme sofort den Piepton wahr, der von einem Gerät neben meinem Bett aufdringlich in den Raum schallt und weiß sofort, dass ich im Krankenhaus bin.

Langsam steigt die Erinnerung in mir auf, wie ein mit Helium gefüllter Ballon, von einem schrecklichen Traum angefacht, in dem ich in einem Labor war.

Plötzlich stürzt alles auf mich ein. Das Messer, Julian, der Schnitt in meinen Hals, Tim … und Marcel, der mich aus dem Labor trug.

Die nun realen Bilder schieben sich gnadenlos in meinen Kopf und werden zu einem Film. Das Entsetzen lässt mich zusammenzucken und Marcels Kopf schnellt augenblicklich von meiner Bettdecke hoch. Ich hatte ihn gar nicht bemerkt.

„Carolin?“ Er sieht mich erleichtert und verschlafen an und drückt meine Hand, die von seiner fest umschlungen wird. „Oh Mann, endlich!“ Er steht fahrig auf, wobei er den Stuhl mit den Beinen zurückschiebt und beugt sich über mich. Sein besorgter Blick mustert mich und er streicht mir die Haare aus dem Gesicht. „Bitte, bleib jetzt wach.“

Ich sehe ihn verwirrt an. Der weiche Blick aus seinen grauen Augen lässt meine Verwirrung nur noch größer werden. Er ist immer noch da. Oder schon wieder?

Marcel sieht sich um, greift nach der Fernbedienung über meinem Bett und drückt einen Knopf.

Ich schließe schnell wieder die Augen und spüre seine Hand, die meine umklammert. Sie ist warm und beruhigt mich ein wenig. Ich weiß zwar nicht, warum Marcel immer noch an meinem Bett sitzt, aber dass er da ist, nimmt mir ein wenig meiner Unsicherheit und Angst. Ich bin wenigstens nicht allein mit meinen Geistern, die mich in meinem Kopf martern und mir Schreckensbilder aus einem düsteren Labor aufdrängen.

Eine Schwester kommt herein und ich öffne erneut die Augen. Sie beugt sich auf der anderen Bettseite über mich, wirft Marcel einen freundlichen Blick zu, betrachtet mich kurz und nickt zufrieden. Ich sehe an ihrem runden, weichen Gesicht, dass sie noch sehr jung ist. Der aufdringliche Piepton verstummt und ich spüre sie an meinem Arm hantieren.

„Hallo, Fräulein Maddisheim. Schön, dass Sie wieder wach sind“, sagt sie mit einem freundlichen Lächeln. „Ich werde gleich dem Arzt Bescheid sagen. Er wird dann nach Ihnen sehen.“

Nach einem zufriedenen Blick auf die Apparaturen verschwindet sie wieder.

Ich sehe Marcel an und bin eigentlich froh, dass er bei mir ist. Aber wo sind meine Eltern? Ach ja, im Urlaub. Und wo ist Tim?

Tim! Was ist mit Tim? Warum ist er nicht an meiner Seite?

Der Gedanke an ihn beunruhigt mich und lässt mein Herz schneller schlagen. Ich verdränge die Erinnerung an ihn und richte alles auf das Hier und Jetzt. Die Auskunft, dass gleich der Arzt kommt, erscheint mir wie eine Drohung. Ich mag keine Ärzte. Ich will auch nicht krank sein und schon gar nicht in einem Krankenhausbett liegen.

Marcel hält weiter meine Hand und ich schließe einfach wieder die Augen.

Er hatte mich aus dem Labor geholt und mir und Tim somit das Leben gerettet. Mir kommt der seltsame Gedanke, dass mir nie mehr etwas passieren wird, wenn er nur in meiner Nähe bleibt. Er hatte mich sogar in dem versteckten Labor gefunden …

„Carolin, wie geht es dir?“ Marcel streicht mit seiner freien Hand erneut meine Haare zurück. Ich spüre seine zittrigen Berührungen und auch in seiner Stimme schwingt Unsicherheit mit.

Ich behalte die Augen geschlossen und kann ihm nicht antworten. Ich weiß nicht, wie es mir geht. Ich bin froh, dass ich noch lebe. Aber wenn ich die Erinnerung an das zulasse, was mich hierhergebracht hat, dann fühle ich mich schrecklich. Also tue ich lieber so, als schlafe ich wieder. In meinem Kopf ist allerdings alles wach. Wieder sehe ich Julian vor mir, mit irrem Blick und dem Messer in der Hand. Und Tim, der sich an das Bett gefesselt kurz vor dem Zusammenbruch befand und von Julian angeschrien wurde.

Julian brauchte etwas von Tim. Er meinte damit den Alchemisten Kurt Gräbler wieder auferstehen lassen zu können und Tim wollte ihm nicht helfen. Daraufhin hielt Julian mir ein Messer an den Hals und ich trat ihm zwischen die Beine, worauf das Messer mir in den Hals schnitt. Julian war entsetzt, weil ich noch nicht sterben durfte und Tim war entsetzt, weil ich zu sterben drohte.

Was war das alles konfus! Wollte Julian uns wirklich töten? Ich will das nicht glauben. Das erscheint mir wie ein Albtraum, der bei Tageslicht betrachtet einen anderen Anschein erweckt.

Dann fielen plötzlich Männer in den Raum ein und warfen Julian auf den Boden, und Marcel war da und trug mich die Treppe hoch ins Freie. Oh, Mann! All diese Erinnerungen möchte ich lieber aus meinem Kopf verbannen. Aber sie drängen immer wieder hoch. Und mit ihnen die grausame Frage, ob Julian wirklich zu einem Mord bereit gewesen war.

Ich kann ein Zittern nicht unterdrücken. Julian … was ist mit ihm geschehen? Und Tim? Wo ist Tim und hat er alles überstanden?

Diesmal beschwöre ich die letzten Minuten meiner Erinnerung absichtlich herauf. Tim hat geschrien, dass Julian mir helfen soll. Also lebt er. Wir beiden haben scheinbar das Ganze überstanden. Aber wollte Julian uns wirklich etwas antun? Hatte er mir nicht nach dem Schnitt etwas umgebunden, das die Blutung stillen sollte?

Das ist ein tröstlicher Gedanke, den ich festzuhalten versuche. Julian ist doch mein Bruder und nur dieser Kurt Gräbler Scheiß hat ihn so werden lassen. Alles andere will ich jetzt nicht denken. Ich brauche etwas, was meine geschundene Seele beruhigt und sie an das Gute glauben lässt.

Denken strengt an. Ich spüre Marcels warmen Hände, die meine halten und höre seine dunkle Stimme flüsternd flehen: „Bitte, Carolin. Rede mit mir! Oder drück meine Hand! Bitte!“

 

Seine Stimme ist mir so vertraut, sowie die Wärme seiner Hände und sein Geruch. Ich erinnere mich an all das, weil es immer da war, wenn ich kurz aus meiner lethargischen Versunkenheit erwacht war. Aber ich kann nicht mit ihm reden und will auch nicht seine Hand drücken. Ich will lieber schlafen und mich noch ein wenig in tröstliches Vergessen fallen lassen.

Ich spüre auf unseren Händen erneut einen Druck, und das leichte Kitzeln von Haaren. Gerne würde ich die Augen öffnen und nachsehen, was Marcel macht. Aber das ist auch anstrengend. Ich höre seine murmelnde Stimme nur noch von weit weg und dann gar nichts mehr.

Als ich das nächste Mal aufwache, ist Marcel nicht da. Aber meine Eltern sitzen mit unendlich sorgenvoller Miene an meinem Bett. Auf jeder Seite hockt einer von ihnen und diesmal halten sie meine Hände.

Mir fällt es etwas leichter, die Augen zu öffnen und offen zu halten.

„Mama!“, hauche ich, ohne wirklich einen Ton herauszubekommen. Ich versuche es noch einmal und bringe ein deutlicheres „Mama“ über die Lippen.

Ihr schießen Tränen in die Augen, und sie streicht mir mit zittrigen Fingern über das Haar. „Meine arme Kleine. Was ist nur geschehen?“, fragt sie mit tränenerstickter Stimme und Papa drückt meine andere Hand und sieht genauso entsetzt und traurig aus. „Wir sind so schnell gekommen, wie wir konnten.“

Hinter meiner Mutter erscheint nun eine andere Person und ich erkenne an dem weißen Kittel und der strengen Miene, dass es einer der Ärzte ist. Er dirigiert meine Eltern, die nur widerwillig meine Hände loslassen wollen, vom Bett weg und spricht mit ihnen. Ich höre ihn erklären, dass die Schnittwunde nicht sehr tief gewesen ist, ich aber viel Blut verloren habe und mir zwei Bluttransfusionen gegeben wurden. Außerdem bekomme ich immer noch eine Infusion gegen Schmerzen und zur Stabilisierung des Kreislaufs. Der Schnitt musste gesäubert und genäht werden. Dazu der Schock. Das andere bekomme ich nicht mehr mit, weil in diesem Augenblick Marcel an der kleinen Gruppe vorbei zu meinem Bett kommt und sich auf meine Bettkante setzt, als hätte er sie gemietet.

Er ist mir mittlerweile ein vertrauter Anblick. Aber ich sehe verunsichert zu meinen Eltern. Die reagieren aber nicht und ich frage mich, ob sie ihn gar nicht gesehen haben.

Dann geht der Arzt wieder und beide treten hinter Marcel.

Der nimmt meine Hand, und ich hätte sie ihm, unter dem Blick meiner Eltern, gerne entzogen. Aber auch darauf reagieren sie nicht. Es scheint für sie zu der normalsten Sache der Welt zu gehören, dass Marcel an meinem Bett sitzt und meine Hand hält. Das irritiert mich.

„Hey, du bist ja wieder wach“, höre ich Marcel leise raunen und sehe ihn lächeln. Ich mag es, wenn er lächelt. „Endlich ist der Schlauch weg. Jetzt geht es dir bald besser.“ Er drückt meine Hand und zieht sie an seine Lippen, die ich heiß und weich auf meiner Haut spüre. „Mann, bin ich froh“, raunt er und küsst sie erneut.

Ich versuche sie ihm zu entziehen, von diesen Vertraulichkeiten aufgeschreckt. Aber er hält sie eisern fest.

Mein Vater stellt sich hinter Marcel und erklärt: „Ja, sie ist eben wieder aufgewacht. Der Arzt sagt, dass dies erst mal die letzte Infusion ist. Endlich haben sie die anderen Schläuche entfernt. Davon ist sie wohl wach geworden.“

Ich sehe meinen Vater an, und meine Mutter … und dann in Marcels graue Augen, der wieder meine Hand an seine Lippen hält.

Verdammt! Was macht der denn?

Aber weder mein Vater noch meine Mutter scheinen irritiert über seine Anwesenheit oder das zu sein, was er mit meiner Hand anstellt. Das verwirrt mich mehr als das Gerede von irgendwelchen Schläuchen.

Mein Vater klingt mitgenommen, als er mir erklärt: „Marcel hat die letzten zwei Tage an deinem Bett gesessen und auf dich aufgepasst. Wir haben ihm so viel zu verdanken. Wenn er nicht gewesen wäre …“ Weiter kommt er nicht. Seine Stimme schlägt um und er sieht schnell zur Seite, damit ich seine aufsteigenden Tränen nicht sehe.

Mama schluchzt auch auf und dreht sich weg.

Ein ungutes Gefühl beschleicht mich und verdrängt den Schrecken, dass ich zwei Tage völlig weggetreten war und Marcel vor meinen Eltern eine Vertrautheit an den Tag legt, die mich irritiert. Die Schnittstelle an meinem Hals scheint sich schmerzhaft zusammenzuziehen und ich wage nicht die Frage zu stellen, die mir auf der Seele brennt. Was ist mit Tim? Was mit Julian?

Es ist Marcel, der erst von meiner Mutter zu meinem Vater und wieder zurück zu mir sieht und dann mit seiner tiefen, aber ruhigen Stimme erklärt: „Julian sitzt in Untersuchungshaft. Er kann dir nichts mehr tun. Und Tim liegt auch hier im Krankenhaus, kann aber bald schon wieder gehen.“

Ich sehe ihn an und bin überrascht, dass er so ruhig von Tim spricht.

„Ich war eben bei ihm“, erklärt er. „Es geht ihm schon wieder ganz gut. Obwohl seine Rippenprellung und seine blauen Flecken ihm bestimmt noch einige Zeit zu schaffen machen werden. Und er hatte Glück, dass sie ihn bei dem Brand schnell genug herausholen konnten.“

Tim! Oh Mann! Der Gedanke an ihn lässt es in meiner Brust ziehen. Und Marcel war zu ihm gegangen, um nach ihm zu sehen und um mich über seinen Zustand informieren zu können. Unglaublich!

Aber es geht Tim gut und er ist nicht schwer verletzt worden. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Aber was für ein Brand? Ich weiß nicht, was Marcel meint, will aber auch nicht nachfragen, weil ich mich nicht in der Lage sehe, mit Marcel über Tim und das Labor zu sprechen. Und Julian sitzt hinter Gittern und soll erst mal wieder zur Vernunft kommen. Der war völlig durchgedreht!

„Unser armer Julian. Es tut ihm bestimmt alles schrecklich leid. Ich weiß auch nicht, was da über ihn gekommen ist. Vielleicht waren es Drogen oder diese Tabletten, die er nehmen muss, die ihn so werden ließen“, schluchzt meine Mutter und mein Vater legt einen Arm um sie.

„Das finden wir schon heraus. Er war doch vor unserer Abreise noch ganz normal. Und an den Tabletten kann das nicht liegen“, knurrt mein Vater.

„Aber es muss etwas passiert sein, was ihn so durchdrehen ließ. Irgendjemand muss ihn so gegen alles aufgebracht haben. Er würde sonst nie …“, stammelt meine Mutter und wirft mir einen kurzen, fragenden Blick zu. Dann drückt sie sich wieder an meinen Vater, der sie fürsorglich in beide Arme schließt.

In meinem Kopf schwirrt es wie in einem Hornissenschwarm. Was für Tabletten muss Julian nehmen? Ich weiß nichts darüber. Nicht mal, dass Julian wegen irgendetwas in Behandlung war. Aber ich erfahre ja sowieso nie etwas und dass meine Eltern glauben, nur jemand anderes als Julian kann schuld an allem sein ist typisch.

Marcel sieht kopfschüttelnd auf und ich sehe Wut in seinen Augen wie flüssiges Silber aufglimmen. Er steht langsam von meiner Bettkante auf und ich habe das Gefühl, dass er wütend einiges klarstellen will. Schnell greife ich nach seiner Hand und halte ihn zurück, meine ganze Energie in diesen Griff legend.

Doch er scheint hier und jetzt meinen Eltern alles erzählen zu wollen.

Alle Kraft aufbietend, die ich aufbringen kann, ziehe ich ihn zu mir auf das Bett zurück. Er soll nicht tun, was er vorhat. Ich will keinen Ärger und meine Eltern werden ausflippen, wenn sie von den Träumen und allem erfahren.

Marcel sieht mich an und augenblicklich scheint sich die Wut in seinem Blick aufzulösen. Dass ich seine Hand halte und ihn an meine Seite ziehe, lässt alles andere scheinbar unwichtig werden. Er setzt sich wieder auf die Kante meines Bettes. Doch an seiner angespannten Haltung glaube ich so etwas wie Widerwillen zu erkennen, dass ich ihn nicht meinen Eltern die Meinung sagen lasse.

Ich greife in den Ausschnitt seines T-Shirts und ziehe ihn zu mir heran.

Er ist so perplex, dass er sich willig von mir ziehen lässt und mich unschlüssig mustert.

„Bitte, nicht jetzt. Ich kläre das schon“, sage ich leise und schiebe meine Hand in seinen Nacken, damit er sich nicht wieder aufsetzen kann und einen erneuten Angriff auf das Seelenheil meiner Eltern startet. Er muss einsehen, dass ich es ernst meine. Das ist mein Kampf. Nicht seiner!

Sein Gesicht verliert alle Härte und er stützt sich mit den Händen links und rechts neben meinem Kopf auf dem Kissen ab, sich ganz mir widmend. Sein Blick läuft über mein Gesicht und ich werde nervös. Schnell nehme ich meine Hand von seinem Nacken und will sie ihm auf die Brust legen, um wieder etwas Abstand zwischen uns zu bringen. Aber es ist zu spät. Er beugt sich vor und küsst mich. Ich fühle seine Lippen einen Moment auf meinen.

Ich schiebe ihn energisch von mir weg und starre ihn aufgebracht an. Was sollen meine Eltern denn denken? Marcel ist echt peinlich und spinnt wohl völlig!

Dem ist meine Reaktion nicht entgangen. Langsam setzt er sich auf und sieht mich verwirrt an.

Ich starre an ihm vorbei zu meinen Eltern und erwarte ein Donnerwetter.

Aber die haben mit sich selbst zu kämpfen. Mein Vater lässt gerade meine Mutter los und sie wischt schnell über ihre Augen. Dann dreht sie sich zu mir um und lächelt schwach. „Weißt du, wir haben sofort unseren Rückflug gebucht, als die Polizei uns anrief. Sie hatte mit Christiane zusammen unsere Adresse aus deinem Zimmer geholt und so konnten sie uns verständigen. Christiane ist so ein liebes Mädchen!“ Dann erzählt sie von dem Rückflug, den sie mit einigen Schwierigkeiten umbuchen konnten und geben noch zum Besten, wie ihr Urlaub war. Sie scheinen einfach das andere Thema nicht mehr anschneiden zu wollen. Sie möchten es lieber verdrängen. Aber so kenne ich sie ja.

Das Ganze ist anstrengend und ich fühle mich allmählich mit all dem völlig überfordert. Meine quasselnden Eltern und dazu noch Marcel, der mich sogar vor ihnen geküsst hat. Das ist alles zu viel für mich. Er hat Glück, dass sie das nicht mitbekommen haben.

Ich werfe ihm erneut einen mürrischen Blick zu.

Er sitzt nur da und scheint dem Redeschwall meiner Eltern nicht folgen zu wollen. Er hält nur meine Hand und spielt mit meinen Fingern, als wäre er mit meiner Hand allein.

Ich versuche mich auf meine Eltern zu konzentrieren, denn Marcels Anblick beunruhigt mich. Wenn ich in sein Gesicht sehe, glaube ich eine tiefe Traurigkeit darin zu sehen. Bestimmt versteht er nicht, wieso meine Eltern so eine Sicht auf die Dinge haben und nun die Verdrängungstaktik fahren. Ich hoffe, sie gehen bald und ich kann mit ihm darüber reden. Ihr Getue ist für mich nicht so schlimm, wie er denken muss. Meine Eltern waren nie gut in Problembewältigung gewesen und Helden, wenn es um Verdrängung und Vertuschung geht. Aber das weiß Marcel natürlich nicht. Er weiß gar nichts von uns. Dass er überhaupt hier ist, finde ich immer noch seltsam und unerklärlich. Auch wenn er die Polizei zu dem Labor führte, und somit Tim und mich rettete, ist das noch lange keine Eintrittskarte in unsere Familie und mein Leben.

Ich schließe kurz die Augen und weiß, ich habe da nicht ganz recht. Es gibt da etwas, was aus Marcel herausbrach, als er glaubte, dass ich in seinen Armen sterbe.

Aber daran will ich jetzt erst recht nicht denken.

Als meine Eltern alles von ihrem Urlaub und ihrem Rückflug und der Fahrt hierher erzählt haben und es nichts mehr zu erzählen gibt, außer der Geschichte von Julian und mir, entsteht eine Stille, in der wir uns nur ansehen. Sogar Marcel sieht von meiner Hand auf und schaute sich um, als wird ihm gerade erst bewusst, wo er sich befindet. Sein Blick versetzt mir einen Stich.

Meine Mutter wird nervös. Sie will nicht über Julian sprechen und auch nicht über das, was passiert war. Aber worüber kann man sonst reden?

Mein Vater durchbricht die Stille, kurz bevor ich sagen kann, dass ich müde bin und sie ruhig nach Hause fahren können. Sie haben bestimmt noch einiges auszupacken.

„Seit wann kennt ihr beiden euch eigentlich?“ Dabei richtet er das Wort an Marcel.

Der sieht meinen Vater irritiert an. Dann antwortet er langsam, als müsse er erst jedes Wort gut überlegen: „Seit einigen Wochen.“

„Und wie habt ihr euch kennengelernt?“, fragt meine Mutter, der scheinbar das neue Thema gefällt.

„Ich gehe mit Julian zusammen in den Fußballverein“, antwortet Marcel und hört verunsichert wieder auf.

Doch meine Eltern wirken gefasst. Sie nehmen sich nur an die Hand. Die Erwähnung von Julians Namen bringt ihr Verdrängungsgerüst nur leicht ins Wanken. „Und der stellte mich dann Carolin vor.“ Mehr sagt Marcel nicht und meine Eltern sehen erst sich und dann mich an.

 

„Naja, und wir sind halt zusammen ins Kino gegangen und so“, ergänzt Marcel, wobei er offenlässt, ob das Zusammen nur mich und ihn betraf oder auch Julian.

„Ah, schön“, antwortet meine Mutter daraufhin nur und sieht meinen Vater wieder an, als solle er etwas Originelleres hervorbringen. Doch der sagt gar nichts.

Ich nutze die Gelegenheit. „Ich bin noch ganz schön müde und möchte noch ein wenig schlafen“, murmele ich, die wieder entstandene Pause nutzend. Ich schlucke schwer und fühle, dass mein Hals trocken ist: „Ich glaube, ich brauche noch ein wenig Ruhe“, raune ich und fasse an den Verband um meinem Hals.

„Sollen wir gehen?“, fragt meine Mutter sofort und bekommt wieder einen weinerlichen Stimmwackler.

„Ihr müsst doch bestimmt noch eure Koffer auspacken“, sage ich und hoffe, dass sie das als passenden Aufhänger nehmen wird.

„Du hast recht. Die Koffer sind noch im Auto. Wir sind vom Flughafen gleich hierhergefahren, um nach dir zu sehen. Und morgen werde ich Julian versuchen zu erreichen. Man wird doch wohl seine Mutter mit ihm sprechen lassen“, jammert meine Mutter aufgebracht.

„Da wäre ich mir nicht so sicher“, antwortet mein Vater nur und kommt um das Bett herum zu mir, um mir einen Kuss auf die Stirn zu geben. „Sollen wir wirklich schon gehen? Können wir noch irgendetwas für dich tun? Brauchst du noch etwas?“, stammelt er und ist richtig unglücklich, dass ich sie wegschicke.

„Nein, ich brauche nur noch etwas Zeit zum Ausruhen.“

„Dann schlaf gut, Kleines. Morgen kommen wir wieder. Und mach dir keine Sorgen …“, sagt mein Vater.

Ich habe keine Lust mir Gedanken darüber zu machen, was mein Vater meint. Aber Julian gehört nicht zu denjenigen, um die ich mir Sorgen mache. Er ist schließlich nicht allein. Er hat doch seinen Kurt bei sich.

„Bis morgen, mein Schatz und schlaf gut“, murmelt meine Mutter und lässt sich dann von meinem Vater regelrecht aus dem Zimmer führen. Sie scheinen ein Problem damit zu haben, mich erneut allein zu lassen. Aber schließlich ist das ja nur bis morgen und nicht einen Urlaub lang und ich kann sie einfach nicht länger ertragen.

„Tschüss, Marcel!“, rufen beide noch wie aus einem Mund.

„Und danke!“, fügt mein Vater noch hinzu und lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Er scheint erleichtert zu sein, dass Marcel bei mir bleibt und das mit mir weiter meistern will. Als wäre ich ein Problemfall.

Marcel! Ich sehe ihn verunsichert an.

„Puh, sind Eltern anstrengend“, versuche ich die Stimmung etwas zu lockern, die sich drückend auf uns legt. Es ist komisch, ihn an meiner Seite zu haben. Ich weiß gar nicht richtig wie ich damit umgehen soll.

Marcel steht auf und geht zum Fenster. Langsam senkt sich die Dämmerung über das Krankenhaus und die kleine Stadt. Ich schlucke wieder und spüre ein trockenes Reiben in meinem Hals.

„Soll ich auch gehen?“, fragt Marcel leise und ohne mich anzusehen. Seine Stimme hat einen tieftraurigen und resignierten Unterton, der mich verwirrt.

„Warum?“, frage ich heiser zurück. Das Reden tut mir nicht gut.

„Du sagtest, du bist müde. Das klingt wie ein Rausschmiss.“ Langsam dreht Marcel sich um und sieht mich an. Er wirkt niedergeschlagen und ich könnte wetten, wenn er seine Kappe in der Nähe hätte, dann würde er sie sich jetzt tief ins Gesicht ziehen.

Ich habe das Gefühl ihm einiges erklären zu müssen.

„Komm her.“ Ich klopfe auf die Bettkante, damit er sich zu mir setzt und ich nicht so laut reden muss. „Ich wollte nur meine Eltern loswerden.“ Das Sprechen wird immer schwieriger und ich weiß, viel bringe ich nicht mehr heraus.

Langsam kommt Marcel zum Bett zurück und setzt sich wieder. Doch er nimmt nicht meine Hand oder versucht sonst eine Annäherung.

Ich bin froh darüber. Mir ist selbst nicht ganz klar, was ich eigentlich von ihm und allem halten soll. Aber sein niedergeschlagener Gesichtsausdruck berührt mich doch irgendwo in meinem tiefsten Inneren.

Ich taste nach der Fernbedienung, die an einem Kabel über meinem Bett hängt und Marcel greift ein. „Soll ich das Kopfteil etwas hochfahren?“

Ich nicke und bin froh, dass er mir hilft. Mir ist wichtig, dass ich ihm in die Augen sehen kann, wenn ich ihn über meine Eltern und ihr seltsames Verhalten aufkläre. Und vielleicht fällt mir dann das Sprechen leichter. Außerdem hoffe ich, dass ich so etwas trinken kann.

Auf meinem Tisch stehen ein Glas und eine Wasserflasche. Ich greife danach, aber Marcel kommt mir zuvor. Er gießt Wasser in das Glas und reicht es mir, den Kopf schüttelnd. Seine Augen funkeln aufgebracht und er raunzt: „Sag doch etwas, wenn du was brauchst. Oder ist das auch schon zu viel?“

Ich sehe ihn beunruhigt an. Ist er wütend auf mich?

Ich trinke unbeholfen einige Schlucke und spüre die Linderung in meinem Hals. Das Glas reiche ich verunsichert Marcel, der es wieder auf den Tisch zurückstellt. Er sieht dabei immer noch so niedergeschlagen aus.

Ich kann seinen Blick kaum ertragen. Es rührt sich etwas in mir, dass ich nicht einschätzen kann.

Das ist alles so anstrengend und ich fühle mich schon wieder erschöpft. Aber ich möchte nicht, dass Marcel so aufgebracht und wütend ist. So versuche ich ihm zu erklären: „Du musst meinen Eltern nicht böse sein, sie wussten nichts von Julians seltsamen Anwandlungen. Sie wissen noch nicht mal, dass er genauso unter schrecklichen Träumen leidet wie ich. Sie wissen von nichts wirklich etwas und können somit auch nichts verstehen. Aber ich werde ihnen irgendwann alles erzählen“, verspreche ich ihm und glaube ihn damit zu beruhigen.

Marcel sieht mich groß an. „Warum glaubst du, dass ich wütend auf deine Eltern bin? Sie sind einfach nur dumme Eltern. Man kann von ihnen im Allgemeinen nicht viel erwarten“, brummt er.

Ich sehe ihn irritiert an und nehme alle meine Kräfte zusammen. „Aber du wirktest auf einmal so traurig und ich dachte, es liegt an meinen Eltern - weil sie so tun, als wäre Julian das arme Opfer von irgendwas und völlig unschuldig“, erkläre ich verunsichert.

Marcel steht wieder vom Bett auf und geht zum Fenster. Er blickt hinaus und ich bin noch irritierter.

„Deine Eltern sind mir scheißegal“, knurrt er mit einem störrischen Unterton in der Stimme, den ich an ihm gar nicht vermutet hätte. Was ist bloß mit ihm los? Ich kann mir darauf keinen Reim machen.

„Aber was ist es dann?“, frage ich.

Marcel dreht sich langsam um und sieht mich mit einem herzerweichenden Hundeblick an. „Ich weiß nicht, was ich noch tun soll“, höre ich ihn resigniert sagen.

Er schaut auf seine Hände und ich warte auf das, was noch folgen muss. Doch es kommt nichts.

Vorsichtig frage ich nach: „Was meinst du damit?“

Langsam kommt er zu meinem Bett zurück und setzt sich auf die äußerste Kante des Bettrandes, als wolle er jederzeit zur Flucht bereit sein. Sein Blick wirkt verdrossen und sein Gesichtsausdruck angespannt. Seine Hände krallen sich in die Bettdecke und ich bin mir nicht sicher, was nun folgen wird.

„Ich kann tun, was ich will, du …“ Er schüttelt resigniert den Kopf, wendet den Blick ab und sieht zu Boden.

Mir fällt es wie Schuppen von den Augen. Marcel rettet mir das Leben und verbringt jede freie Minute an meinem Krankenbett und ich zeige ihm keine Sekunde so etwas wie Dankbarkeit oder dass mir das etwas bedeutet. Als er mich aus dem Labor nach oben getragen hatte, sprach er sogar davon, dass er mich liebt. Und alles was vorher war … auch da hatte Marcel mir immer gezeigt, dass ich ihm etwas bedeute. Ich muss an die Nacht denken, als ich bei ihm Zuhause war, er sich stundenlang meine Geschichte anhörte, mich die halbe Nacht tröstend in seinen Armen hielt und wie er mich morgens an sich zog und küsste.

Ich sehe in sein trauriges Gesicht, das noch immer den Blick gesenkt hält, als hätte er Angst, zu viel von sich preiszugeben, wenn ich in seine Augen sehe.

„Ich kann dir nicht mal einen kleinen Kuss geben“, nuschelt er leise, als solle ich das eigentlich gar nicht hören und seine Stimme zittert leicht. „Und ich dachte, nach der Nacht bei mir …“ Er schließt die Augen und verzieht das Gesicht, als verspüre er einen stechenden Schmerz und dreht den Kopf zur Seite.

Mir fällt die Szene mit dem Kuss wieder ein, den er mir auf den Mund gehaucht hatte und der mir vor meinen Eltern so unendlich peinlich war. Dabei hatten sie das noch nicht einmal gesehen. Die waren viel zu beschäftigt mit sich selbst.

Mir fällt auch die weitere Reaktion von Marcel ein und mir wird klar, warum er die ganze Zeit so traurig dagesessen hatte. Er glaubt, dass er mir völlig egal ist und dass nichts, was er für mich tut, eine Bedeutung für mich hat.