Die Narben aus der Vergangenheit

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In der Küche erhellen etliche Kerzen den Raum, es läuft ein Trance Musikmix von You Tube und der Tisch ist schön gedeckt. Das Essen verströmt einen betörenden Duft, als ich die Verpackungen öffne und Carolin schenkt den Wein ein, der gelb leuchtet.

Alles ist perfekt, als sich plötzlich ein Gedanke durch meinen Kopf schiebt, der die Perfektion augenblicklich in sich zusammenfallen lässt.

Carolin kommt zu mir und ihr Blick gleitet erneut über mein Gesicht und meinen Körper.

Ich sehe nichts von einer Unzufriedenheit oder sogar Ekel und doch drängt sich diese alles vernichtende Frage in meinen Kopf. „Sag mal, stören dich meine Narben eigentlich gar nicht?“

Carolin lässt ihren Blick erneut über meine Brust gleitet, diesmal aufmerksam und beurteilend. Sie tritt dicht an mich heran und ihr Zeigefinger streicht ohne Scheu über meine Narbenwölbungen. Ich fühle das wie beim ersten Mal, als sie auf der Tanzfläche im Alando meinen Narben mit dem Finger nachgeforscht hatte.

„Ich habe deinen Körper, so wie er ist, von Anfang an geliebt. Ich glaube schon vom ersten Mal an, als du mir einen Blick auf deinen Oberkörper gestattet hast“, raunt sie ernst und ihre Augen leuchten im Kerzenlicht.

Ich schüttele ungläubig den Kopf. „Wie kann man so etwas lieben?“, frage ich verständnislos.

„Wie kann man so etwas nicht lieben? Er ist wunderschön und deine Narben machen dich zu etwas Besonderem und zu dem, was du bist. Und ich liebe dich, so wie du bist und möchte nichts an dir verändert wissen, außer …“ Sie stockt und sieht zum Tisch, als könne sie so das letzte Wort ungehört machen.

Ihre Worte nehmen mich gefangen, obwohl ich sie keinesfalls nachvollziehen kann. Niemals hätte ich gedacht, dass jemand meine Narben „lieben“ könnte. Für meine Eltern waren sie so schlimm, dass sie sie nicht mal ansehen konnten. Und wenn Eltern den Makel an einem Kind nicht lieben können, wie soll das dann ein Außenstehender? Und die Narben waren mit mir mitgewachsen, als wollten sie niemals das Größenverhältnis verändern, um ihre Intensität nicht zu verlieren.

Dennoch gibt es etwas, das sie nicht an mir mag, und das versetzt mir einen Stich in den Magen. Was ist schlimmer als diese Narben?

„Außer?“, frage ich nach und lege meine Hände auf ihre Oberarme, weil sie einen Moment Anstalt macht, zum Tisch zu fliehen.

Es dauert, bis sie antwortet und ich sehe ihr an, dass sie es auch lieber nicht tun möchte. Aber mein durchdringender Blick lässt ihr keine Wahl. Nun ist es angesprochen worden und muss ausgesprochen werden. Was mag sie an mir nicht?

Leise murmelt sie, ohne mich anzusehen: „Ich möchte, dass ich für dich wichtiger bin als deine Drogen, und dass du mich mehr brauchst als sie.“

Fassungslos starre ich Carolin an. Das übersteigt alles, was mir vielleicht noch selbst eingefallen wäre, und ich muss das erst mal verkraften. Ich lasse sie schnell los und beginne das Essen auf Teller zu verteilen.

„Komm!“, locke ich sie, und möchte dieses Thema lieber vertagen. Darüber muss ich erst mal nachdenken, denn das war eine Antwort, die ich noch weniger verstehen kann als die, dass sie meine Narben liebt. „Und bring deinen Teller mit“, sage ich noch und lächele sie zurückhaltend an.

Wir verschlingen das Essen, weil wir so hungrig sind und es so wahnsinnig gut schmeckt. Dazu gibt es Wein, der eher wie Meet schmeckt. Total lecker und süß. Trotz, dass Carolin hungrig war, schafft sie ihre Portion nicht und füttert mich mit ihrem Essen noch mit. Als ich die Lippen zusammenpresse, um sie etwas zu ärgern, klatscht sie es mir trotzdem an den Mund.

Ich lache und lecke mir über die süßen Lippen. Sie zieht mich zu sich heran und leckt mir über das Kinn, über das die süße Soße läuft.

Das ist der Auftakt zu einer Essenschlacht. Wir schmieren hemmungslos rum und ich vergesse sogar meine Narben und diesen seltsamen Umstand, dass Carolin möchte, dass sie wichtiger als die Drogen für mich ist. Wie kommt sie nur darauf, dass sie das nicht schon längst ist?

Sogar den Reis essen wir auf, bis auf den, der auf uns und auf dem Tisch verteilt ist. Nichts bleibt übrig. Nicht mal ein Tropfen Wein, bis auf den, der auf Carolins Stuhl und auf dem Fußboden gelandet ist, als ich versuchte, ihn aus ihrem Bauchnabel zu trinken. Alles klebt. Carolin, ich, die Stühle, der Tisch und der Fußboden.

Lachend ziehe ich sie vom Stuhl mit der Aufforderung, im Badezimmer schon mal unter die Dusche zu springen. Dabei drücke ich ihr zwei Kerzen in die Hand und raune verschwörerisch: „Wir haben keinen Strom, verstanden? Das ist alles an Licht, was du mitbekommst.“

Sie lacht verwegen und geht mit den flackernden Kerzen Richtung Badezimmer. Ich wische schnell das Gröbste vom Fußboden und mache alle Kerzen aus, außer zweien, die ich mit ins Wohnzimmer nehme. Eine stelle ich bei Carolins Laptop auf und eine auf dem Tisch. Blueneck ist auch schnell gefunden und ich lasse alle Schalosien in der Wohnung herunter.

Endlich kann ich ihr folgen und finde sie mit geschlossenen Augen unter dem heißen Wasserstrahl stehend.

Schnell steige ich zu ihr in die Dusche und flüstere: „Ich habe die Kerzen in der Küche noch ausgemacht. Sonst brennt es nachher noch“, um mein langes Ausbleiben zu erklären.

Wir seifen uns gegenseitig ein und Carolin versucht mich immer wieder mit sehnsuchtsvollen Küssen zu locken. Aber ich weiß, ich darf nicht zu hochfahren. Ich habe noch viel vor und will in dieser Erwartungshaltung noch einige Zeit verharren. „Warte“, hauche ich deshalb und kann über ihren Schmollmund nur lächeln. Selbst beim Abtrocknen muss ich sie ein wenig zurückweisen und dann, als ich sie ins Wohnzimmer ziehe, sieht sie, was ich vorbereitet habe. Ihre Augen funkeln in freudiger Erwartung, als ich Blueneck anstelle. Ich puste eine Kerze aus und decke das Display mit einem Handtuch ab.

Die Wohnung wird nur noch vom Schein einer Kerze erhellt. Langsam drehe ich mich um und sehe Carolin an, die dasteht, als wäre sie festgewachsen. Ihre Augen funkeln.

Ich gehe langsam auf sie zu und meine innere Anspannung steigt. Mir ihre Konturen einprägend, trete ich an den Tisch heran.

„Erik?“, haucht Carolin verunsichert.

Ich bücke mich und puste auch das letzte Licht aus.

Mich packt sofort die Erregung und als meine Hände sich auf ihre Arme legen, ist alles wie an dem Abend, als ich sie zu diesem Deal nötigte, der der Anfang von allem war. Jede meiner Berührungen entlocken ihr ein Seufzen und ich erforsche ihren Körper in dieser Dunkelheit und erinnere mich daran, wie es beim ersten Mal war. Bloß diesmal ist meine Anzahl an Küsse nicht begrenzt und ich schiebe ihr meine Zunge zwischen die Lippen, wann immer ich sie treffe.

„Komm!“, locke ich sie und lege ihre Hände auf meine Brust. Auch sie beginnt mich zu streicheln, zu fühlen, zu genießen … mit allen Sinnen, die die Dunkelheit bis ins Unermessliche steigert. Selbst unsere Küsse werden zu einem Erlebnis der besonderen Art. Wir streicheln uns und küssen uns mit einer Leidenschaft und Hingabe, als wäre es wirklich das erste Mal und doch mit der Intensität, die man nur in einer längeren Beziehung erreicht. Wir lassen nichts aus und in mir tobt das Verlangen wie ein Buschfeuer. Irgendwann ziehe ich sie durch die Dunkelheit ins Schlafzimmer.

Carolin lässt sich ins Bett fallen und zieht mich mit.

Auch diesmal erobere ich sie so wie beim ersten Mal, als sie selbst unseren Deal ausbaute und mir ihr Ja gab, sie ganz besitzen zu dürfen. Und die Erinnerung daran lässt mich kurz das Atmen vergessen.

Was mir damals als ein Erfolg der besonderen Art erschien, den ich erst nicht glauben konnte und daher fast panisch umsetzte, lasse ich jetzt mit allen Sinnen mich noch einmal erleben. Und mir wird zum ersten Mal bewusst, was dieses Ja von ihr wirklich bedeutet hatte. Ich besaß sie damals schon so viel mehr, als mir bewusst war.

Und Carolin ist diesmal nicht zurückhaltend und wird diesmal nicht von einem schlechten Gewissen gequält. Sie erwidert meine Liebe mit einer Hingabe, die ich damals nur erahnen konnte. Jetzt weiß ich um diese Stärke und fordere diese komplett für mich. Carolin gehört jetzt mir und das darf sich niemals ändern.

Am Montagmorgen habe ich Schwierigkeiten, sie in die Welt zu entlassen. Sie wirkt blass und müde und auch mir gibt die Zeitumstellung, die an diesem Wochenende erfolgte, ein Gefühl der Müdigkeit und Unzulänglichkeit mit.

Sie an mich ziehend, raune ich ihr mit belegter Stimme ins Ohr: „Ich lasse dich so ungern gehen. Am liebsten würde ich mit dir für immer hier in dieser Wohnung bleiben.“ Dabei schweift mein Blick durch unsere vier Wände, die für mich durch Carolin wieder zu einem Zufluchtsort wurden und mit denen ich mittlerweile die schönsten Zeiten meines Lebens verbinde. Hier und bei ihr geht es mir gut.

„Das würde ich mit dir auch lieber“, antwortet sie. „Aber wir müssen los und auch das Leben da draußen meistern.“ Sie sieht mir ins Gesicht und ich weiß, was sie meint. Ich hatte das ganze Wochenende ohne Drogen überstanden und sie ist stolz auf mich. An diesem Morgen hatte ich ihr eine Erwiderung auf das gegeben, was sie mir am Samstag in der Küche gesagt hatte. Als wir fest umschlungen uns noch einige Minuten in unserem Bett gönnten, sagte ich ihr, dass sie meine Droge ist und ich keine andere brauche, solange sie bei mir ist. Sie hatte mir daraufhin geantwortet, dass sie aber nicht ständig bei mir sein kann. Das ist mir natürlich klar, aber ich hatte nur in meiner alten, grimmigen Erikmanier geknurrt: „Ich weiß!“ und fühlte mich wie ein störrisches Kind. Ginge es nach mir, würde ich das ändern.

Nun stehen wir eng umschlungen zusammen im Flur und ihre Augen strahlen in meine. „Hier ist unser Treffpunkt! Hier findest du mich! Und ich habe mein Handy an und wir telefonieren heute Mittag, wenn ich zur Arbeit laufe, okay?“, sagt sie mit diesem Blick, der mir einen wohligen Schauer über den Körper treibt. Doch er kann mir nicht das ungute Gefühl nehmen, gleich ohne sie zu sein.

 

Ich nicke unzufrieden und mein Blick bleibt grimmig. „Und du passt auf dich auf. Jede Minute des Tages!“, zische ich und küsse sie noch einmal.

An der Wohnungstür klopft es schon ungeduldig und ich weiß, Ellen will sie mitnehmen.

„Natürlich!“, antwortet Carolin lächelnd, greift hinter sich zur Türklinke und öffnet Ellen die Tür.

„Guten Morgen!“, ruft die uns gut gelaunt zu. Aber dann legt sich sofort ein genervter Ausdruck über ihr Gesicht. „Mein Gott, ihr tut ja so, als müsstet ihr euch für Wochen trennen. Komm Erik, lass Carolin los. Es wird Zeit.“

Ich löse meine Umarmung und Carolin gibt mir noch einen schnellen Abschiedskuss. „Bis heute Abend, Schatz“, sagt sie und streicht mir noch einmal über meine Wange.

„Ich hole dich ab“, brumme ich, und Ellen verdreht die Augen.

Ihr geht das alles wieder einmal viel zu langsam und sie zerrt Carolin am Arm von mir weg. „Was ist los? Können wir jetzt endlich?“, brummt sie.

Auf der Treppe geht Daniel an ihnen vorbei. Wir wollen noch schnell einen Kaffee trinken, bevor wir losfahren.

„Hallo Daniel“, begrüßt Carolin ihn.

Er nickt ihr nur zu und kommt zu mir. Ich halte ihm die Tür auf und er brummt ein: „Hey Alter, alles klar?“ und begrüßt mich mit unserem alten Handschlag.

„Sicher“, murmele ich, und gehe ihm voraus in die Küche, um uns einen Kaffee zu kochen.

Schwerfällig lässt Daniel sich auf einen Stuhl sinken und murrt: „Was für ein Wochenende. Echt ätzend langweilig und dazu noch so ein scheiß Wetter. Und die Zeitumstellung gibt einem den Rest.“

Ich drehe mich nicht zu ihm um und lasse die zweite Tasse Kaffee durchlaufen. Mein Wochenende war, trotz dem schlimmen Beginn am Freitagabend, wirklich nicht langweilig und schon gar nicht ätzend und das schlechte Wetter hatte ich nur am Rande registriert.

„Nah, Carolin hat wenigstens das mit Julian gut weggesteckt, wie es scheint“, brummt er, als ich nicht antworte.

Ich stelle die Kaffeetassen auf den Tisch und hole Milch und Zucker. „Ja, hat sie. Sie ist wirklich ein Stehaufmännchen, wie du schon sagtest.“

Daniel schüttelt den Kopf. „Dass dieser Typ ihr Bruder ist!“

„Ja, unglaublich. Sie ist so hell und er so dunkel. Aber er ist ja auch nur ihr Halbbruder. Er muss wohl schwer nach dem Vater gehen … wie Tim“, antworte ich und lasse Zucker in meine Tasse rieseln.

„Geht Carolin denn nach ihrem Vater?“, fragt Daniel mich und ich hebe nur unwissend die Schulter. Ich kenne ihre Mutter nicht und weiß nicht, wem sie wirklich ähnelt.

Wir trinken schweigend unseren Kaffee und machen uns dann auf den Weg zur Uni. Ich ertappe mich dabei wie ich immer wieder nach Julian Ausschau halte, sehe ihn aber nirgends. So ein Enrique Iglesias Verschnitt fällt hier sofort auf.

In einer kurzen Pause vor der letzten Lesung rufe ich Carolin an. Ihr geht es gut und Ellen bringt sie zum Cafe. Die ruft zur Bestätigung ein: „Hallo! Nerv nicht rum!“ ins Handy.

Ich erinnere Carolin daran, dass ich sie am Abend abhole und sie auf alle Fälle auf mich warten soll. Dass Julian ihr am Freitag so auf die Pelle rückte, beunruhigt mich. Ich kann einfach nicht einschätzen, wie weit er gehen wird, um erneut an Carolin heranzukommen.

Als ich abends das Cafe betrete, räumt Carolin gerade das letzte Geschirr in die Spülmaschine. Ich setze mich auf meinen Platz und sie kommt wenig später mit einem Cappuccino mit einem Schaumherz, dass sie mir stolz präsentiert, zu mir.

Ich ziehe sie an mich und küsse sie. Ich weiß, sie mag das nicht. Aber es ist niemand im Cafe, den das aufregen könnte.

Zehn Minuten später verlassen wir den Laden und gehen zu dem türkischen Imbiss, um einen Döner zu essen.

Carolin ist blass und ich frage mehrmals, ob etwas vorgefallen ist und ob es ihr gut geht, bekomme aber keine vernünftige Antwort. Darum beschließe ich Ellen auszuhorchen.

Zu der ziehe ich Carolin, als wir nach Hause kommen. Statt in unsere Wohnung zu gehen, machen wir einen Abstecher zu Daniel. Wir finden Ellen auf dem Sofa und sie sieht sich mal wieder irgend so einen Schwachsinn im Fernsehen an.

Ich lasse mich neben sie auf das Sofa fallen und ziehe Carolin auf meinen Schoß. Daniel reicht jedem ein Bier und setzt sich in den Sessel.

„Und, alles in der Schule glattgelaufen?“, frage ich Ellen ohne Umschweife.

Sofort brummt sie aufgebracht: „Ey, voll der Hammer! Michaela hat die Seiten gewechselt. Die ist jetzt scheinbar mit Julian zusammen.“

„Scheiße!“, raune ich. Mir kommt sofort in den Sinn, dass sie schon hier bei Daniel auf dem Hof war. Weiß sie, dass Carolin hier wohnt?

„Diese blöde Schlampe“, brumme ich aufgebracht. „Die wird ihm alles stecken, was er wissen will. Sie weiß immerhin, wo Daniel wohnt. Zumindest wohntest du damals noch nicht hier“, wende ich mich nachdenklich an Carolin. „Hoffentlich kann Julian nicht eins und eins zusammenzählen.“

„Leider ist er viel klüger als ich“, antwortet Carolin nur.

Wir trinken unser Bier und versuchen uns mit belanglosen Sachen von dem leidigen Thema abzubringen. Aber mir kommt immer wieder in den Sinn, was Michaela alles von uns weiß. Sie war sogar in der Villa. Und sie ist mehr als wütend auf mich, weil ich sie so abservierte, nachdem ich sie in meinem Bett hatte. Hoffentlich ist das jetzt keine Retourkutsche?

Als ich später mit Carolin in unsere Wohnung gehe, ziehe ich sie im Wohnzimmer an mich und raune aufgebracht: „Das war echt ein blöder Fehler … an diesem Abend.“

„Was?“, fragt sie und weiß nicht, was ich überhaupt meine.

„Mich mit Michaela einzulassen. Das war so unnötig und blöd!“, knurre ich wütend über mich selbst. Ich war so lange so ein nichtsnutziges, hirnloses Individuum, dass ich es jetzt gar nicht fassen kann.

„Das lässt sich nicht mehr ändern“, flüstert Carolin resigniert. „Ich habe an dem Abend auch Scheiß gemacht, den ich besser gelassen hätte.“

„Ich frage besser nicht, von was du sprichst. Da Tim mit im Spiel war, kann es aber auf keinem Fall etwas Gutes gewesen sein“, brumme ich.

Sie antwortet nicht und vergräbt sich tiefer in meinen Armen.

Ich muss wieder daran denken, dass Julian sich nun immer in Carolins Nähe schleichen kann. „Wenn Julian mit Michaela zusammen ist, wird er bestimmt öfters an deiner Schule aufkreuzen“, sage ich nach einiger Zeit.

„Das ist egal. Solange er mich in Ruhe lässt“, murmelt Carolin leise und beendet damit das Thema.

Donnerstagabend sitzen wir alle vier in unserer Küche und Carolin telefoniert mit ihrem Vater. Er will scheinbar, dass Carolin zu Besuch nach Hause kommt.

Ich schüttele darüber nur den Kopf. Carolin wird auf keinen Fall nach Hause fahren. Oder wenn, dann nur mit mir zusammen.

Sie steht auf und wechselt ins Wohnzimmer, als Ellen sich lautstark aufregt: „Julian kreuzt jeden Tag an der Schule auf und holt Michaela ab. Dabei sieht er Carolin wie ein getretener Hund an. Und Michaela heult Carolin jeden Tag voll, dass sie ihm verzeihen muss, weil er doch sooo traurig ist.“

Ich kann es nicht fassen. Carolin hatte das mit keinem Wort erwähnt. Offenbar muss ich Julian mal den Kopf zurechtrücken und wenn es sein muss, Michaela gleich mit.

„Wir müssen wohl ein ernstes Wort mit Julian reden“, knurre ich, an Daniel gerichtet.

Im selben Moment erscheint Carolin wieder in der Tür und Daniel nickt nur bestätigend. Carolin scheint das nicht mitzubekommen und ich bin froh darüber. Sie soll davon besser nichts wissen.

Als wir an diesem Abend im Bett liegen und sie meine Narben streichelt, fragt sie leise: „Erik, habt ihr etwas wegen Julian vor?“

„Warum?“, stelle ich eine Gegenfrage und kann es nicht fassen, dass sie das ahnt.

„Bitte lasst es! Ich möchte, dass ihr euch ganz von ihm fernhaltet.“

Diese Bitte kann und will ich ihr nicht erfüllen. Aber ich kenne sie. Sie wird mir dafür ein Versprechen abknöpfen wollen.

Ich schiebe mich schnell auf die Seite und drücke sie auf den Rücken, um sie zu küssen. Sie versucht mich zur Seite zu schieben, um eine Antwort zu erhalten und ich fixiere ihre Arme über ihrem Kopf, dränge mich zwischen ihre Beine und küsse sie erneut. Ich bin sofort bereit und presse meine Hüfte an ihre und bedränge sie mit meinem fordernden Freund.

Nicht lange und sie gibt ihre Abwehrhaltung auf und erwidert meine stürmische Zuneigung. Das Thema ist erst mal beendet. Doch zu meinem Leidwesen alles andere auch bald. Carolin hat ihre Tage und ich lasse von ihr ab und nehme sie in meine Arme, mich nur noch auf Streicheleinheiten begrenzend, um sie das Thema auch nicht wieder aufnehmen zu lassen. Müde und abgekämpft lässt sie sich bald in den Schlaf fallen.

Ich kann nicht so schnell einschlafen. In meinem Kopf spielen sich hundert Möglichkeiten ab, was ich mit Julian anstellen möchte, um ihm klarzumachen, dass er sich von seiner Schwester fernzuhalten hat. Wenn ich tun könnte, was ich tun möchte, dann hätte er nichts mehr zu lachen.

Am nächsten Tag sind es allerdings nicht Daniel und ich, die Julian auflauern, sondern Julian, der uns auflauert. Wir stehen in der Pause in der Raucherecke, als Daniel mich anstößt und ich mich umdrehe.

Hinter mir taucht Julian auf. Seine dunkelbraunen Augen sehen mich wütend an und er zischt, als ich mich zu ihm umwende: „Erik, auch wenn du dich für den Größten hältst, leg dich bloß nicht mit mir an. Wenn du Carolin nicht mit mir reden lässt oder sie irgendwie manipulierst, damit sie mich ignoriert, dann mache ich dir das Leben zur Hölle!“

Ich muss gestehen, dass ich erst etwas perplex bin. Aber dann knurre ich: „Was willst du Spinner überhaupt? Glaubst du wirklich, ich lasse dich auch nur auf zwei Meter in ihre Nähe kommen?“

Julians Augen verengen sich und er streicht sich mit einer fahrigen Bewegung seine dunklen Haare zurück. Dann stößt er seinen langen, schmalen Zeigefinger vor meine Brust und faucht: „Sie ist immer noch meine Schwester und du hast ihr und mir gar nichts zu sagen. Wenn ich mit dem Finger schnippe, bist du wieder im Knast, wo solche wie du hingehören. Ich weiß alles über dich! Also pass auf, was du tust oder sagst. Ich werde nicht zulassen, dass sie an so etwas wie dir hängen bleibt. Carolin und ich sind Geschwister und werden immer Geschwister bleiben, auch wenn solche wie du schon längst Schnee von gestern sind. Sie wird das irgendwann einsehen. Sie kann mich nicht ewig ignorieren. Also stell dich nicht zwischen uns.“

Ich starre ihn nur an, und er dreht sich um und geht. Jeden anderen hätte ich platt gemacht. Aber hier, heute und bei Julian stehe ich nur da, als wäre ich festgewachsen.

In mir brodelt etwas auf. Er weiß alles über mich und mit einem Wort kann er mich bei ihren Eltern in Misskredit bringen. Und das erscheint mir schlimmer, als die Drohung, mich wieder in den Knast zu bringen.

Daher erscheint mir dann auch der Deal, den wir am späten Nachmittag für Walter zu erledigen haben, wie eine unnötige Gefahr. Das sind die Momente, in denen Julian leichtes Spiel hätte, wüsste er davon. Aber woher soll er das wissen? Bisher hatte er sich angeblich nur bei Mitschülern über mich und Daniel erkundigt, was mir allerdings schon als schlimm genug erscheint. Selbst das, was er da zu hören bekommen könnte, soll Carolins Eltern auf keinen Fall zu Ohren kommen.

Aber bei dem Auftrag verläuft alles reibungslos und Daniel und ich gehen sofort in meine Wohnung hoch, weil in Daniels nicht mal Licht brennt.

Tatsächlich finden wir Ellen dort, die uns gleich entgegenspringt, Daniel küsst und ihn aufgedreht fragt: „Schatz, gehen wir gleich zur Kirmes? Die andern sind da heute Abend auch.“

In mir schrillen sofort alle Alarmglocken. Ich tue so, als hätte ich das überhört und suche Carolin. Aber sie ist nirgends.

„Wo ist Carolin?“, brumme ich eiskalt. Wenn Ellen nur diesen Scheiß im Kopf hat und Carolin nicht abgeholt hat, ist was los!

„Hier, Schatz!“, kommt es vom Badezimmer her und ich atme auf.

„Gut“, raune ich beruhigt. „Ich dachte schon, Ellen hätte dich vergessen. Die hat wieder nur Partys im Kopf!“

Carolin kommt zu mir und küsst mich, was mich ein wenig meine aufgekeimte Wut schlucken lässt. Aber dass die Mädels schon wieder losziehen wollen, lässt meine Wut nicht ganz verrauchen.

 

„Nah und? Dann wäre ich auch allein nach Hause gegangen“, sagt sie und schenkt mir ein beruhigendes Lächeln.

Ellen sagt schmollend: „Wenn ich sage, ich hole sie, dann mache ich das auch.“

Wir gehen in die Küche und Carolin ruft, um die Stimmung etwas zu heben: „Wochenenddrink!“

Aus dem Kühlschrank nimmt sie zwei Bier und zwei Alster und verteilt sie. Zu meinem Leidwesen startet Ellen erneut: „Gehen wir heute zur Kirmes? Bitte! Die Mädels sind auch da.“

„Können wir“, sagt Daniel und stupst sie an ihre Nasenspitze. Seine blauen Augen funkeln sie spitzbübisch an. „Aber dann fährst du auch mit mir Karussell.“

„Was immer du willst“, sagt sie grinsend und sieht sich ihrem Ziel schon ganz nah.

„Wir nicht“, sage ich nur und trinke mein Bier.

Zu meiner Überraschung trinkt Carolin nur ihr Alster und sagt nichts. Sie scheint tatsächlich meine Antwort zu akzeptieren.

Aber Ellen will das nicht gelten lassen. „Natürlich kommt ihr mit“, knurrt sie.

„Nein, wir bleiben heute zu Hause. Morgen gerne. Aber nicht heute! Carolin war schon den ganzen Tag unterwegs und jeden Freitag passiert etwas. Sie ruht sich aus und morgen können wir machen, was sie möchte“, antworte ich Ellen mit unerbittlichem Blick.

Und Carolin sieht mich zufrieden an und murmelt: „Ich bin auch wirklich ziemlich kaputt.“

Ich werfe ihr einen schnellen, unsicheren Blick zu. Kein Widerstand heute? Unglaublich!

Daniel beschwichtigt Ellen, weil die schon wieder an die Decke zu gehen droht: „Süße, wir gehen einfach alleine. Morgen kommen die beiden dann mit. Carolin hat wirklich ein strenges Wochenprogramm und es soll ihr doch nicht alles zu viel werden.“

Ellen sieht ihn an, als wolle sie ihn fressen. Doch dann scheint sie die Ausweglosigkeit zu erkennen, in der sie ihr Anliegen von vornherein hätte sehen müssen und nickt nur schmollend. Dafür trinkt sie nun schnell ihre Flasche leer und mahnt zum Aufbruch.

Daniel kann nur genauso schnell sein Bier hinunterkippen und verabschiedet sich von uns, eine wegwerfende Handbewegung machend. Dabei grinst er mich an und ich nicke nur, froh, dass die beiden endlich gehen. Ich bringe sie sogar noch zur Tür und verabschiede sie.

Ellen geht, ohne mich auch nur anzusehen.

Als sie endlich weg sind, rauche ich am Wohnzimmerfenster stehend erst mal eine Zigarette, während ich Carolin in der Küche hantieren höre.

Die Backofentür schlägt zu und Carolin kommt aus der Küche ins Wohnzimmer. Ich sehe ihr entgegen, unschlüssig, ob ich ihr erzählen soll, was heute vorgefallen war.

Ihr Gesichtsausdruck wandelt sich sofort in besorgt. „Okay, spucks aus. Was ist los?“, fragt sie ohne Umschweife und ich bin irritiert. Woher weiß sie, dass etwas nicht stimmt?

Um Zeit zu schinden, nehme ich eine weitere Zigarette für sie, zünde sie an und schiebe sie ihr zwischen die Lippen. Ich mache das immer noch gerne. Es ist ein Zeichen der Zusammengehörigkeit und ich muss immer daran denken, wie ich es das erste Mal tat und sie so gerne küssen wollte. Und ihren Blick damals …

Mir wird bewusst, dass wir eine Woche keinen Sex hatten, weil Carolin seit dem Wochenbeginn ihre Tage hat. Mir fehlt dieser Teil unserer Zusammengehörigkeit.

Um mich davon abzulenken, entscheide ich mich dazu, ihr von meiner heutigen Begegnung mit Julian zu erzählen. Den Blick wieder aus dem Fenster richtend, raune ich: „Julian!“

„Was ist mit dem?“, fragt Carolin und verschluckt sich fast an dem Zigarettenrauch.

„Er ist heute bei uns aufgekreuzt und hat Ärger gemacht“, murmele ich nur.

„Wie? Was hat er denn gemacht?“, fragt sie.

In mir kocht die Wut bei dem Gedanken hoch, wie er mich zusammengestaucht hatte und ich mich von ihm niedermähen ließ.

„Blöde Sprüche hat er losgelassen. Dass ich dich nicht davon abhalten soll, ihn zu treffen und dass er mich ohne weiteres aus dem Weg räumen könnte, wenn er wollte.“

„Was?“ Es ist fast wie ein Aufschrei, den Carolin entsetzt ausstößt.

„Er hat sich nicht weiter darüber ausgelassen, was er meint. Aber ich habe schon gehört, dass er Mitschüler über mich und Daniel ausfragt. Und ich weiß, was man von mir sagt“, füge ich leise hinzu.

Fassungslos sieht sie mich an. „Was genau kann ihm zu Ohren gekommen sein?“, fragt sie beunruhigt.

Ich antworte nicht sofort. Aber es nützt nichts. Es ist besser, sie weiß Bescheid.

„Drogen, Schlägereien, Knast, nicht gerade zuvorkommender Umgang mit Mädchen. Um nur ein paar Punkte zu nennen“, kommt es über meine Lippen und mir ist unbehaglich zumute. Wie sollen sich Eltern von einem Mädchen fühlen, wenn sie hören, dass der Freund ihrer Tochter das alles zu bieten hat?

„Alles Dinge, die Julian auch verbuchen kann. Zumindest auf die eine oder andere Weise“, meint sie nur. „Außerdem hat er noch versuchten Mord auf der Liste“, fügt sie noch hinzu.

Ich weiß, sie will mich beruhigen. Aber sie versteht nicht, was mich so verzweifeln lässt. „Darum geht es nicht. Was meinst du, wenn er das deinen Eltern erzählt?“, murmele ich.

Sie scheint nicht glauben zu können, dass mich das interessiert und meint dazu nur: „Nah und?“, und fügt etwas belustigt hinzu: „Du willst doch in nächster Zeit nicht um meine Hand anhalten, oder? Also was stört es dich?“

Ich sehe sie ernst an. Sie versteht mich einfach nicht. „Ich möchte dich nicht verlieren“, erkläre ich und schlucke den Kloß hinunter, der sich im meinem Hals gebildet hat.

Völlig verdattert sagt Carolin: „Erik, uns bringt nichts und niemand auseinander!“ Um das zu besiegeln, küsst sie mich auf die Wange. „Und jetzt essen wir erst was. Komm Schatz, und vergiss Julian. Er ist nur sauer, weil ich immer noch nicht einlenke und wieder die liebe Schwester spiele“, zischt sie und zieht mich in die Küche.

Aus dem Herd strömt uns der Duft von Hawaitoasts entgegen. Zumindest kommt mein Appetit wieder, seit ich keine Drogen mehr nehme.

Carolin wirkt beim Essen besorgt und ich weiß, sie macht sich auch Sorgen darum, wie es mit Julian weitergehen soll.

Ich möchte nicht, dass dieses Thema zu übermächtig wird und sie wieder einem Zusammenbruch entgegensteuert. So lasse ich mich von ihren manchmal ziemlich lustigen Geschichten über ihren Arbeitsalltag fesseln und versuche nicht mehr an Julian zu denken. Carolin scheint das gleiche Ziel damit zu verfolgen.

Und dann erzählt sie mir, wie es damals wirklich war, als ich sie das erste Mal vom Café abholte und bevor wir unser heißes Intermezzo in dem kleinen Hinterraum hatten.

„Du hättest die beiden Frauen sehen sollen, die ich da gerade bediente. Die wussten schließlich nicht, dass wir uns kennen und sie fanden, ich müsse ganz schnell den gutaussehenden, jungen Mann bedienen. Und dann wollten die gar nicht wieder gehen, weil sie miterleben wollten, wie wir beide aufeinander reagieren. So, als wollten sie die Entstehung der ersten großen Liebe zweier junger Menschen hautnah miterleben“, sagt Carolin lächelnd.

Ich muss lachen, als ich daran denke, wie ich mich an den Tisch gesetzt hatte und die Damen, die Carolin bediente, sie auf mich aufmerksam machten.

„Ich habe gehört, wie sie dich zu mir schickten und du so ganz verwegen gesagt hast: Nah, dann will ich den unglaublich tollen, jungen Mann mal bedienen." Ich lache über ihren Gesichtsausdruck und sie erwidert schnippisch: „So, habe ich etwas von einem unglaublich tollen, jungen Mann gesagt?“

„Ja, irgendwie so was. Kann auch der superschöne, unglaublich sympathische gewesen sein“, setze ich noch einen oben drauf.

Carolin schüttelt den Kopf und lacht laut auf. „Nein, war das nicht eher so was wie der muskulöse Adonis mit dem Quotienten von Einstein?“

„Ja, das kann es auch gewesen sein“, grinse ich schelmisch und Carolin steht auf und quetscht sich zwischen den Tisch und mir auf meinen Schoß. Ihre Augen funkeln anzüglich. „Gut Adonis. Dann lass uns die Küche aufräumen und schauen, ob du wirklich so gut gebaut und muskulös bist.“