Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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Ich sehe sie groß an. Diese Auflage muss ihr schwer zu schaffen machen.

Nun schaltet Marcel sich ein und berichtet von einer Ausführung der Geschichte, die im Internet steht. Wir versuchen zu ergründen, was man mit mir und Julian in Verbindung bringen kann. Da wir aber Ferien haben, fällt es ja nicht weiter auf, dass wir nicht mit Anwesenheit glänzen. Schließlich könnten wir auch im Urlaub sein.

Die Tür öffnet sich erneut und eine Schwester sieht ins Zimmer. Sie weist freundlich darauf hin, dass die Besuchszeit vorbei ist. Marcel sehe ich an seinem Gesicht an, dass ihm das ziemlich gegen den Strich geht.

„Ich bin doch gerade erst gekommen“, mault er und wirft einen flehenden Blick in das unbestechliche Gesicht der Krankenschwester.

„Ich komme ja bald raus und dann können wir uns sehen, so lange du willst“, versuche ich ihn wieder fröhlich zu stimmen.

Ich verteile heute, Marcel gegenüber, unglaublich überschwänglichen Enthusiasmus für unsere Zukunft. Fast kommt es mir so vor, als wolle ich etwas herausfordern.

Der dankt es mir mit einem unglaublich süßen Lächeln. Mir wird mal wieder bewusst, wie gut er aussieht, und das auch er mein Herz durchaus höherschlagen lässt.

Marcel steht schwerfällig auf, als wäre er an meinem Bett angekettet und bietet Christine an, sie nach Hause zu bringen. Sie nimmt das Angebot freudestrahlend an.

Er gibt mir noch einen Kuss und bittet: „Kann ich dich später auf deinem Handy anrufen?“

Das ist eigentlich verboten und ich weiß nicht mal, ob mein Handy hier ist.

„Ich schau, wo das ist und ob es geht. Dann rufe ich dich an. Aber versprechen kann ich nichts“, antworte ich und werde erneut von diesem Gefühl getrieben, ihm jeden Wunsch zu erfüllen.

Marcel nickt und folgt Christiane mit mürrischer Miene zur Tür. Die dreht sich noch einmal zu mir um und winkt.

Ich lege meinen Zeigefinger auf den Mund, um sie daran zu erinnern, dass sie nichts Unüberlegtes sagt. Sie zwinkert mir nur zu, grinst und ist verschwunden.

Ich lasse mein Kopfteil absinken und seufze müde. Was war das für ein Tag? Ich kann nur hoffen, dass ich diese Nacht gut schlafen kann, damit ich am nächsten Tag aussehe wie das blühende Leben. Schließlich will ich unbedingt schnellstmöglich nach Hause.

Dann fällt mir mein Handy ein.

Ich suche die Schublade meines Nachtisches ab und muss mich dann doch aus dem Bett quälen, um meinen Schrank zu durchsuchen. Dort finde ich in einer Mülltüte einige der Sachen, die ich bei meiner Einlieferung anhatte, aber kein Handy. Also wird das mit dem Telefonieren wohl nichts.

Das Telefon auf meinem Tisch fällt mir ein und ich frage mich wie das wohl funktioniert. Ich gehe zum Bett zurück und finde in der kleinen Schublade eine riesige Anleitung, wie es aufgeladen wird und wie man dann telefonieren kann. Das Aufladen geht nur an einem Automaten im Untergeschoss bei der Anmeldung.

Nah toll. Dann eben nicht.

Ich lege mich ins Bett und mein schlechtes Gewissen lässt Marcel vor meinem inneren Auge erscheinen, traurig auf sein Handy starrend, wie schon so oft zuvor.

Wie viele Male hatte ich ihm gesagt, dass wir telefonieren werden und es doch nicht getan. Und dennoch steht Marcel unerschütterlich zu mir. Er verlangt nichts weiter als ein wenig meiner Zuneigung. Mir fällt unser gemeinsamer Abend bei ihm zu Hause ein. Ich hatte eine ganze Nacht in seinen Armen verbracht und er hatte mich nicht angerührt. Erst an Morgen hatte er sich ein paar unschuldige Küsse gestohlen. Ich weiß, Tim wäre dazu niemals in der Lage.

Verdammt!

Mir ist völlig klar, dass ich es nicht bis in den untersten Stock schaffen werde, um das Telefon aufzuladen, mal ganz davon abgesehen, dass ich gar kein Geld dabeihabe.

Um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, denke ich mir, dass es vielleicht besser ist, Marcel in nichts zu sehr zu bestärken. Also entfällt das Telefonieren erst noch. Schließlich habe ich Tim und die Gefühle von ihm auch in Ketten gelegt. Also ist besser, ich mache Marcel auch nicht zu viel Hoffnung, bevor ich alles klarer sehe.

Mein Abendbrot wird gebracht und ich esse ohne viel Appetit. Dabei schalte ich den Fernseher ein, der sogar funktioniert. Nur die Programmauswahl ist äußerst begrenzt. Doch das ist egal. Hauptsache es flimmert und lässt meinen Gedankenfluss einige Zeit stillstehen.

Einige Dokus und Nachrichten später, beschließe ich das Licht zu löschen und wenigstens einen schnellen Schönheitsschlaf einzuläuten. Dann kann ich zumindest schnell nach Hause.

Vor meinem Fenster weicht das Tageslicht schon der Dämmerung und ich lege mich auf die Seite, um mir das Schauspiel anzusehen. Dabei bemühe ich mich an nichts zu denken. Doch Marcel und Tim huschen in kleinen Abständen immer wieder durch meinen Kopf, der das auch jedes Mal meinem Herz petzt. Ich frage mich, wen ich mir jetzt und hier in mein Bett wünsche, wenn ich eine Wahl hätte - Marcel oder Tim.

Es ist ein Tauziehen der Gefühle und zu meiner Überraschung gewinnt in diesem Augenblick Marcel.

Ich bin beruhigt. Marcel ist gut … sogar sehr gut. Bei ihm kann ich mir sicher sein, dass ich zumindest keinen Schaden nehme, wie bei Tims stürmischen Übergriffen. Seine heute wieder an den Tag gelegte sanfte Art erscheint mir sicherer als Tims drängende und unberechenbare, deren Ursprung undefinierbar ist. Aber Marcel scheint mir auch viel verletzbarer als Tim zu sein.

Erneut bestärkt sich bei mir der Gedanke, Marcel auf keinen Fall zu viel Gefühl entgegenzubringen, was ihn in etwas bestärkt, das sich dann doch nicht erfüllt. Schließlich habe ich mich noch nicht für einen der beiden entschieden.

Ich versuche erneut einzuschlafen und dabei soll mir das Schauspiel der aufsteigenden Nacht vor meinem Fenster helfen. Aber erst als ich in Gedanken doch eine Entscheidung treffe, werde ich ruhiger. Und diese Entscheidung heißt, dass ich mit Marcel erst einmal alles so lasse, wie es ist und mich bei Tim zurückhalte, bis ich weiß, ob es nicht nur Manipulation ist, die uns aufeinander fixiert.

Das Stück Himmel, das ich sehe, verfinstert sich zusehends und damit legen sich auch endlich meine Gedankengänge schlafen. Ich drifte langsam aus dieser Welt in die des Schlafes.

Als ich plötzlich wach werde, ist es draußen dunkel. Die Straßenlaterne erhellt wieder einen Teil meines Zimmers und taucht es in seichte Schatten. Ich liege immer noch auf der Seite, mit Blick auf das Fenster und mir ist unglaublich warm. Langsam fallen meine Augen wieder zu und ich will mich in den unglaublichen Traum zurückfallen lassen, aus dem ich erwacht war. Mein ganzer Körper ist noch von der Sehnsucht erfüllt, die Marcel und Tim in mir entfachten, als sie mich auf einer Tanzfläche zwischen sich einkeilten, mich küssten und ihre Hände über meinen Körper laufen ließen. Plötzlich höre ich eine Stimme nah an meinem Ohr, die mir mit heißem Atem zuflüstert: „Carolin, bitte erschreck nicht.“

Das ist ein weiterer schöner Traum, schießt es mir durch den Kopf und wenn ich mich nicht rühre, werde ich ihn weiter träumen - und träumen ist erlaubt.

Ich kuschele mich wohlig in meine Decke und gebe mich dem neuen Traum hin.

Neben mir drängt sich jemand auf das schmale Bett und dicht an mich heran. Ein Arm schiebt sich von hinten vorsichtig um mich und eine Hand legt sich auf meine Brust. Warmer Atem haucht in mein Haar. Es ist ein unglaubliches Gefühl und lässt einen heißen Wüstenwind über meinen Körper streichen. Diesmal ist es nur einer der beiden, der bei mir ist.

Die Hand gleitet unter den Stoff meines Pyjamas und legt sich auf meine nackte Haut.

Soll ich mich umdrehen und mich an ihn schmiegen? Es ist ein Traum und im Traum kann man sich sogar aussuchen, wen man umarmt.

Tatsächlich überlege ich, wen ich erwarte. Ich glaube, dass es Tims Stimme war, die mir ins Ohr gehaucht hatte. Aber da es ein Traum ist, kann ich mir auch Marcel vorstellen.

Langsam drehe ich mich um und meine Entscheidung ist getroffen. Im wahren Leben habe ich Marcel, also muss ich Tim in meinen Träumen meine Liebe schenken. Das ist, was meine Grübelei Stunden zuvor als die beste momentane Variante erdacht hatte.

Ich schlinge meine Arme um ihn und schmiege mich an seinen Körper, der selbst durch die Decke siedend heiß zu sein scheint. Ich höre, wie er tief einatmet und die Luft anhält.

Mein Kopf will mir etwas aufdrängen, was ich aber nicht wissen will. Ich halte mich daran fest, dass dies nur ein Traum sein kann.

Die Decke rutscht zur Seite, durch irgendetwas gezogen. Lippen treffen meine und ich erwidere den heißen Kuss, spüre die drängende Zunge an meiner und verschmelze mit ihr.

Hoffentlich träume ich so etwas nie, wenn Marcel bei mir ist. Das wäre mein Untergang, versuche ich mein Gewissen zu unterjochen, das mir einzureden versucht, dass dies kein Traum sein kann.

Eine Hand gleitet über meinen Bauch.

Gott, ist mir heiß.

Sie sucht sich einen Weg bis zu meinen Brüsten, was ich aber nur schwer registrieren kann, da mir die verlangenden Küsse den Atem nehmen. Langsam schiebt sie sich über die Wölbung meiner Brust und die Brustwarze und mir läuft ein Schauer über den Körper. Ich dränge mich ihr entgegen und spüre wie der heiße Körper an meinem erzittert. Die Hand läuft über meinen Bauch nach unten, überwindet das Bündchen meiner Schlafanzughose und schiebt sich zwischen meine Beine.

Kurz werde ich unsicher, aber die Küsse nehmen mir alle Hemmungen und alle Angst. Was für ein Traum. Willig lasse ich meine Beine auseinanderfallen und spüre etwas in mich eindringen. Das Gefühl ist unbeschreiblich und die Bewegungen entfachen ein Buschfeuer in mir. Ich stöhne auf und erhalte ein dumpfes, keuchendes Echo in meinem Mund. Etwas drängt hart an mein Bein und ein Körper schiebt sich auf mich. Die drängenden Liebkosungen zwischen meinen Beinen werden von etwas anderem ersetzt, das sich gegen den Stoff meiner Schlafanzughose drängt, die heruntergezerrt wird. Meine Lippen werden für einen Moment freigegeben und ich höre Tim stammeln: „Carolin, bitte Carolin! Ich kann unsere dumme Abmachung nicht einhalten. Ich brauche dich und muss immer an dich denken. Bitte …!“

 

Mit den gestammelten Worten kann ich den Gedanken, dass dies alles ein Traum ist, nicht weiter aufrechterhalten. Die Stimme klang zu real und das folgende Keuchen beim Herunterschieben meiner Hose auch. Der heiße Körper auf meinem und die feuchte Zunge an meinem Ohr, die mein Ohrläppchen liebkost und mir ihren heißen Atem ins Ohr haucht, reißt mich ganz in die Gegenwart. Ich reiße die Augen auf.

Ich bin im Krankenhauszimmer in meinem Krankenhausbett, und das seichte Licht der Straßenlaterne erhellt es von einer Seite und die Notbeleuchtung an der Tür von der anderen Seite.

Ich bin wach und dennoch ist die Hitze immer noch da, sowie der heiße Körper und die heiße Hand, die erneut zwischen meine Beine drängt, um im nächsten Moment etwas anderem Hartem, Heißem Platz zu machen, das sich seinen Weg sucht. Wieder schieben sich feuchte Lippen zu meinem Mund und verschießen ihn. Der heiße Körper schiebt sich dabei auf mir hoch und ich spüre erneut etwas, das meine Gefühle zum Kochen bringt. Aber das ist es auch, was mich erschreckt, und alle meine Alarmglocken läuten lässt.

„Tim!“, rufe ich entsetzt. Voller Angst, dass er etwas mit mir tut, dass mich unwiederbringlich ins Unglück stürzen wird, bäume ich mich auf, drehe mich zur Seite und stoße den Körper von mir runter. Eigentlich glaube ich nicht viel Kraft angewandt zu haben. Aber es rumst auf dem Fußboden.

In meiner Halswunde reißt es entsetzlich und ich habe das Gefühl, die Naht gibt nach. Ich stöhne auf.

„Scheiße!“, höre ich im selben Moment ein unterdrücktes Fluchen. „Scheiße, tut das weh.“

„Was machst du denn auch?“, fauche ich, mich aufsetzend. Dabei presse ich meine Hand auf den Verband. Ich kann nicht fassen, dass ich seinem Drängen beinahe nachgegeben habe. Ich schüttele über mich den Kopf und weiß, dass ich selbst es soweit kommen ließ, weil ich mich einfach an den Wunsch geklammert hatte, dass alles nur ein Traum ist. In mir vibriert immer noch alles und will sich am liebsten wieder in Tims Arme stürzen. Aber das geht nicht. Und um meiner Empörung, weil wir fast ohne Verhütung miteinander geschlafen hätten, freien Lauf zu lassen, fauche ich: „Spinnst du denn?“, und zerre meine Kleidung wieder an den richtigen Platz.

Tim zieht sich am Bett hoch und sein Gesicht ist schmerzverzerrt, während er seinen Oberkörper untersucht. Er flucht immer noch leise und streicht über seinen Verband.

Er tut mir nicht leid. Da es kein Traum war, musste ich ihn stoppen und was er mit mir tat, treibt mir jetzt noch die Schamesröte ins Gesicht.

Aber dann sehe ich seine dunklen Augen in dem dämmrigen Licht aufblitzen und wie er sich stöhnend auf das Bett schiebt. Er scheint wirklich Schmerzen zu haben. Das erschüttert mich dann doch.

„Tim?“

„Musste das sein? Ein Stopp hätte gereicht“, brummt er zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch.

Nah, das glaube ich nicht. Aber ich will nicht mit ihm diskutieren.

„Ich konnte nicht schlafen“, murmelt er, als wolle er sein Handeln erklären. „Ich wusste, dass du nur ein Stockwerk über mir liegst und wollte dich eigentlich nur sehen. Aber dann hast du dich so in deine Decke gekuschelt und ich dachte, dass du mich gehört hast“, raunt er leise. „Es ist unglaublich!“, redet er in einem Wortschwall weiter. „Wenn ich bei dir bin werde ich echt zum Tier.“ Er grinst wohl, denn ich sehe eine weiße Zahnreihe aufblitzen und ich bin froh, dass er sich von dem Sturz wieder erholt hat und auch noch witzig sein will.

„Siehste, das meine ich doch. Das ist alles nur dunkler Zauber“, mahne ich und weiß nur zu gut, was er meint. Aber mir wird auch klar, dass ich besser dagegen ankomme als er. Vielleicht liegt das an Marcel? Dass ich Tim und dem Fluch des Alchemisten nicht nachgebe, ist vielleicht wirklich sein Verdienst.

Tim setzt sich schwerfällig auf. „Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht überfallen. Und meine Rippen waren auch dagegen, das kannst du mir glauben. Aber du machst mich echt rasend! Und ich war mir sicher, dass du es auch willst.“ Wieder grinst er mich entschuldigend an. „Und dass du mich einfach aus dem Bett schmeißt … Ich hätte mir etwas abbrechen können“, versucht er das Ganze ins Scherzhafte zu ziehen.

Draußen im Gang hören wir Stimmen und die Schwestern, die hin und her laufen. Ich hoffe nur, sie kommen nicht rein.

„Geht’s denn wieder?“, frage ich und bekomme nur schwer die Gefühle aus dem Kopf, die er in mir entfacht hatte. Beinahe hätten wir miteinander geschlafen.

Meine Gefühle diesbezüglich sind schrecklich gegensätzlich. Fast bereue ich mein Eingreifen. Hätte ich nicht noch einen Augenblick den Glauben an einen Traum aufrechterhalten können? Wenn Tim nichts gesagt hätte …

Aber mir ist auch klar, was ich verhinderte. Wenn doch nur alles ein alchemistischer Fluch ist, hätte ich schnell so enden können, wie alle Frauen in den Generationen vor mir.

„Willste nachsehen?“, fragt Tim frech grinsend und greift nach dem Bund seiner Schlafanzughose.

„Vergiss es“, raune ich mit belegter Stimme. Tim ist so ein Spinner und es scheint ihm überhaupt nicht peinlich zu sein, was er mit mir anstellte. Ich spüre immer noch das Kribbeln dort, wo er seinen Finger in mich geschoben hatte und bin mir gar nicht sicher, ob ich ihn nicht doch noch in mein Bett zerre, wenn er nicht bald geht.

Plötzlich klingelt es ohrenbetäubend in der Dunkelheit und wir schrecken beide zusammen.

Es ist mein Telefon, das auf meinem Nachttisch steht.

Schnell reiße ich den Hörer herunter, in der Hoffnung, dass der Krach aufhört. Dabei starre ich auf den Hörer, als wüsste ich gar nicht, was man mit so einem Teil macht.

Tim lässt das Licht an meinem Bett anspringen und sieht mich aus seinen dunkel funkelnden Augen fragend an.

Eine Stimme am anderen Ende ruft: „Hallo … Hallo Carolin? Bis du da? Hallo?“

Ich reiße den Hörer an mein Ohr und Tim schüttelt den Kopf und lacht leise darüber, wie durcheinander ich bin. Genugtuung huscht über sein Gesicht.

Ich bin der ganzen Situation gar nicht mehr gewachsen. „Ja!“, hauche ich in den Hörer.

„Entschuldige, Schatz. Aber ich konnte dich auf deinem Handy nicht erreichen. Da habe ich gedacht, ich rufe dich auf dem Krankenhaustelefon an. Ich habe einfach die normale Nummer des Krankenhauses mit deiner Zimmernummer versucht und es geht tatsächlich“, sprudelt Marcels dunkle Stimme mir entgegen. „Ich hätte nicht einschlafen können, ohne dir vorher eine gute Nacht zu wünschen. Wegen Christiane und der dummen Krankenschwester hatte ich das Gefühl heute viel zu kurz gekommen zu sein.“

„Das tut mir leid“, stammele ich und weiß gar nicht so richtig den Zusammenhang. Ich sehe nur in Tims dunkle Augen, die sich verdrossen zu Schlitzen verengen.

„Du fehlst mir so“, höre ich und bin mir mit aufsteigendem Unmut bewusst, dass ich nun auch antworten muss.

„Du mir auch“, murmele ich, und habe nicht das Gefühl, dass das ehrlich klingt.

Ich sehe Tim vorsichtig an, dessen Gesichtsausdruck einen harten Zug annimmt. Nur mit Lippenbewegung fragt er: „MARCEL?“

Ich nicke und seine Augen funkeln wütend auf. Er streckt seine Hand aus und streichelt über meinen Arm, der den Hörer hält. Ich greife schnell danach und schiebe sie weg, die Gänsehaut ignorierend, die seine Berührung auslöst, weil die Spannung zwischen uns, mit Marcel am Telefon, unerträglich wird.

„Ich werde morgen versuchen früher zu kommen. Versprochen. Und wenn ich dich abholen kann, gehe ich so schnell nicht wieder“, stammelt Marcel wie ein kleiner Junge, dem man sein Spielzeug weggenommen hat. Er ist wirklich süß. Aber Tim schiebt sich dicht an mich heran und knöpft einen Knopf nach dem anderen von meiner Pyjamajacke auf.

Ich schlage ihm auf die Finger, dass es laut klatscht. Erschrocken verdrehe ich die Augen und Tim grinst, ohne dass seine Augen den grimmigen Ausdruck verlieren. Er scheint es ernsthaft darauf anzulegen, dass Marcel von seiner Anwesenheit in meinem Zimmer erfährt. Was soll ich nur tun?

„Das brauchst du dann auch nicht“, versuche ich Marcel sinnvoll zu antworten. Aber mein Kopf ist nicht bei der Sache.

„Kann ich dann wirklich bei dir bleiben?“, fragt Marcel mit hoffnungsvoller Stimme. „Bis zum Wochenende?“

Ich will ihm einfach schnell antworten und schnell das Gespräch beenden. Tim hat sich mittlerweile noch dichter an mich herangeschoben und drängt sein Ohr dicht an den Hörer.

Ich drehe den Kopf weg, um ihm das Mithören zu erschweren. Ich will Marcel schnell antworten und brumme gerade ein „Ja“, als Tim mit einer Hand mein Kinn packt und mir einen Kuss auf den Mund drückt. Ich sehe ihn verdattert an und wage keinen Mucks zu machen, schiebe aber seine Hand energisch beiseite.

„Jetzt werde ich erst recht nicht mehr schlafen können. Hoffentlich kann ich dich morgen abholen“, höre ich Marcel sagen.

„Das wäre schön“, murmele ich und starre Tim aufgebracht entgegen, der über meine Beine steigt und sich auf meine Oberschenkel setzt. Seine Lippen legen sich wieder auf meine und er schiebt seine Zunge in meinen Mund, während seine Hände sich in mein Haar schieben.

Das geht entschieden zu weit. Ich gebe ihm mit der freien Hand einen Stoß vor die Brust, was ihn mit den Armen nach Halt rudern lässt. Dabei verheddert er sich in dem Telefonkabel und reißt mir fast den Hörer aus der Hand. Es scheppert laut, weil die Vase auf meinem Tisch davon umgerissen wird. Ich höre plätschernd das Wasser auf den Fußboden laufen.

Tim fängt sich nur mit Mühe, mich entrüstet anstarrend.

„Verdammt!“, fauche ich wütend.

Tim streicht sich über den Verband und verzieht wehleidig das Gesicht. Missmutig steigt er aus dem Bett und mustert mich mürrisch.

„Was ist bei dir los?“, höre ich Marcel fragen: „Ist alles okay?“

„Nah klar! Aber mir ist die Vase runtergefallen und ich muss jetzt erst das Wasser wegwischen, bevor die Schwester kommt“, brumme ich aufgebracht.

Ich habe echt Angst, dass wirklich eine Schwester von dem Lärm aufgeschreckt ins Zimmer stürmen könnte. Dann würde sie wegen Tim herumtoben und Marcel würde das mitbekommen.

„Okay, Schatz! Ich wollte dir auch nur eine gute Nacht wünschen. Dann schau mal, dass du meine Rose retten kannst. Sie ist eine Rose der Liebe!“ Er lacht über seinen Ausspruch. „Also bis morgen. Ich freu mich. Schlaf gut.“

„Schlaf gut“, erwidere ich und um Tim einen verbalen Schlag zu verpassen, füge ich noch hinzu: „Ich freue mich auch auf dich.“ Dabei sehe ich Tim böse an. „Bis dann, Marcel.“ Ich lasse den Hörer auf die Gabel fallen. „Verdammt, spinnst du?“, fauche ich Tim im nächsten Augenblick an.

Ich freue mich auch auf dich“, äfft er mich nach.

„Tu ich auch“, brumme ich und klettere aus dem Bett. Schnell hole ich ein Handtuch aus dem Badezimmer und gehe um das Bett herum, um mir den Schaden anzusehen. Die Vase und die Rose liegen auf dem Tisch, und das Wasser ergießt sich in einem Rinnsal bis fast unter das Fenster.

„Und du gehst jetzt“, fauche ich Tim an, während ich das Wasser aufputze. Mir wird dabei schwindelig, was ich aber ignoriere.

Tim steht nur da und sieht mich hitzig an. „Meine Rippen tun wieder weh“, mault er plötzlich und drückt wehleidig seine Hand an die Brust.

„Selber schuld.“ Ich bringe das Handtuch in das Bad und werfe es in die Dusche. Die Rose stecke ich wieder ohne Wasser lieblos in die Vase zurück.

Tim sieht mir zu und in seinen Augen schimmert deswegen einen Augenblick lang Genugtuung. „Ist die von ihm?“, fragt er.

„Ja“, knurre ich und klettere ins Bett zurück.

Er baut sich vor meinem Bett auf und murmelt leise: „So läuft das nicht. Warum ruft dich dieser Spinner an und säuselt dir etwas ins Ohr. Bloß weil er uns geholfen hat, heißt das nicht, dass er jetzt auf irgendwas ein Anrecht hat.“ Seine Augen funkeln wütend. „Du gehörst zu mir, dass wirst du schnell begreifen. Und er ist keine Konkurrenz“, spuckt er mir wütend entgegen.

„Du spinnst doch!“, fauche ich aufgebracht: „Du bist keine Konkurrenz für ihn. Wir werden niemals …“, zische ich wütend und weiß, dass mein ganzer Körper anders darüber denkt.

 

„Oh doch! Natürlich werden wir. Das ist das Einzige, was Kurt Gräbler Gutes zustande brachte.“ Tim lacht grimmig auf. „Und auch du wirst auf die Dauer gar nichts dagegen tun können. Glaub mir. Das mit uns ist vorprogrammiert.“

Ich sehe ihn sprachlos an. Meine Gedanken überschlagen sich. Was meint Tim plötzlich damit? Weiß er mehr als ich?

„Hast du schon etwas herausgefunden?“ Meine schlimmsten Befürchtungen sehe ich bewahrheitet. Es gibt etwas, das mich und Tim, im Namen von Kurt Gräblers Intrigen, zueinander hinzieht. Und er weiß davon. Und doch scheint ihn das nicht zu stören.

„Erzähl ich dir, wenn wir uns wiedersehen“, weicht Tim schnell aus. „Morgen früh werde ich aber erst mal zu meinem Vater fahren.“ Er greift in seine Pyjamajackentasche und zieht einen kleinen abgerissenen Teil einer Zeitschrift heraus, auf die eine Ansammlung von Zahlen gekritzelt steht. „Meine Telefonnummer. Für den Fall, dass du sie nicht mehr hast. Jetzt, wo wir nicht mehr Gefahr laufen umgebracht zu werden, können wir uns jederzeit treffen.“ Seine Betonung liegt auf jederzeit.

„Ich ruf dich nicht an. Nicht nach der ganzen Sache hier“, maule ich ungehalten. Es ist nicht zu fassen, was er abgezogen hat, während ich Marcel am anderen Ende der Leitung hatte. Ich sehe mein Marcel-Carolin-Gerüst auf erschreckend wackligen Beinen stehen, wenn Tim in der Nähe ist und es behagt mir gar nicht, dass er es jederzeit zu Fall bringen kann. Und scheinbar ist er sich dieser Macht völlig bewusst. Seine dunklen Augen und der arrogante Zug um seinen Mund sagen das nur zu deutlich. „Rede keinen Unsinn. Natürlich rufst du mich an.“ Tim legt den Zettel auf mein Bett, beugt sich dicht zu mir vor und sieht mich durchdringend an: „Du gehörst zu mir. Daran wird nichts etwas rütteln. Ist das klar?“, bestimmt er leise und ich starre ihn fassungslos an.

Seine Wut scheint sich zu legen und ein überheblicher Gesichtsausdruck gewinnt die Überhand. „Und noch was! Du brauchst mich nicht anlügen“, murmelt er. „Ich weiß, dass du noch mit niemandem im Bett warst. Deshalb nimmst du keine Pille und stellst dich so an.“

Ich starre ihm betroffen ins Gesicht. Was soll das jetzt? Was will er von mir hören?

Doch er wartet nicht auf eine Antwort von mir, sondern schiebt sich noch näher an mich heran. Seine schwarzen Augen funkeln mir entgegen, als er flüstert: „Und das hat einen Grund!“

Ich schlucke und spüre seinen heißen Atem auf meinem Gesicht.

„Weil ich es sein soll. Und ich werde es auch sein. Freunde dich mit dem Gedanken an. Du und ich … gehören … zusammen“, sagt er nochmals eindringlich.

Er baut sich vor dem Bett zu seiner ganzen Größe auf und sieht zu mir herunter.

„Also vergiss das mit diesem Marcel. Er ist es nicht … und du wirst ihm niemals die gleichen Gefühle entgegenbringen wie mir. Das war eben offensichtlich. Wir sehen uns, wenn du aus dem Krankenhaus raus bist. Warte einfach auf mich.“ Er beugt sich schnell vor und küsst mich auf den Mund.

Bevor ich reagieren kann, lässt er mich los. Mit wenigen Schritten ist er bei der Tür und ich sehe ihm nur entgeistert hinterher. „Schlaf gut! Schatz!“, flüstert er leise, da er an der Tür Gefahr läuft, von draußen gehört zu werden. Dabei betonte er überheblich das Wort „Schatz“. Er öffnet die Tür, sieht kurz hinaus, ob die Luft rein ist, wirft mir einen Handkuss zu und geht.

Ich sitze nur mit zusammengepressten Lippen und völlig außer mir da. In meinem tiefsten Inneren spüre ich zwar das leichte Kribbeln, das seine Worte ausgelöst haben, aber meine Oberfläche schwört sich in diesem Moment Kurt Gräblers Fluch über uns niemals gewinnen zu lassen.

Ich lasse mich in mein Kissen sinken und höre mein Herz immer noch bis zum Hals schlagen. Was war das für ein idiotisches Telefongespräch. Habe ich tatsächlich gerade Marcel gesagt, dass er bis zum Wochenende bei mir bleiben kann? Und habe ich ihn damit nicht sogar wieder in seinen Gefühlen bestärkt?

Oh Mann! Tim weiß gar nicht, was wirklich bei diesem Gespräch gesagt wurde. Ich höre Marcel fragen: „Kann ich bei dir bleiben? Bis zum Wochenende?“

Habe ich wirklich Ja gesagt? Da werde ich mir noch etwas einfallen lassen müssen, um diesen Ausspruch wieder ungültig zu machen. Außerdem muss ihn mein Gesäusel glauben lassen, er wäre mein Ein und Alles. Verdammt!

Und Tim? Der dreht jetzt völlig durch. Erst schleicht er sich in mein Bett und will mit mir schlafen und dann haut er mir um die Ohren, dass er es auf alle Fälle sein wird und niemand sonst.

Ich ziehe die Decke bis unter mein Kinn und spüre augenblicklich das Kribbeln in meinem Körper, das Tim in mir ausgelöst hatte, als er mich so berührte. Ich stöhne auf und drücke meine Hand auf die heiße, feuchte Stelle, die er mit seinem Finger bearbeitet hatte. Verdammt!

Energisch ziehe ich die Hand zurück und drehe mich auf die Seite.

Wir dürfen das nicht tun. Tim sagte selbst, dass auch er glaubt, dass unsere Gefühle von dem Alchemisten ausgelöst werden. Er hatte es zugeben. Er weiß es!

Das wird keine gute Nacht. Was ist, wenn ich wirklich nichts gegen das Vermächtnis des Alchemisten tun kann? Tim scheint es drauf ankommen lassen zu wollen.

Einerseits will alles in mir sich Tim hingeben und andererseits ist da eine Angst, die mich daran hindert, dem nachzugeben. Ich bin hin und her gerissen und weiß eins ganz genau: ich will nicht so enden, wie all die anderen Frauen.

Irgendwann nach Mitternacht klingele ich völlig verzweifelt nach der Schwester und lasse mir wieder das Schlafmittel geben. Ich jammere, dass ich nur zu Hause schlafen kann und deswegen unbedingt bald nach Hause muss. Damit hoffe ich, wird man mir meinen Heimgang nicht streichen, wenn ich am nächsten Tag aussehe wie ausgespuckt.

Aber auch mit dem Schlafmittel sind Tim und Marcel meine letzten Gedanken … und Kurt Gräbler. Dass Tim plötzlich so umgeschwenkt war, verunsichert mich sogar bis in den Schlaf hinein. Er muss etwas wissen, das er mir allerdings erst bei unserem nächsten Treffen sagen will.

Unser nächstes Treffen …

Ich sehne mich danach genauso, wie ich es fürchte. Was wird dann geschehen?

Ich weiß es nicht.

Am nächsten Tag, ich habe wieder einmal versucht meinen Kopf in Waschposition zu bringen, geht es mir dementsprechend schlecht. Ich ahne, dass es heute nicht gut für mich aussieht.

Die Visite verläuft dann auch für mich erfolglos. Man vertröstet mich auf die Entscheidung des Oberarztes am Abend.

Kurz nach Mittag kommen meine Eltern vorbei. Meine Mutter ist diesmal gefasster. Ich habe das Gefühl, dass mein Vater sie bearbeitet hat. Aber kurz nach ihnen betreten zwei Beamte in Zivil mein Zimmer. Sie stellen sich meinen Eltern und mir vor.

„Polizeioberwachtmeister Krämer und Polizeiwachtmeister Edding. Wir würden gerne ihre Tochter Carolin über den Vorfall am vergangenen Donnerstag befragen. Sie kann ihre Aussage natürlich verweigern, wenn sie nicht gegen ihren Bruder aussagen möchte.“

Meine Mutter setzt sich wie zu meinem Schutz auf mein Bett und sieht die Herren groß an, die ihre Dienstmarken wieder einstecken.

„Ich finde nicht, dass sie etwas sagen soll. Oder?“ Sie sieht meinen Vater an, der nur brummt, dass irgendjemand aber sagen muss, was passiert ist.

Ich sehe von einem zum anderen und bin wieder völlig überfordert.

„Haben Sie Tim, den anderen Jungen, der dabei war, schon verhört?“, frage ich und meine Stimme zittert leicht. Ich weiß Tims Nachnamen nicht, obwohl ich ihn einmal bei einer der Schwestern gehört hatte.

„Da kommen wir gerade her. Er wird jetzt mit seinem Vater nach Hause fahren.“

Okay! Ich bin mir sicher, dass sie mir nicht sagen werden, was er ausgesagt hat. Aber mir ist klar, dass er bestimmt nicht viel Gutes über Julian von sich gab. Ob er wohl von Kurt Gräbler und unseren Träumen gesprochen hat und warum Julian das Ganze machte? Ich ärgere mich, dass wir nur uns und unsere Gefühle im Kopf hatten und kein Wort darüber verloren haben, was wir in genau diesem Fall sagen sollen.