Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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Das Vermächtnis aus der Vergangenheit
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Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

Teil 1: Die Träume

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Fluch des Alchemisten

Eine seltsame Begegnung

Unglaubliche Familiengeheimnisse

Ein seltsamer Besuch

Das Labor des Kurt Gräbler

Die Aufzeichnungen des Kurt Gräbler

Verwirrende Gefühle

Marcels Rolle

Unser letzter Kampf

Impressum neobooks

Der Fluch des Alchemisten

Ein schöner, warmer Frühlingstag lässt die Welt vor meinem Zimmerfenster leuchten. Aber ich sehe nichts davon, weil sich in meinem Kopf immer noch erschreckend Gedanken und Gefühle überschlagen. Es fällt mir schwer, mich zu beruhigen und zu kapieren, was mir heute passiert ist.

Aber kann man das überhaupt?

Konfuse Empfindungen reihen sich turmhoch aneinander, ohne wirklich Sinn zu machen und dennoch will etwas in mir das heute Erfahrene wie eine Erinnerung akzeptieren.

Ich versuche verzweifelt, das nicht geschehen zu lassen. Aber es lässt sich nicht mehr länger ignorieren, dass es da etwas in meinem Leben gibt, dass nicht normal ist, und dass das, was ich heute erfuhr, einen Wahrheitsgehalt hat.

Erschreckend!

Ich hielt mich eigentlich immer für ein Mädchen wie alle anderen - normalgewichtig mit Hang zu selbst erdachten Problemzonen, nicht besonders groß, hellblondes, welliges Haar und blaugrüne Augen. Ungewöhnlich sind höchstens meine Sommersprossen, die je nach Jahreszeit mein Gesicht mal mehr oder weniger bevölkern.

Das da etwas in mir ist, das mich von einem normalen Teenagerleben abzuhalten versucht und das niemand bei mir ahnt, versuchte ich immer irgendwie zu ignorieren. Es ist dieses Wissen von etwas, das tief in mir zu stecken scheint und doch bisher keine richtige Möglichkeit fand, ans Tageslicht zu brechen. Es ließ mich bisher nur seltsame Dinge fühlen, schreckliche und unglaubliche Träume träumen und förderte manchmal ein Wissen aus einer längst vergangenen Zeit ans Licht, das ich gar nicht haben dürfte.

Bisher machte ich deswegen nicht viel Aufhebens und versuchte mein Leben so normal wie möglich zu führen, um alle um mich herum, und mich selbst am meisten, zu täuschen.

Das gelang mir bisher wirklich gut. Schließlich kann ich es weder benennen, noch kann ich es als etwas Greifbares definieren, obwohl mir natürlich klar ist, dass es mich bisher immer irgendwie aus meinem Inneren heraus zu manipulieren versuchte.

Ich schaffte das all die Jahre einigermaßen zu ignorieren.

Bis zum heutigen Tag.

Heute wurde mir etwas enthüllt, dass nicht nur erschreckend ist, sondern in mir etwas freikratzt wie einen eitrigen Pickel.

Ich gehe in die neunte Klasse der hiesigen Hauptschule, verbringe aber meine Zeit nur mit Mädchen aus der Realschule. Warum das so ist? Die Mitschüler aus meiner Klasse mögen mich nicht.

Beide Schulen sind nur durch eine Straße getrennt und haben einen gemeinsamen Busbahnhof. Doch eigentlich verkehren die Schüler ansonsten nicht miteinander.

Na ja, ich bin halt eine Ausnahme und in meiner eigenen Klasse behandelt man mich, als käme ich von einem anderen Stern.

Meine Lehrer haben es mittlerweile aufgegeben, mich integrieren zu wollen. Und mir etwas beizubringen auch. Ich bin schlecht in Rechnen und meine Rechtschreibung ist auch eine einzige Katastrophe. Irgendwie scheint mein Kopf nur bestimmtes Wissen zuzulassen. Somit wirke ich einerseits dumm und unzurechnungsfähig und andererseits haue ich alle mit überragendem Wissen in bestimmten Bereichen um. Ganz wie meine Tagesform es vorgibt, um was es geht … und was in mir gerade Oberhand hat. Oder sollte ich besser sagen, wer von mir?

Dieses seltsame Drunter und Drüber in meinem Kopf und in meiner Seele - ich will es mal vorsichtig so nennen - ist im Grunde genommen schon mein ganzes Leben lang da. Ich glaubte eigentlich immer, dass es ein normales Gefühl der heutigen Heranwachsenden ist. Doch Gespräche mit anderen meiner Altersgruppe zeigten mir, dass die nur Probleme mit Pickeln, Jungen und Stress mit den Eltern haben.

Auch meine Leipziger Brieffreundin konnte bisher von mehr nicht berichten.

Doch das sind alles Dinge, denen ich mich nur wenig widme, weil ich halt, wie gesagt, mit Problemen in meinem Inneren einen ständigen Kampf ausfechte.

Dennoch glaubte ich bisher, dass alles irgendwie im Griff zu haben. Ich war überzeugt, ein halbwegs normales Leben zu führen, und dass diese seltsame Ader in mir mich nicht in Gefahr bringt.

Doch in diesem Augenblick, zitternd und vollkommen verunsichert in meinem Zimmer in diesem Haus stehend, quält mich die Angst, mich gewaltig getäuscht zu haben. Denn heute erfuhr ich etwas über mein Zuhause und meine Familie, dass mich einerseits entsetzt und mir andererseits das Gefühl gibt, das alles schon längst zu wissen. Ich ignorierte das nur bisher.

Aber ich muss nun einsehen, dass ich das nicht mehr tun sollte. Dass es sogar gefährlich sein könnte, dass zu tun.

Zumindest hat der heutige Tag mir dahingehend einige Einsichten gebracht, die ich nun irgendwie zu verstehen versuche.

Als wir vor fünf Jahren in dieses Haus in Westrup zogen, schien keiner aus meiner Familie von einer Veränderung seines Wesens betroffen zu sein, außer mir. Meine Eltern waren so spießig, wie schon mein ganzes Leben lang und mein Bruder Julian so strebsam. Keiner schien zu spüren, dass etwas Seltsames diesen Ort umgibt. Aber all meine innerliche Zerrissenheit und meine Ängste schienen nach unserem Umzug in dieses Haus und mit jedem daraufhin verstreichenden Jahr an Intensität zu gewinnen.

Zumindest glaube ich, dass dieses Gefühl und dessen Auswirkungen erst hier in diesem Haus zugenommen haben.

Ich bemühte mich, es als gegeben hinzunehmen und nicht zu viel Aufhebens darum zu machen, was in mir tobt. Denn aus irgendeinem Grund habe ich Angst, dass jemand aus meiner Familie davon erfahren könnte. Warum das so ist, kann ich allerdings nicht sagen. Etwas in mir warnt mich einfach davor.

So bemühe ich mich mit jedem neuen Tag meines Lebens, die alltäglichen Probleme zu meistern, die Sorgen und Nöte meiner Freundinnen zu teilen und niemanden merken zu lassen, dass ich eigentlich innerlich einer Zeitbombe gleiche.

Ich gebe vor, ein normales Mädchenleben zu führen und passe mich den Problemen meiner Mitschülerinnen an. Und da herrscht mittlerweile vornehmlich ein Thema vor, bei dem ich mit Weisheiten eher passen muss.

Ich bin zwar mit meinen siebzehn Jahren älter als meine Freundinnen, aber alle können mehr Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht vorweisen als ich, was ich nicht unbedingt als schlimm empfinde, warte ich doch auf den Richtigen.

Das erwähne ich auch jedes Mal, wenn dumme Sprüche aufkommen, weil mir einfach das Interesse an den hiesigen Jungen fehlt.

Und es gibt etwas in mir, das mir sagt, dass es ihn gibt. Irgendwo. Und ich muss auf ihn warten.

Noch so ein verrückter Punkt, der tief in mir verankert zu sein scheint. Es gibt nur den einen für mich und ich werde ihm irgendwann begegnen.

Also, wir zogen vor fünf Jahren in dieses Haus, nachdem wir es erst einmal bewohnbar machen mussten. Schließlich hatte es über zwanzig Jahre leer gestanden.

Eine lange Zeit, fand ich damals und glaubte kaum, dass man je in diesem Anwesen leben könne.

Aber meine Eltern waren fest dazu entschlossen und ich muss ihnen zugestehen, dass sie mich überraschten. Das Haus wurde wirklich schön und es lässt sich wunderbar darin leben, wenn man nicht an das abergläubische Geschwätz der Einheimischen glaubt. Die hatten das Haus Jahrzehnte gemieden, weil sie sich vor etwas fürchteten, dass es nicht gibt. Zumindest lebt hier kein Geist, wie man das im herkömmlichen Sinne vermuten würde. So einer mit herumspukender Gestalt, Schritten in der Nacht auf unbewohnten Dachböden oder so.

Als ich mit der Angst der Einheimischen konfrontiert wurde, fragte ich meine Mutter danach. Aber auch sie tat das Ganze als Unfug ab. Schließlich hatte unsere Familie, und meine Mutter im Besonderen, zu der Zeit noch ganz andere Tragödien zu verdauen, die uns überhaupt erst den Besitz dieses Hauses beschert hatten. Und das waren völlig irdische Probleme, die bestimmt irgendwann einmal in jeder Familie vorkommen.

Nach dem Tod von Mamas Onkel Otto, der ein Bruder ihres Vaters Willy war, wurde sie testamentarisch von diesem Onkel mit diesem Haus bedacht.

Warum sie? - fragten wir uns alle. Warum bedachte Onkel Otto, statt seinen Bruder, dessen Tochter mit dem Erbe?

Bei der Testamentseröffnung, der meine Eltern, einige mir fremder Leute, ich und mein Bruder Julian sowie Oma Martha und Opa Willy beiwohnten, verlas ein Notar dann das Testament dieses besagten Onkel Ottos, den ich persönlich nur sehr selten zu Gesicht bekommen hatte. Darin ernannte er meine Mutter Sophie als „seine Tochter“ zur Alleinerbin.

 

Oma Martha und Opa Willy saßen regungslos und wie versteinert eine Reihe vor mir.

Ich weiß noch genau wie ich meinen Bruder verblüfft angesehen hatte. Meine Mutter sollte die Tochter von Opa Willys Bruder sein? Somit also unser Opa gar nicht unser Opa!

Opa Willy war damals aufgesprungen und hatte mit seiner tiefen Stimme losgetobt, dass alles erstunken und erlogen sei.

Oma Martha, schon erschreckend wackelig auf den Beinen, stand ebenfalls auf und klärte die gesamte Gesellschaft mit ruhiger Stimme auf, dass der tote Otto recht hat. Sophie war seine Tochter und nicht die von Willy, unserem bisherigen Opa.

Der wurde direkt vor uns blass, stieß ein Krächzen aus, griff sich an die Brust und sank in sich zusammen.

Bei seiner Beerdigung, die keine zwei Wochen nach der von Otto stattfand, folgte ihm meine Oma. Sie brach bei der ergreifenden Ansprache des Pfarrers zusammen.

Wir waren alle wie vom Schlag getroffen und spürten so etwas wie den Fluch Gottes, der über unserer Familie zu schweben schien. Zumindest kam es mir da so vor, obwohl ich mich gerade im zarten Alter von zwölf Jahren befand. Damals wurde ich aber schon von eigenartigen Wahrnehmungen und Träumen heimgesucht, die sich aber immer nur wie ein Wurm in meinem tiefsten Inneren zu rühren schienen.

Natürlich hielt ich das vor allen möglichst geheim.

Mein Vater wollte das geerbte Haus verkaufen, aber meine Mutter nicht. Sie schien sich über die Bruchbude wirklich zu freuen und hing all ihre Liebe und Arbeitskraft in das verfallene Anwesen dessen Mannes, den sie zeitlebens als Onkel statt Vater kannte.

„Das Haus ist alt und im Moment noch unbewohnbar. Aber wir werden es etwas umbauen und schön einrichten und ihr werdet sehen, dass für uns damit ein wundervolles Leben im Eigenheim bevorsteht. Jeder bekommt sein eigenes Zimmer oder sogar zwei und wir haben eine riesige Werkstatt für Papa und für Julian einen Partyraum und viel Platz für Spielsachen und Tiere.“

Mit der riesigen Werkstatt und dem Partyraum zog sie Papa und Julian im Handumdrehen auf ihre Seite und mit den Tieren mich. Allerdings wurde nur aus der Werkstatt und dem Partyraum wirklich etwas. Ich bekam weder einen Hund noch ein Pony.

Als auch noch Oma bei Opas Beerdigung das Zeitliche gesegnet hatte, war es dann ganz vorbei mit meiner Mutter. Sie wurde vollends zu einer konfusen Schlafwandlerin, die nur der angehende Hausumbau weckte.

Also, im Sommer 2004, am Anfang der Sommerferien, zogen wir dort ein.

Das Haus ist gigantisch groß und wirklich nett hergerichtet. Wir hatten neu Wasser und Strom verlegt, neue Fenster einbauen lassen, die Fußböden neu gefliest, Wände neu verputzt, Decken neu eingezogen und ein neues Badezimmer eingebaut.

Aus der kleinen Wohnung in das große Haus zu ziehen war unglaublich und es machte mir den Schulwechsel erträglich. Unsere wenigen Habseligkeiten verschwanden in der endlosen Weite des Hauses und wir brauchten lange, bis wir uns daran gewöhnten. Einige Habseligkeiten verschwanden nach dem Umzug auch auf Nimmerwiedersehen.

Aber was machte das schon, wenn man plötzlich die Annehmlichkeiten von einem großen Haus auf dem Lande nutzen konnte.

Julian hörte laute Musik, bis die Wände wackelten und mein Vater begann sogar Kilos zu verlieren, nur weil er vom Wohnzimmer zur Küche aufbrach, um sich aus dem Kühlschrank ein Bier zu holen.

Ich bekam zwei Kätzchen und war eigentlich glücklich.

Doch bald erfuhr ich, was alle in dieser Gegend über das Haus dachten. Man sprach mich in der dritten oder vierten Woche nach unserem Einzug in dieses Haus darauf an.

Als ich auf den Bus wartete, rief mir aus einem Pulk von Jugendlichen ein Junge zu: „Hey du! Man muss schon verrückt sein, in dieses Haus zu ziehen. Aber da wohnten ja schon immer Verrückte.“ Er lachte etwas zu laut und fand sich dabei ganz witzig.

Scheinbar fanden die anderen seinen Spruch auch ganz gut.

Eines der Mädels aus unserer Nachbarschaft, die einige Schritte neben mir auch auf den Bus wartete, schaute mich herausfordernd an und erhoffte sich wohl eine Erwiderung meinerseits.

Da der Bus kam und ich schnell einstieg, blieb mir eine Erwiderung erspart. Aber zu meiner Überraschung setzte sich das Mädchen neben mich und klärte mich schnell auf: „Ihr bewohnt das Haus, in dem das Böse lebte. Das Haus, das den Tod bringt. Das Haus des Hexers von Ankum.“

Ich garantierte ihr mit einem unbeholfenen Lachen, dass weder ein Geist noch sonst etwas in dem Haus sein Unwesen treibt, und das war der Anfang einer ganz brauchbaren Freundschaft zwischen mir und Christiane.

Bald legte sich das Gerede, als alle sahen, dass wir ganz normal das Haus bewohnten und nichts uns nach dem Leben trachtete. Dass dieser Onkel Otto es so lange leer stehen gelassen hatte, überzeugte wohl alle, dass der Spuk vorbei war, von dem mir eigentlich niemand so richtig sagen konnte, warum diese Angst vor dem Haus eigentlich so fest in den Köpfen saß. Über den Hexer von Ankum wusste keiner näheres zu berichten und auch alle neugierigen Nachforschungen von Julian und mir verliefen im Sande. Keine Aufzeichnung aus dem Internet erbrachte, dass es hier jemals wirklich einen Hexer gegeben hatte oder mysteriöse Morde in diesem Haus geschehen waren, die einen Geisterwahn gerechtfertigt hätten. Julian war sowieso von Anfang an der Meinung, dass die Einheimischen spinnen. Er wollte mir nicht mal helfen, etwas darüber herauszufinden und schmetterte auch schnell alles ab, was ich vielleicht noch für interessant hielt und weiterverfolgen wollte. Er lachte mich sogar deshalb aus.

Also beließ ich es dabei, wenn auch seit dem Einzug in das Haus mein Innerstes sich immer mehr zu wandeln begann und eine innere Unruhe mich stärker als bisher plagte. Etwas in mir schien die Vergangenheit nicht ruhen lassen zu wollen.

Einige Monate nach dem Einzug begann ich sogar von der Vergangenheit zu träumen und sah Dinge, die weit zurücklagen und die diesen Ort betrafen. Diese Träume machten mir natürlich Angst und ich verdrängte sie, sobald ich die Augen für einen neuen Tag öffnete.

Ich sprach mit niemand darüber. Denn irgendwie war da etwas in mir, das mich davor warnte, mich mit meiner Umwelt darüber auszutauschen. Etwas, das ich aber nicht benennen konnte.

Und dann gab es heute diesen Vorfall in der Schule, der mich immer noch innerlich erzittern lässt. Denn heute erfuhr ich von einem weiteren Stück Familienchronik aus vergangenen Zeiten, das so unvorstellbar und erschreckend wie unglaubwürdig erscheint und doch wirkt es auf mich, als öffnete man das erste Türchen eines Adventkalenders und ließ tief verborgenes Wissen heraus.

Also, heute Morgen fuhr ich wie jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Bushaltestelle. Ich war da noch wirklich gut gelaunt gewesen und nichts schürte in mir die Unruhe, da ich seit zwei Wochen keine seltsamen Träume hatte. Mein tiefstes Innere war zu der Zeit noch glücklich und zufrieden angesichts des vor uns liegenden schönen Frühlingtags.

Christiane war spät dran und erreichte den Bus gerade, als ich schon einstieg. Im Bus trafen Christiane und ich dann auf die ersten Mädchen, die uns lauthals begrüßten. Aber Christiane wollte nur schnell einen Platz suchen und zog mich neben sich in einen Sitz, um mir das Neuste von einem Jungen aus ihrer Klasse zu erzählen. Der wickelte angeblich reihenweise Mädchen um den Finger, wie Christiane abfällig bemerkte. „Weißt du, der hat jede Woche eine andere und jetzt ist diese Tanja dran. Ich sage es dir … ausgerechnet die! Die war noch bis vor 2 Tagen mit diesem komischen Thomas zusammen.“

Es war schon witzig. Ohne dass sie es mir sagte, wusste ich, dass sie bei diesem Möchtegern Casanova auch zu gerne mal zum Opfer werden wollte.

Nadine, ein Mädchen mit langem, dunkelbraunem Haar und Pferdegebiss, beugte sich über unsere Rückenlehne zu uns herunter und bestätigte mir meine Vermutung. „Ach, du meinst Felix, mit dem du letzte Woche so oft telefoniert hast?“

Ich sah Christiane an, die bis zum Scheitel rot anlief. Sie hatte nicht erwähnt, dass es einen Jungen gab, mit dem sie in letzter Zeit viel telefonierte.

Weil wir auf den Busparkplatz an den Schulen vorfuhren, kam Christiane dann aber um eine Erklärung herum, zu der sie sich sicher genötigt gefühlt hätte.

Wir verabschiedeten uns und gingen zu unseren getrennten Schulen. Ich in die Hauptschule und Christiane mit den anderen Mädchen in die Realschule.

In meiner Schule lief dann alles wie gewohnt, bis zur letzten Stunde. Da bekamen wir einen Vertretungslehrer für unsere Geschichtsstunde.

Statt des sonst so schmucken Lehrers kam ein veralteter Professor in die Klasse geschlurft, der aus einer anderen Epoche zu stammen schien. Woher sie diese Mumie ausgegraben hatten und warum sie den gerade auf uns losließen, erfuhren wir im gleichen Zuge.

Wir starrten den alten Mann mit den sehr wenigen Haaren und einer dicken Brille auf der schiefen Nase, die die Poren der Haut so groß erscheinen ließ, dass man glaubte in Krater zu sehen, fragend an. Die Augenbrauen waren so wuschelig und über der Nase zusammengewachsen, dass die Brille nur halb vor die Augen passte, und aus den Nasenlöchern ragten karge, stachelige Haare hervor.

Das alles sah ich aber nur so genau, denn mir rückte der Alte am Ende der Stunde dermaßen auf die Pelle, dass mir das Grausen kam.

Aber greifen wir mal nicht vorweg.

Also dieser Professor Knecht schrieb mit kreischender Kreide seinen Namen an die Tafel und setzte sich hinter den Schreibtisch. Dann ließ er seine riesigen, reptilienhaften Augen über die Reihen von Schülern gleiten.

Als er alle begutachtet hatte, räusperte er sich, krächzte etwas von einem Museum, der Heimat und vergangener Geschichten, und dass er immer auf der Suche nach Wahrheiten und Aufklärungen ist. Doch manchmal, so erklärte er, sprang er auch als Lehrer ein, wenn mal Not am Mann war, was das Fach Geschichte betraf. Er versicherte uns, dass er das sehr gerne tat und dass ihm die Zusammenarbeit mit jungen Menschen Spaß macht.

Seine durch die Brille hervorgehobenen, riesigen Augen liefen wie Brenngläser über unsere Köpfe hinweg und ließen seine Worte etwas unglaubwürdig erscheinen. An mir blieben sie einen Moment hängen und verengten sich bedrohlich. Dann keuchte er eine Seitenzahl aus unserem Geschichtsbuch und wartete, bis alle das Buch aus dem Schulranzen auf den Tisch gezerrt hatten. Er krächzte genauso unfreundlich: „Füller raus und die Seite abschreiben. Ich möchte eine saubere und leserliche Arbeit in ungefähr …, “ er suchte nach seiner Uhr in der dichten, grauen Wolle auf seinem Arm, „… einer halben Stunde.“

Alles stöhnte und seufzte und doch war da etwas an dem Alten, das keinen Widerspruch duldete, wie es sonst so oft in unserer Klasse praktiziert wurde.

Bald hörte ich das Kratzen der Füller und schrieb selbst fleißig die Sätze ab, die uns einen Einblick in den Zweiten Weltkrieg geben sollten. Ein Thema, das ich eigentlich hasse wie die Pest. Denn ich habe oft schreckliche Albträume vom Krieg, Soldaten und dem Tod.

Als ich kurz aufsah, um festzustellen, was der alte Professor die ganze Zeit macht, sah ich ihn mit zuckenden Augenlidern das Klassenbuch studieren.

Plötzlich sah er auf und mir direkt ins Gesicht.

Entsetzt senkte ich die Augen wieder auf mein Heft. Irgendwie durchzuckte mich sein Blick wie ein Blitz. Als ich wieder vorsichtig aufzusehen wagte, starrten mich diese großen Froschaugen immer noch an und in dem alten Gesicht schienen die Muskeln ein Eigenleben zu entwickeln.

Wieder blickte ich schnell auf mein Heft und schrieb weiter. Irgendwie hatte ich Angst, sonst noch einmal ungewollt in dieses Gesicht zu blicken und erneut darin diesen erschreckenden Ausdruck blanken Hasses zu sehen.

Als die ersten ihre Hefte abgaben, waren etwa zwanzig Minuten vergangen. Noch zehn Minuten später sprang der Alte auf und ging in einem behänden Schritt, den ihm keiner mehr zugetraut hätte, zu den Tischen noch schreibender und entriss ihnen die Hefte.

„Genug, genug“, krächzte er. „Die Zeit ist um. Wer nicht alles geschafft hat, bekommt eine Sechs.“

Auch mir entriss er das Heft, obwohl ich es ihm mit leicht zitternden Händen schon entgegenhielt. Dabei zuckten seine blassen Lippen und entblößten gelbe Zähne. „Du kommst an meinen Tisch“, krächzte er und hechtete zu seinem Pult zurück, als wäre ein tollwütiger Hund hinter ihm her und wolle ihn in seinen knochigen Hintern beißen. „Ihr anderen könnt gehen.“

 

Alle sprangen überrascht auf und packten in Windeseile zusammen, als hätten sie Angst, der Alte könne es sich noch einmal überlegen. Die Stunde beendete der Professor zehn Minuten zu früh, und das hieß vor allen anderen beim nahen Einkaufsladen zu sein und sich ein Brötchen oder Süßigkeiten holen zu können.

Ich war beunruhigt. Es gab in dieser Klasse niemanden, der auf mich warten wollte. Also hieß das, ich würde in Kürze mit der Mumie allein in diesem Raum sein. So beschloss ich einfach auch zu gehen. Schließlich war der Alte nur eine Vertretung und konnte einem nichts. Oder zumindest wollte ich so tun, als hätte ich ihn eben gar nicht richtig verstanden.

Doch als hätte er das geahnt, rief er mich noch einmal zu sich und starrte mich mit seinen großen Augen an, bis ich vor seinem Lehrerpult stand.

Die Letzten verließen eilig den Raum. Einige warfen mir noch einen Blick zu, den ich als Schadenfreude deutete.

Ich fragte mich ernsthaft, was ich verbrochen hatte.

„Setz dich auf den Stuhl da“, krächzte der Alte und stand selbst auf.

Mit aufsteigender Übelkeit sah ich, wie er zur Tür schlurfte und sie zuzog. Ich war mit ihm eingesperrt und fühlte brennende Hitze in mir aufsteigen.

Das ist doch nur ein alternder Vertretungslehrer, versuchte ich mich zu beruhigen, als der Alte sich vor mir auf seinen Stuhl fallen ließ.

Er nahm das Klassenbuch zur Hand und ging die Reihen mit Namen durch. Als kaue er einen riesigen Klumpen Kaugummi, raunte er plötzlich meinen Namen und meine Adresse.

Ich überlegte, ob ich ihm einfach erzählen sollte, dass er mich verwechselt. „Ach die, die ist gerade raus …“

Aber als der Blick des Alten mich traf, war ich dazu nicht mehr in der Lage.

„So, ihr wohnt jetzt also in dem Haus. Habt es einfach gewagt, dort hinzuziehen. Tja, seid ja auch dem Kurt Gräbler verwandt, dem alten Hexer.“

Ich dachte im ersten Moment, der Alte fantasiert. So antwortete ich nur: „Wir haben das Haus von Mamas … Vater geerbt.“ Ich war mir erst nicht schlüssig, ob ich Vater oder Onkel sagen sollte und der Name Kurt elektrisierte mich auf seltsame Weise, konnte aber mit dem geerbten Haus nichts zu tun haben. Und der alte Mann vor mir konnte nichts von meinen Träumen wissen, in denen ich schon öfters auf diesen Namen gestoßen war.

Der Professor fauchte: „Ja, die Geschichte von deiner Oma, die den einen Bruder heiratet und von dem anderen ein Kind kriegt. Einer dieser Geschichten, die sich in eurer Ahnentafel beständig wiederholen. Sie meinte, dass verheimlichen zu können. Aber ich habe es schon immer gewusst. Mir konnte keiner etwas vormachen. Noch nie! Immer hatte ich ein wachsames Auge auf eure Sippe. Blut zu Blut. Über Generationen hinweg. Das ist es, was der Alchemist braucht, um sein Werk zu vollenden.“

Ich starrte den Alten verschüchtert an. In seinen Worten lag so viel Hass. Es schien fast so, als wäre er unerbittlich mit dem Schicksal meiner Familie verbunden. Aber mir wollte nicht einleuchten, was ich damit zu tun habe.

„Und der Tag wird kommen, an dem er zurückzukehren versucht“, keifte er aufgebracht. „Zu sehr befasste er sich mit der Lehre der Alchemie und suchte nach einem Weg zur Unsterblichkeit. Zu sehr verschrieb er sich dem Satan. Er wird versuchen zurückzukehren“, rief er mit immer undeutlich werdender, sabbernder Stimme.

Ich glaubte in den trüben Augen des Alten so etwas wie Wahnsinn erkennen zu können und schaute mich unbehaglich nach einem Ausweg um.

Aber dann rührte ich mich doch nicht, denn der Alte fuhr mit erschreckend klarer Stimme plötzlich fort: „In eurer Familie fließt das Blut des Satans in seiner schlimmsten Form. Ja Kind, glaub`s mir ruhig. In dir lauert ein schreckliches Unheil. In dir und allen Kindern, die zur Erhaltung seines Blutes und zur Zusammenführung seines Geistes und seiner Seele gezeugt wurden.“

Ich starrte den alten Professor verblüfft an und glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Da wollte mir dieser alte Lehrer etwas von Satansblut in meinem Adern erzählen, wo er mich heute zum ersten Mal sah, und dass wir angeblich gezeugt worden waren, um bestimmte Blutlinien, und wer weiß was noch, zusammenzuführen. So ein irrer Quatsch. Außerdem fand ich, dass es weitaus schlimmere Vergehen in Familien gab als die, die meine Oma begangen hatte. Und andere seltsame Blutsvermischungen gab es doch gar nicht, oder?

Doch dass es darum allein nicht ging, erfuhr ich einige Augenblicke später, als der Alte seltsam in seinem Stuhl zusammensank und ganz selbstvergessen vor sich hinsinnierte: „Mein Bruder und mein Vater waren damals dabei. Sie halfen, den Hexer zu verbrennen. Die einzige Möglichkeit, den Satan in ihm zu töten, den er aus einem fernen Land zu uns brachte. Er war ein Mörder! Unheilbringend und der Alchemie verschrieben.“

Ich weiß nicht genau, was für eine Tür sich in mir auftat. Aber mein Herz schlug noch heftiger und eine gewaltige Wut schlich durch meine Adern. Was wollte dieser Alte von mir? Und warum kam er mir mit so seltsamen Geschichten? Was hatte er nur mit diesem Hexer, der angeblich mal in unserem Haus gewohnt haben soll? Und wenn schon. Es gab bestimmt viele alte Häuser, in deren Vergangenheit weniger nette Ereignisse stattgefunden hatten.

In mir kochte zu der Wut Betroffenheit über etwas hoch, dass ich nicht mal richtig benennen konnte. Und die Begegnung mit diesem alten Mann und dem, was er von sich gab, löste das in mir aus.

Ich sprang vom Stuhl auf und rief aufgebracht: „Ich muss gehen! Ich verpasse sonst meinen Bus.“

In mir baute sich etwas auf, das einerseits nach Flucht schrie und andererseits dem Alten am liebsten an die faltige Kehle springen wollte.

Doch zeitgleich mit mir erhob sich auch der Professor, als hätte er meine Flucht geahnt, und packte mich am Arm.

„Sieh mich an!“, keifte er und Spucke spritzte in mein Gesicht. Seine runzligen Finger umspannten meinen Oberarm wie ein Schraubstock. „Ich weiß nicht, ob du wiedergekehrt bist. Aber glaube mir, ich werde es bald wissen und dann werde ich dich bekämpfen, wie mein Vater und mein Bruder dich damals bekämpften.“ Die Stimme des Alten wurde hoch und kreischend. „Dann werden erneut Flammen über dir zusammenschlagen und dein Körper wird brennen. Ich werde niemals zulassen, dass du leben wirst!“

Ein Geräusch ließ den Alten zusammenfahren und er gab erschrocken meinen Arm frei.

„Professor, ist hier alles in Ordnung?“ Frau Grätsch, meine Sportlehrerin, stand in der Tür und musterte mich und den Alten bekümmert.

Ich nutzte den Augenblick. Meine Tasche greifen und Abstand zwischen mich und den alten Professor bringen war eins.

An der Tür griff Frau Grätsch nach meiner Hand und hielt mich zurück. Mit besorgter Miene fragte sie: „Ist alles in Ordnung, Carolin?“

Ich riss mich los und rannte in den Korridor hinaus. Ich wollte nur noch weg. Dieser Alte war doch verrückt! Mord … Verbrennung … Ich wollte das alles nicht hören und nichts davon wissen.

Erst draußen wurde ich langsamer und bemühte mich, ohne weiteres Aufsehen zu erregen, den Schulhof zu meistern. Ich schwor mir, wenn der Bus schon abgefahren war, würde ich zu Fuß gehen. Keine Sekunde wollte ich länger bei der Schule bleiben als nötig. Wer wusste schon, was der durchgeknallte Professor sonst noch alles in seinem kranken Gehirn ausbrütete. Ich sah ihn schon hinter mir hereilen, in jeder Hand ein brennendes Feuerzeug.

Tatsächlich packte mich eine Hand von hinten und riss mich herum. Doch es war nur Frau Grätsch, die mir hinterhergeeilt war und mich festhielt.

„Was war da oben los? Was wollte der Professor von dir?“, zischte sie mit unterdrückter Wut in der Stimme.

„Ich glaube, mich verbrennen“, jammerte ich völlig außer mir und hatte einen Moment das Gefühl, meine Beine wollten unter mir versagen.

Die Hand um meinen Arm ließ mich los und das Gesicht der Lehrerin wurde mitfühlend. „Dann habe ich doch richtig gehört. Ich glaubte schon, ich hätte was mit den Ohren“, brummte sie bestürzt.

Ich schüttelte den Kopf und schaute zu Boden.

„Fahr nach Hause. Ich werde mich sofort an den Rektor wenden und den Vorfall melden. Morgen sprechen wir dann noch einmal darüber“, sagte die junge Lehrerin und schien ihre Wut nur schwer unterdrücken zu können.

Ich ließ mir das nicht zweimal sagen und wandte mich dem Busbahnhof zu. Hinter mir hörte ich Frau Grätsch fluchen: „So einen alten Trottel noch auf die Kinder loszulassen, wo es so viele junge, arbeitslose Lehrer gibt.“