Die Narben aus der Vergangenheit

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Daniel setzt sich zu Ellen und ich setze mich allein hin. Ich sehe Carolins besorgten Blick, als es losgeht und genieße es, in einer wilden Abfolge von Schleudervorgängen hin und her geschüttelt zu werden.

Als es vorbei ist, kehre ich zu Carolin zurück, ziehe sie übermütig grinsend an mich und küsse sie.

Ihre Augen leuchten auf und sie bittet mich: „Bitte, geh überall mit, wonach dir ist. Das tut dir so gut!“

Das nächste ist der Flip Flop, an dem wir Männer nicht vorbeigehen können, ohne eine Fahrt mitzunehmen. Da Julian auch mitfährt und Ellen bei Carolin bleibt, fahre ich auch mit.

Wir werden etlichen Meter in die Höhe geschleudert, wie auf einer Riesenschaukel. Das lässt mich alles Schlechte dieses Tages vergessen.

Carolin scheint sich wirklich für mich mitzufreuen. Sie strahlt mich so glücklich an, wie ich mich in diesem Moment fühle. Und dann überrascht Julian alle, weil er noch eine Runde schmeißt. Und diesmal auch für die Mädels mit, die entsetzt aufkreischen, sich das aber unter diesen Umständen nicht zweimal sagen lassen.

Julian kommt zu mir und reicht mir eine Karte. Sein Blick fällt auf Carolin und er sagt mit fürsorglicher Stimme: „Nah, für dich ist das ja nichts. Stimmt’s? Du konntest das noch nie ab.“

Dabei funkeln seine dunkelbraunen Augen in diesem viel zu gutaussehenden Gesicht auf, und ich spüre klar Eifersucht durch meine Adern kriechen.

Er dreht sich um und geht und ich sehe ihm hinterher. In dem Moment ruft Daniel mir zu, dass ich zu ihnen kommen soll und ich sehe Carolin verunsichert an.

Ohne ein weiteres Wort entlässt sie mich aus ihrem Arm und ich nicke. Ihr kann nichts passieren, wenn wir alle mitfahren.

Schnell laufe ich zu den letzten Plätzen der Gondeln und als ich zurücksehe, wirft sie mir einen Handkuss zu.

Ich setze mich auf einen der wenigen freien Plätze und die Sicherungen fahren herunter. Langsam schrauben sich die drei Gondeln in die Höhe.

Ich kann noch einen letzten Blick auf Carolin werfen und erstarre. Sie sieht lächelnd zu mir herauf, aber hinter ihr steht Julian …

In mir setzt alles aus. Verdammte Scheiße, ich hatte nicht darauf geachtet, ob Julian auch wirklich in das Karussell eingestiegen war. Nun ist er bei Carolin und ich sitze in dieser Gondel fest, die langsam in die Höhe steigt.

Es ist unmöglich, Carolin auch nur annähernd im Auge zu behalten und irgendwann gebe ich es auf und hoffe nur, dass die Fahrt schnell endet. Aber wie alles, was schnell zu Ende gehen soll, dauert es eine gefühlte Ewigkeit.

Endlich senken sich die Gondeln endgültig ab und als die Sicherungen uns freigeben, sprinte ich zu Carolin, die alleine dasteht und wie zum Schutz ihre Arme um sich geschlungen hält. Sie wirkt verwirrt und so schrecklich verletzlich. Es versetzt mir einen Stich.

Ich starre Julian an, der mich nur angrinst. Am liebsten würde ich ihm an die Gurgel springen, als er auch noch die Schultern hochzieht, als könne er doch gar nichts dafür, dass er und Carolin die Einzigen waren, die bei diesem Spiel übriggeblieben sind.

„Carolin, ist alles in Ordnung?“, frage ich sie und ziehe sie in meine Arme. Es tut mir so unendlich leid, dass ich nicht aufgepasst habe und nur an mich und meinen Spaß dachte.

„Erik, es ist alles gut. Es ist nichts passiert“, raunt sie leise.

Michaela steuert auf Julian zu, der sie anlächelt. Zwischen ihm und uns bauen sich die anderen auf, die wahrscheinlich gar nicht mitbekommen haben, dass Julian nicht mitgefahren war. Selbst Daniel scheint nichts zu schnallen, als ich ihm einen aufgebrachten Blick zuwerfe.

Wir ziehen weiter und Carolin wirkt wie verändert.

Mir ist klar, Julian hat die Minuten genutzt, um sie sich zu schnappen. Aber ich kann sie hier nicht fragen, was vorgefallen war.

Wir kommen wieder an einem wahren Monsterkarussell vorbei. Wir waren an diesem Abend schon einmal davor stehen geblieben und Carolin sieht auch jetzt fast schon entsetzt auf die wild schleudernden Gondeln, die nur an seitlichen Aufhängungen befestigt eine unglaublich wilde Fahrt garantieren.

Ich würde gerne damit fahren, aber ich werde Carolin nicht noch einmal allein lassen.

Daniel winkt mir, dass er Karten holt und ich schüttele energisch den Kopf.

„Du kannst ruhig mitgehen“, sagt Carolin und sieht mich bittend an.

Ich sehe zu Julian, der meinen Blick erwidert, und schüttele den Kopf. „Noch mal wird ihm das nicht gelingen“, knurre ich.

„Ach bitte, ich will nicht, dass du was verpasst.“

Ich lache auf und knurre aufgebracht: „Das Wichtigste habe ich schon verpasst. Und zwar dich vor Julian zu beschützen.“

„Es ist mir nichts passiert! Er will mir nichts tun!“, versucht Carolin mich zu beruhigen.

„Sagt er! Ich traue ihm nicht und ich will nicht, dass er dir nochmals zu nahekommt“, kann ich ihr nur wütend entgegenschleudern.

„Dann lass uns gehen. Wir verschwinden. Wir müssen nicht mit denen mitgehen.“ sagt Carolin und sieht mich bittend an.

Sie spricht mir aus der Seele.

Nach ihrer Hand greifend, ziehe ich sie in die Menschenmasse, die sich an dem waghalsigen Karussell vorbeischiebt. Ich sehe mich kurz noch einmal um, aber keiner hält uns auf. Die meisten sitzen im Karussell und die anderen starren gebannt auf die wilde Fahrt.

Erst als ich mir sicher bin, dass uns keiner mehr verfolgt, werde ich langsamer und lege Carolin meinen Arm um die Schulter. Bei der nächsten Süßigkeitenbude halte ich an. „Komm, wir holen uns noch ein bisschen Proviant für den Nachhauseweg und verschwinden dann. Was magst du am liebsten?“

„Gebrannte Mandeln“, antwortet sie sofort.

Ich stupse lachend an ihre Nasenspitze. „Ich sagte doch, du wurdest für mich gemacht.“

Ich kaufe eine große Tüte gebrannte Mandeln, die auch für mich ein Muss auf jeder Kirmes sind.

Arm in Arm gehen wir dem nächsten Ausgang entgegen und verlassen das bunte Treiben, das sich für diesen Abend scheinbar dem Ende nähert. Einige Buden schließen schon.

Wir nehmen den kürzesten Weg nach Hause und füttern uns gegenseitig mit den süßen Mandeln.

Carolin sieht mich erstaunt an, als wir am Hasetor ankommen und ich grinse sie an. Sie kennt sich immer noch nicht genug in der Stadt aus, um immer wieder nach Hause zu finden und ich spüre, wie sehr sie auf mich angewiesen ist. Und ich will, dass sich das niemals ändert.

Unter der Eisenbahnbrücke ziehe ich sie an mich, drücke sie an die Wand und schiebe mich dicht an sie heran. „Ich glaube, wir brauchen eine kleine Pause. Mir ist nach einem Kuss …“, raune ich und lege eine Hand in ihren Nacken, um sie festzuhalten.

Carolins Augen funkeln mich an und sie schlingt ihre Arme um meinen Hals. Wir küssen uns und ich spüre eine Hitze durch meine Adern jagen, als unsere Zungen sich berühren. Ich dränge mich dichter an ihren warmen Körper, der plötzlich zu erstarren scheint. Sie beendet den Kuss und nimmt ihre Arme von meinem Nacken.

„Was ist los?“, frage ich sie beunruhigt und sehe, dass sie mich traurig und besorgt mustert. „Nichts“, haucht sie aber nur und sieht an mir vorbei.

Ich bin mir sicher, dass sie lügt. Irgendetwas stimmt nicht.

„Komm!“ Ich ziehe sie unvermittelt weiter und in meinem Kopf kreisen die Möglichkeiten, was in ihrem vorgehen könnte. Es kann keine Lappalie sein, wenn sie sich sogar meinem Kuss entzieht.

Ein eisiger Schauer läuft mir über den Rücken, als Julian sich in meinen Kopf schiebt.

Wir überqueren die Straße und gehen den Wall hinauf.

Ich kann das Schweigen zwischen uns nicht länger ertragen und frage barsch: „Was hat Julian zu dir gesagt?“

Carolin sieht mich erschrocken an und ich zwinge sie stehen zu bleiben. „Ich will es genau wissen!“, knurre ich aufgebracht.

Es dauert bis Carolin antwortet. Scheinbar sucht sie nach einem Ausweg nicht antworten zu müssen. Aber den gibt es nicht und sie raunt leise: „Dass er dich in den Knast bringen kann.“

Er hat ihr also genauso gedroht wie mir. In mir kriecht Wut hoch und ich könnte mir eine reinhauen, dass ich ihm die Möglichkeit dazu gab.

„Das hat er mir auch angedroht. Aber er kann mir gar nichts, wenn ich keine Drogen bei mir habe und nichts nehme. Gar nichts! Und wenn er mir noch so viel die Polizei auf den Hals hetzt“, fauche ich wütend. Ich ziehe sie weiter. „Vielleicht buchten sie mich ein paar Tage ein, bis sie Gewissheit haben, dass ich sauber bin. Aber ansonsten …“, brumme ich.

„Ein paar Tage?“, raunt sie neben mir entsetzt.

Ich bleibe wieder stehen und sehe die Angst in ihren Augen. Ich nehme ihr Gesicht in beide Hände und versuche sie zu beruhigen. „Carolin, sie können mir nichts! Wirklich!“

„Julian will dir etwas unterjubeln“, stammelt sie.

Ich schließe kurz die Augen. Das ist also sein Plan.

„Das wäre schlecht“, raune ich leise und ziehe sie weiter. „Aber ich passe auf. Und Daniel stellt sich mit ihm gut, um ihn etwas zu bespitzeln“, versuche ich ihr erneut die Sorgen zu nehmen.

„Julian weiß, dass du Daniel auf ihn angesetzt hast. Er hat es mir gesagt“, sagt sie daraufhin nur und ich schüttele den Kopf. „Der ist gar nicht so dumm“, brumme ich.

„Bitte sei vorsichtig. Und lass mich bitte noch einmal mit ihm sprechen. Wenn ich nur wieder mit ihm reden muss und etwas nett sein muss, damit er euch in Ruhe lässt, dann mache ich das“, sagt Carolin und mir stockt der Atem. Wenn sie „etwas nett“ zu ihm sein muss?

Erneut braut sich in mir ein Verdacht zusammen, dass Julian ihr nicht nur ein Bruder sein will. Und hatten wir ein ähnliches Thema nicht auch schon bei Tim? Hatte sie mir da nicht auch gesagt, sie muss etwas nett zu ihm sein, damit er glaubt, sie gehört noch ein wenig ihm, damit er uns in Ruhe lässt.

 

Mir wird übel und die Mandeln rühren in meinem Magen wie in einem Betonmischer.

Wir überqueren die Straße, um kurz darauf in unsere einzubiegen.

„Nein, eher lasse ich mich einknasten“, fauche ich.

Ich ziehe sie im Eilschritt hinter mir her und sie kann nur mit Mühe Schritt halten. Aber ich will nach Hause, hinter uns alle Türen schließen und die Welt ausgrenzen, die ich nicht einschätzen kann. Nichts kann ich mehr einschätzen. Nicht mal mehr das, was Madame Moinette gesagt hat. Meine Welt verliert jeglichen Halt.

Endlich biegen wir in unsere Einfahrt ein. Ich schließe kurz darauf die Haustür auf und ziehe sie hinein, während sie resigniert jammert: „Das lasse ich nicht zu. Erik, ich kann das alles nicht ohne dich. Auch nicht nur ein paar Tage.“

Ich lasse die Tür ins Schloss fallen und atme tief ein, weil ich das Gefühl habe, mir bleibt die Luft weg.

Sie sieht mich aus traurigen Augen an und ich ziehe sie in meine Arme. „Das wäre auch mein Untergang. Ich würde verrückt werden, wenn ich dich hier allein und schutzlos wüsste.“

So stehen wir nur da, halten uns fest und wissen, dass Carolin eigentlich gar nichts anderes übrigbleibt, als ihren Bruder wieder als Bruder in die Arme zu schließen. Aber will er etwas anderes, werde ich ihn ins Jenseits befördern.

Irgendwann meldet sich mein Handy und ich entlasse Carolin verunsichert aus meiner Umarmung, um es aus meiner Tasche zu ziehen.

„Hallo Daniel“, sage ich nach einem Blick auf das Display.

Daniel ist gut gelaunt und aufgedreht und fragt, wo wir stecken und ob wir noch mit ins Alando kommen.

„Ne, wir sind schon zu Hause. Geht man alleine und viel Spaß noch“, raune ich resigniert.

„Ey, die sind alle echt gut drauf. Komm, sei kein Spielverderber. Die machen wegen euch schon blöde Sprüche“, ruft Daniel viel zu überdreht ins Telefon und ich knurre aufgebracht: „Ist mir egal. Wir hatten keine Lust mehr und nachdem Julian es doch noch geschafft hat, Carolin zu bedrohen, sowieso nicht mehr.“ Ich drücke erbost das Gespräch weg und knurre: „Die wollten, dass wir noch ins Alando kommen.“

Carolin betätigt erneut den Lichtschalter, um die Treppe zu beleuchten und geht vor mir hoch zu unserer Wohnung. Oben schließt sie auf und ich lasse die Tür hinter mir wieder ins Schloss fallen und schließe zu. Für heute ist Schluss.

Wir ziehen unsere Schuhe aus und hängen die Jacken auf.

„Magst du auch noch einen Cappuccino oder Tee?“, frage ich und gehe in die Küche. Carolin folgt mir nicht, aber ich setze trotzdem Wasser auf. Als sie wenig später doch erscheint, stehen schon zwei Tassen auf dem Tisch und in ihrer liegt ein Teebeutel und neben meiner stehen das Cappuccinopulver und der Zucker. Aber ich fühle mich von meinen Gedanken erschlagen, die mich alles noch einmal Revue passieren lassen. Der Schreck, als Julian hinter ihr stand und ich in diesem Karussell festsaß, ihre Worte, dass er mich in den Knast bringen will, wohl um sie alleine und ohne meinen Schutz angehen zu können, die Ungewissheit, was er dann mit ihr vorhat und zu guter Letzt die Worte der Hellseherin, das Carolins und meine Zukunft ungewiss ist, weil sie ein dunkles Geheimnis hütet ...

Carolin kommt mit dem heißen Wasser an den Tisch und gießt es in unsere Tassen. Ich registriere das, bin aber wie gelähmt. Mir wird klar, wie hoffnungslos und schwierig unsere Situation ist.

„Was kann ich nur tun?“, frage ich fast stimmlos. „Wegen Julian!“

Carolin setzt sich zu mir und antwortet ziemlich brüsk: „Nichts. Lass ihn einfach in Ruhe. Ich regele das. Wenn er etwas Schwesterngetue von mir verlangt, dann soll er das haben. Hauptsache er lässt dich in Ruhe. Und du schaust, dass er dich und Daniel wirklich mit nichts belasten kann.“ Ihre Stimme hat einen erschreckend rüden Unterton und klingt wütend.

Sie steht auf und geht ins Wohnzimmer zurück. Ich sehe ihr nach, immer noch wie gelähmt. Sie kommt mit ihrem Handy zurück und setzt sich auf ihren Platz.

Ich werfe ihr einen beunruhigten Blick zu.

„Den Zucker musst du selbst nehmen“, sagt sie und zeigt auf meine Tasse, während sie eine SMS eintippt.

Ich kann nur resigniert den Kopf schütteln, als sie sie mir zu lesen gibt. „Julian, du sollst dein Schwesterngetue haben. Aber Erik und Daniel lässt du ganz in Ruhe. Haben die auch nur einmal Schwierigkeiten, dann ist es für immer mit der Geschwisterliebe vorbei. Carolin.“

Dass sie Julian das schrieb, macht mich völlig fertig. Aber ich weiß auch, dass Julian am längeren Hebel sitzt und mir nichts anderes übrigbleibt, als die Lage zu akzeptieren wie sie ist.

Niedergeschlagen raune ich: „Ich habe wirklich gedacht, dass nie wieder jemand so etwas mit mir machen kann.“

Carolin beugt sich vor und während sie mir sanft meine Locken über der Stirn zurückstreicht, sagt sie: „Es ist nicht so schlimm für mich, wie du denkst. Ich komme schon klar, wenn wir beide einfach nur zusammen sein können.“

Sie gibt den immer noch fehlenden Zucker in meine Tasse und rührt um. „Komm Schatz, wir schaffen das! Julian hat mir versichert, er will mir nichts Böses mehr. Und ich glaube ihm das.“

Will sie mich beruhigen?

Wir nippen an unseren Tassen und hängen unseren Gedanken nach. Es gibt nichts mehr darüber zu sagen. Sie hat sich für mich geopfert und ihrem Bruder geschrieben, dass sie bereit ist, ihn wieder in ihr Leben zu lassen, wenn er mich und Daniel dafür in Ruhe lässt. Sollte er ihr aber doch dumm kommen, bringe ich ihn um.

Carolin geht schon bald ins Bett und ich rauche noch eine Zigarette, bevor ich ihr folge. In meinem Kopf schreit alles nach einer Prise Weiß, um das hier ertragen zu können. Aber selbst das kontrolliert Julian jetzt. Einmal und er kann mich schon hochnehmen, egal was er Carolin für ihren Einsatz verspricht.

Die erwartet mich tief unter ihre Decke versteckt und ich sehe ihr an, wie sehr sie das alles wieder mitnimmt.

Ich ziehe mich aus und schiebe mich zu ihr unter die warme Decke. Sie zieht mich an sich und legt ihre Arme um mich. Offenbar ist mir nicht mal böse, dass ich einfach nicht in der Lage bin, sie zu beschützen und mein Leben sie zu Dingen zwingt, zu denen sie niemals gezwungen werden sollte. Es wäre so, als müsste ich Freundschaft mit Daniela, dem Kindermädchen von damals, schließen, dass mich als fünfjährigen entführte und mir die Brust zerfetzte. Undenkbar.

Ich seufze leise und verdränge den Gedanken.

Sofort schiebt sich Madame Moinette in meinen Kopf und was sie mir sagte. Carolin wird entscheiden, ob wir zusammenbleiben und etwas versucht sie dazu zu bringen, dass sie mich verlässt.

Mir schießt sofort Julian in den Kopf.

Außerdem werde ich nie Kinder bekommen. Madame Moinette war selbst überrascht, warum das so deutlich hervorstach.

Für mich hat das keine Wichtigkeit. Überhaupt keine.

Ich liege auf Carolins Brust und horche auf ihren Herzschlag. Ellen schiebt sich in meinen Kopf, wütend und aufgebracht aus dem Zelt der Hellseherin stampfend und brummend: „Was für ein blödsinniger Kauderwelsch. Ich habe nichts von dem verstanden, was sie gebrabbelt hat … außer das mit den Kindern.“

Mir stockt der Atem, und ich erstarre innerlich. Plötzlich wird mir eiskalt.

Carolin streicht mir durch das Haar und ich sehe auf. Der seichte Schein der kleinen Nachttischlampe lässt ihre Augen funkeln und sie erwidert meinen Blick.

„Carolin?“, frage ich und mir stockt jetzt schon der Atem.

„Ja?“

„Sagst du mir, was die Hellseherin dir gesagt hat?“, flüstere ich.

Carolin zögert und raunt dann vorsichtig: „Ich glaube, das sollten wir besser nicht.“

Ich schiebe mich noch dichter an sie heran und frage: „War es so schlimm?“

„Ich weiß nicht! Ich habe nicht viel von dem verstanden, was sie sagte“, antwortet sie zurückhaltend.

Ich sehe wieder auf. „Beantwortest du mir wenigstens eine Frage … ganz ehrlich?“ Ich kann es einfach nicht dabei belassen.

Sie sieht mich an und nickt unschlüssig.

„Hat sie etwas über Kinder gesagt? Ob du mal welche bekommst, meine ich“, frage ich, und meine Stimme klingt wie ein verstimmtes Klavier.

Sie antwortet nicht und ich schiebe mich auf meine Ellenbogen, um sie ansehen zu können. Ich überfliege ihr Gesicht nach einer Regung, die mir eine Antwort gibt.

„Zwei“, sagt sie plötzlich und unerwartet.

Ich lasse mich auf den Rücken fallen und schließe betroffen die Augen. Jetzt weiß ich, warum das mit meiner Kinderlosigkeit so wichtig ist. Die Einsicht nimmt mir den Atem, raubt mir meine Energie und den Verstand. „Verdammt!“

„Warum?“, fragt Carolin und ist sichtlich erschrocken über meine Reaktion.

„Keine Kinder“, antworte ich nur, als hätte sie mir die gleiche Frage gestellt.

An ihrem Gesicht sehe ich, dass ihr gerade klar wird, was das heißt. Wir haben keine gemeinsame Zukunft. Unsere Liebe ist zu Ende, bevor sie richtig beginnt.

Ich möchte aufspringen und fliehen, mich in meinen Panikraum einschließen und für immer alles vergessen. Und wirklich für immer. Bevor ich ertragen muss, dass sie mich verlässt.

„Warte!“, ruft Carolin plötzlich, als hätte sie eine unglaubliche Idee. „Ich bin Doppelträger!“

„Was?“, frage ich verständnislos und spüre einen Schmerz durch meine Eingeweide kriechen, als wäre schon heute alles für uns vorbei.

Carolins Gesicht leuchtet auf und ihre Augen glänzen wie im Fieber. Sie wirft sich lachend auf mich. „Oh Mann, das ist die Lösung!“

Ich lege locker meine Hände auf ihren Rücken, als könne ich mich an ihr verbrennen. Ihren Stimmungswechsel kann ich nicht nachvollziehen. In mir ist alles, als läge es im Sterben.

„Ich bin Doppelträger, hat sie gesagt. Das heißt, ich habe zwei mögliche Schicksale, die sich erfüllen können. Und eins ist mit zwei Kindern und ohne Liebe und mit ganz viel Hass und Ärger“, erklärt sie völlig überdreht. „Aber das andere ist mit keinem Kind, Liebe, Verbundenheit durch schlimme Vergangenheit … Das bist du! Erik, sie meinte dich damit!“, ruft sie übermütig und sich vollkommen sicher. „Mein zweites Schicksal bist du! Ist ja logisch!“ Sie schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn.

Ich sehe sie nur verständnislos an. „Was, wie? Ich? Aber du sagtest … zwei Kinder“, raune ich verunsichert.

„Nur, wenn sich das Schicksal erfüllt, das ganz schlimm für mich ist und das ohne richtige Liebe sein wird. Aber es gibt ein weiteres, das für mich vorgesehen ist und das ist ohne Kind und mit dir. Ich will keine Kinder. Ich will nur dich! Jetzt verstehe ich, was sie mir gesagt hat“, sagt Carolin mit leuchtenden Augen.

„Und das erste Schicksal mit den zwei Kindern ist wer?“, frage ich betroffen.

Sie stutzt. „Keine Ahnung. Für mich nicht relevant. Sie hat gesagt, dass es dort nur Hass und keine Liebe gibt“, antwortet sie atemlos. „Erik, sie meint, dass wir eine Zukunft haben! Wir beide!“

Ich sehe sie verunsichert an und in mir schreit alles danach, ihr glauben zu wollen. Alles andere ist zu unerträglich. Aber wie soll ich das glauben? Wie das verstehen? Und das mit den Doppelträgern? Hat Carolin sich das gerade ausgedacht, um mich zu beruhigen?

„Ich glaube, ich will das noch mal ganz genau von ihr wissen. Ich gehe noch einmal zu ihr“, murmelt ich nur.

Carolin nickt nur und zieht mich wieder an sich.

Ich schlinge meine Arme um ihren schmalen Körper und sehe noch einmal vorsichtig in ihr Gesicht. Aber alle Anspannung scheint von ihr abgefallen zu sein. Sie sieht fast glücklich aus.

Das verunsichert mich noch mehr, weil sie sich scheinbar plötzlich ganz sicher ist, recht zu haben. Und mir wird klar, wie sehr ich mir das wünsche. Aber mir reicht eine Vermutung nicht. Ich brauche Gewissheit.

Am Sonntagabend ziehe ich Carolin erneut zu dem Zelt der Wahrsagerin. Es ist schönstes Herbstwetter und dementsprechend sind viele Menschen auf der Kirmes, die sich durch die Gänge schieben.

Mir ist es recht. So bleiben wir unerkannt. Denn ich habe nur ein Ziel, was mich auf die Kirmes treibt … und das hat nichts mit dem zu tun, was all die anderen Menschen hier wollen.

„Okay, und du gehst mit, ob du willst oder nicht“, brumme ich und dulde keine weitere Ausrede, füge aber noch ein „Bitte“, hinzu.

Carolin sieht mich fast schon panisch an. Sie will nicht noch einmal zu dieser Frau gehen. Ihr reicht ihre Einsicht vollkommen aus. Mir aber nicht.

 

„Erik, ich habe Angst. Was machen wir, wenn sie uns nichts Gutes zu sagen hat?“, fragt sie plötzlich. Also ist sie sich doch nicht ganz sicher.

Ich sehe sie nur an und versuche das ungute Gefühl zu unterjochen, das mich seit gestern fest im Griff hat. Ich versuche alle Gefühle aus meinem Inneren zu verbannen und nicht daran zu denken, was das für uns heißen würde. In der Nacht und den ganzen Tag über habe ich den neuen Erik in einen Kerker aus Eis gesperrt und den alten Erik wieder rausgelassen. Der, den kein Gefühl erreichen kann. Aber zu meinem Entsetzen muss ich feststellen, dass die Wut und Gefühlslosigkeit, die diesen Erik zeitlebens beherrschte, längst nicht mehr so tief sitzt.

„Aber wir brauchen Gewissheit. Es ist egal, was sie sagt. Nichts bringt uns auseinander. Aber wenn es etwas zu bekämpfen gibt, dann will ich das wissen. Und ich will wissen, was das für eine Doppelgeschichte ist“, murre ich und habe auch die alte Stimme wieder, die den alten Erik ausmachte.

Wir tauchen in das Zelt ein und die junge Frau, die ihre Aufgabe darin hat, die Kunden herein- und hinauszubegleiten und zu kassieren, sieht uns schon entgegen.

Bevor ich etwas sagen kann, sagt sie mit ihrer klaren, hohen Stimme: „Madame Moinette erwartet euch schon. Ich bringe euch zu ihr.“

Carolin sieht mich erschrocken an und ich umfasse ihre Hand fester. Diese Frau, zu der wir gehen, weiß natürlich, dass wir kommen. Mich überrascht das nicht. Schließlich ist das ihr Job.

Die schwarzhaarige Frau sieht uns schon entgegen. Aber ich habe gleich das Gefühl, dass sie unser Erscheinen nicht freut. Ihre Gesichtszüge sind starr und wie gemeißelt.

Die junge Frau deutet uns, dass wir uns setzen sollen.

Ich lasse Carolin den Vortritt und setze mich neben sie. Ohne Umschweife frage ich: „Frau Moinette, wissen Sie warum wir hier sind?“

Sie lehnt sich vor und sieht erst Carolin, dann mir in die Augen. „Erik und Carolin. E+C. Ihr wollt wissen, welche Chance ihr habt. Aber sie hat Angst. Angst vor dem, was ich sagen könnte“, sagt sie und nickt zu Carolin hin.

Ich werfe Carolin einen schnellen Blick zu, die Frau Moinette nur anstarrt.

Mich vorbeugend, raune ich: „Ich möchte wissen, ob wir eine Zukunft haben und was ich tun muss, damit wir zusammenbleiben können.“

Carolin wirft mir einen Blick zu, den ich nicht deuten kann.

Frau Moinette sieht mich lange an, bevor sie antwortet: „Zukunft! Zukunft ist wann? Und wann endet die eine Zukunft und wird zu einer anderen? Du willst wissen, ob dein Schicksal mit Carolins verknüpft ist? Das ist es natürlich. Ihr lebt zusammen, ihr liebt euch. Eure Seelen sind auf eine Weise verknüpft, dass ihr euch finden musstet. Aber du willst wissen, warum Carolin auch ein Leben als Mutter führen kann, wo du wahrscheinlich niemals Vater wirst.“

Ich setze mich zurück. „Genau.“ Sie spricht aus, was tief in mir wütet.

„Ich möchte dir etwas erklären“, sagt Madame Moinette an mich gerichtet. „Schicksale sind vorgegebene Zukunftsereignisse, die immer mehrere Menschen und Geschehnisse miteinander verbinden. Deshalb sind sie auch änderbar. Denn jeder hat einen gewissen Grad an Mitbestimmung für seinen eigenen Lebensverlauf. Erik, du hast dein Schicksal, das dir ein glückliches, aber wahrscheinlich kinderloses Leben beschert, wenn du den Weg weitergehst, den du beschritten hast. Ich habe dir im Frühjahr gesagt, dass du in diesem Sommer auf einen Menschen triffst, der dein Leben verändern kann, wenn du es zulässt. Du bist auf Carolin gestoßen. Du hättest dein Leben aber auch so weiterführen können, wie du es vorher getan hast und ihr wärt niemals auf diese Art zusammengekommen. Verstehst du das?“

Ich nicke, von den schwarzen Augen wie in einen Bann gezogen. Ahnt diese Frau, wie ich vor Carolin war? Oder weiß sie es sogar? Ich hätte Carolin tatsächlich in mein Bett zerren können, um sie wie alle anderen hinterher abzuservieren.

„Und dass Carolin sich auf dich eingelassen hat unterliegt ihrem Willen, denn sie hat zwei Wege in sich, die sie wählen kann. Der eine war lange Zeit ihr eigentlicher Hauptweg. Aber euer Schicksal ist miteinander verwoben und sie musste auf dich stoßen und eine Entscheidung treffen. Auch das war ihr vorbestimmt.

Offensichtlich hat sie sich für das Schicksal mit dir entschieden und es somit zur Realität werden lassen. Dass sie das tat, war aber keinesfalls fest vorprogrammiert.“

Sie wendet sich an Carolin. „Das andere Schicksal in dir ist sehr mächtig und fordert sein Recht auf Erfüllung. Außerdem hängen zwei Männer daran, deren Schicksale wahrscheinlich auch zwei Wege beschreiben. Doch wenn du dich weiterhin für ein gemeinsames Leben mit Erik entscheidest und er diese Entscheidung mitträgt, dann fallen für die anderen beiden der gemeinsame Weg mit dir weg.“

Carolin fragt neben mir mit tonloser Stimme: „Wenn ich Eriks Schicksal bin, was würde dann mit ihm passieren, sollte ich mich für das andere entscheiden?“

Ich werfe ihr einen schnellen, aufgebrachten Blick zu. Warum fragt sie das?

„Das kann ich dir nicht sagen. Wenn er dann zu mir kommen würde, könnte ich den Weg sehen, den sein Schicksal dann nimmt. Da du ein Doppelträger bist, ist es besonders schwer klar zu sehen, was passieren wird und was das Schicksal dann für Erik bereithält.“

Sie wendet sich an mich: „Ich kann zu diesem Zeitpunkt nicht klar erkennen, ob ihr zwei zusammenbleibt und was für dich vorgesehen ist. Es ist alles wie in einem dunklen Meer eingeschlossen und ich kann nicht bis auf den Grund des Wassers sehen. Ich sehe nur dein jetziges Leben mit Carolin und dass auch noch etwas anderes für sie vorgesehen ist.“

„Aber hat dann nicht jeder mehrere Schicksale in sich?“, fragt Carolin.

Madame Moinette scheint einen Augenblick unentschlossen zu sein, was sie uns sagen soll, beginnt dann aber: „Wir haben alle einen festen Plan, dem wir folgen sollen. Es gibt Bestimmungen im Leben, die wir trafen, als wir dieses Leben wählten und welche, die uns auferlegt werden, während wir dieses Leben zu meistern versuchen. Ich kann nicht immer klar erkennen, was uns vorbestimmt ist und was wir selbst steuern. Ich kann es nur zu interpretieren versuchen. Und die Doppelträger bringen alle vorgegebenen Wege immer wieder ins Wanken, und erschweren uns das Sehen und Deuten erheblich, denn in ihnen leben wahrscheinlich zwei Seelen, die ihren Weg suchen. Genau wissen wir das nicht. Auch uns offenbart sich nicht alles und in seiner ganzen Klarheit.

Bei dir, Erik, sehe ich ein dunkles, graues Leben, das du aber dem Licht zuführen sollst. Das wurde dir aber erst möglich, als du auf Carolin getroffen bist. Darum setzt du alle Hoffnung in sie und deshalb glaube ich, dass Carolin für dich ein fest vorgegebener Weg für dein Leben ist. Das ist, was ich jetzt sehen kann. Aber irritierend ist für mich der Punkt, dass zum jetzigen Zeitpunkt deine Kinderlosigkeit seltsam hervorsticht. Ich weiß nicht warum, und auch nicht, wieso das so vordergründig erscheint. Es drängten sich schon oft bei meinen Sitzungen Kinder in meine Wahrnehmung, aber noch nie Kinderlosigkeit. Und ich spüre klar, dass du niemals auch nur einen Gedanken an Kinder verschwendet hast und daher kein übergeordneter Kinderwunsch präsent ist.“

Ich starre in die Augen der Frau vor mir. Ich verstehe diese Kindergeschichte auch nicht und dass mit den Doppelschicksalsträgern ist der pure Wahnsinn! Sie bringen den Verlauf der Welt ins Wanken und Carolin soll so eine sein?

„Und bei dir, Carolin“, wendet sie sich von mir ab, „drängen sich diese Kinder in den Vordergrund, obwohl ich bei dir einen enormen Widerwillen gegen Kinder spüre. Aber du bist Doppelträger. In dir ist etwas, was dich leitet und in eine bestimmte Richtung drängen will … zu einem bestimmten Weg.“ Sie klingt verstimmt, als sie leiser raunt: „Eure Geschichte … das, was ich sehe und was ich bei dem Doppelträger, der vor euch bei mir war, sah, irritiert mich. Es ist auch mit ihm eine Seelenverwandtschaft vorhanden, aber in einem für mich unerklärlichen Zusammenhang. Ich bin damit etwas überfordert. Aber ich versuche es zu verstehen.“ Einen Augenblick scheint ihr die Konzentration abhanden zu kommen. Dann fährt sie fort: „Ich sagte gestern schon, dass in dir etwas schlummert, das deinen Weg beständig zu bestimmen versucht, obwohl ich ihn nicht als guten Weg empfinde. Es sind zwei Schicksale daran gekoppelt, von denen einer der andere Doppelträger ist. Ich kann nicht klar erkennen, was es damit auf sich hat und verstehe nicht ganz, warum diese zwei Kinder so wichtig darin bestand haben. Ich sagte ja schon, sie sind von zwei verschiedenen Vätern und entschuldigt, dass ich das sage - das eine ist keine Konstellation, in der man Kinder zeugen sollte.“