Die Narben aus der Vergangenheit

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Die Narben aus der Vergangenheit
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Sabine von der Wellen

Die Narben aus der Vergangenheit

Teil 1: Verwirrendes Leben

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Gefährliche weiße Falter

Verwirrendes Leben

Die Folgen auf Resonanzen

Seltsame Anwandlungen

Die unglaubliche Geschichte von einem Fluch

Missionen und Weisheiten

Der beste Deal aller Zeiten

Mein Sumpf

Erklärungsnot

Dualität des Lebens

Impressum neobooks

Gefährliche weiße Falter

Wir fahren mit Daniels altem, dunkelgrünem BMW durch die überfüllten Straßen Osnabrücks. Es ist Samstag und der Strom Einkaufswilliger reißt nicht ab. Wir stecken mitten drin und ich bin wie immer vor einem Deal nervös.

Es ist Sommer und es ist heiß. Mein schwarzes T-Shirt und meine Jeans kleben mir am Körper. Aber bevor ich mir wie Daniel mein T-Shirt ausziehe, sterbe ich lieber.

„Wo ist das Treffen?“, fragt er und ich sehe in seine dunkelblauen Augen. Er sitzt mit freiem Oberkörper hinter dem Steuer seines BMWs und ich sehe die glänzende Feuchtigkeit auf seiner braun gebrannten Haut.

Auch wenn er sich oft an meiner Hantelbank vergnügt, sieht man ihm das nicht an. Daniel wirkt trotz seiner Bemühungen schlank, aber nicht durchtrainiert. Ganz im Gegensatz zu mir. Aber für mich war das Training auch immer überlebenswichtig, um die Geister aus der Vergangenheit in Schacht zu halten.

„Das Treffen ist beim Mittellandkanal … auf dem Parkplatz. Halt aber vorher an und zieh dir dein Shirt über. Wir laufen da nicht auf wie in einer Beach Bar!“, knurre ich und stelle mich schon mal auf das ein, was auf uns zukommt. Dabei lasse ich meine Augen immer wieder in den Seitenspiegel oder den Spiegel der Sonnenblende gleiten, um hinter uns verdächtige Fahrzeuge auszumachen.

Aber die Straßen, die wir jetzt befahren, sind leer und in dieser tristen Gegend zwischen Osnabrück und Bramsche gibt es kaum Verkehr. Wie immer wählen wir eine Nebenstrecke, um das Geschehen um uns herum genau kontrollieren zu können.

Kurze Zeit später, wir haben kleinere Orte und Bauernschaften hinter uns gelassen, fährt Daniel an den Straßenrand und zieht sich sein Muskelshirt über - auch in schwarz. Er streicht sich seine kurz geschnittenen, dunkelbraunen Haare zurück und grinst mich an.

Ich schenke ihm nur einen kalten Blick.

Eigentlich faxt er nie vor solchen Treffen herum. Er ist derjenige von uns beiden, der vorsichtig und vorausschauend alles viel zu ernst nimmt. Aber seit er meine Schwester Ellen datet, dreht er irgendwie durch.

Ich hasse das, genauso wie ich diese Treffen hasse. Ein Fehler kann mich in den Knast bringen. Aber das verdränge ich lieber. Genauso wie den Gedanken, dass ich immer noch achtzehn Monate meiner Bewährungsstrafe überstehen muss, ohne Plan wie das funktionieren soll.

Daniel lässt den BMW wieder auf die Straße rollen und wir fahren weiter. Nachdem wir kurze Zeit später eine Brücke über den Mittellandkanal passieren, biegt er von der Straße ab und fährt auf einen Parkplatz direkt am Wasser.

Es ist niemand da und wir steigen aus. Uns an den Wagen lehnend, zünden wir uns eine Zigarette an.

„Sind das wieder die gleichen Typen aus Hamburg?“, fragt Daniel und ich nicke.

„Die zwei sind eigentlich ganz okay. Vielleicht sollte ich die mal anhauen, ob die mit uns ein paar Zusatzgeschäfte machen wollen?“, sage ich und spreche aus, was mir schon länger im Kopf schwirrt.

Daniel sieht mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Er schüttelt nur den Kopf und sagt nichts dazu. Ich weiß, er hält das für ein Selbstmordkommando, wenn man sich mit solchen Typen einlässt und den Boss hintergeht. Doch mir schwirren ständig solche Ideen im Kopf herum, als wolle ich meine Lage um jeden Preis verschlimmern.

Ich will eigentlich nicht im Gefängnis versauern, dennoch lege ich es beständig darauf an. Es ist wie ein Zwang. Außerdem habe ich in letzter Zeit immer das Gefühl, es spielt eh alles keine Rolle mehr. So wie mein Leben jetzt ist, gleicht es einem Abstellgleis.

Ein schwarzer Mercedes kommt über die Brücke gefahren, in der Sonne glänzend wie ein Panther. Er biegt auf die kleine Straße ein, rollt auf den Parkplatz und kommt in einiger Entfernung von uns zum Stehen.

Ich werfe meine Zigarette in das glitzernde Wasser des Kanals und gehe auf den Wagen zu.

Daniel packt mich am Oberarm. „Warte, lass die erst aussteigen. Ich will erst wissen, ob es die Richtigen sind. Nicht das da gleich welche rausspringen und uns abknallen“, raunt er leise. Daniel ist mal wieder übervorsichtig.

Die Autotüren werden aufgestoßen und zwei Typen steigen aus. Der Fahrer grinst uns an. Er hat ein beiges Muskelshirt an und eine Jeans. Über dem Shirt trägt er wie immer eine schmale Krawatte. Das ist sein Markenzeichen. Egal was er anhat, er trägt dazu eine Krawatte.

„Erik!“, ruft er über den Mercedes hinweg uns zu und kommt um den Wagen herum.

Daniel entspannt sich neben mir und lässt meinen Arm los.

„Leandro!“, sage ich genauso freundlich, schaue aber genau, was der andere Typ macht.

Leandro kommt auf uns zu. Seine schwarzen, gegeelten Haare liegen eng an seinem Kopf an und man sieht an seinen dunklen Augen und seiner Hautfarbe, dass er Italiener ist. In seinem Hosenbund steckt gut sichtbar seine Beretta.

Auch der andere Typ kommt auf uns zu. Den habe ich allerdings noch nie gesehen und mustere ihn mit kaltem Blick.

„Das ist mein Bruder Ferris“, sagt Leandro.

Aussagen, die irgendwelche Verwandtschaftsgrade betreffen, haben in dieses Metier nichts zu bedeuten.

Ich nicke Ferris zu, gebe mich aber nicht weiter mit ihm ab. Ich will das Ganze schnell hinter mich bringen.

Zu meinem Ärger grinst Ferris und sagt mit einem schrecklichen Akzent: „Ah, guardare! Das Goldlöckchen macht heute das Geschäft.“

Ich bleibe stehen und merke aus dem Augenwinkel, wie Daniel neben mir erstarrt.

„Scusate Erik. Mein Bruder neigt manchmal zum Größenwahn.“ Leandro wirft Ferris einen vernichtenden Blick zu, der sofort ernst wird.

Scheinbar ist ihm nicht klar, dass der ganze Deal böse enden kann, wenn er mich Goldlöckchen nennt. Und scheinbar ist ihm auch nicht klar, dass ein Hammer von mir ihn in den Staub des Parkplatzes befördern wird, ohne Aussicht, in nächster Zeit wieder auf die Füße zu kommen.

Leandro kommt die letzten paar Schritte auf mich zu und gibt mir die Hand. „Nichts für ungut! Den Penner muss ich noch erziehen“, knurrt er nur.

Ich nicke und schlucke meine Wut herunter. Ich verfluche wiedereinmal meine blonden Locken, die ich ausgerechnet heute nicht mit Gel an meinem Kopf festgeklebt habe.

An Ferris gerichtet, zischt Leandro: „Beeil dich! Ich will nicht ewig in dieser Affenhitze stehen.“

Ferris geht zum Mercedesheck, öffnet die Klappe und holt eine schwarze Ledertasche heraus. Eine von den üblichen …

Er kommt zu mir und lässt mich hineinsehen.

Es liegen zwei dicke, mit Packpapier verschnürte Päckchen darin und ich nicke. Zu Daniel blickend deute ich ihm mit einem Kopfnicken an, dass jetzt sein Part kommt und er geht zu seinem BMW und holt den Koffer heraus. Mit großen Schritten kommt er zum Mercedes zurück und lässt den Koffer auf die Kühlerhaube knallen. Mit einem Griff schnappen die Verschlüsse auf. Er hatte das anfangs ein paar Mal geübt, um es galant hinzubekommen.

Der Koffer schwingt auf. Das Geld zeigt sich schön gestapelt und aufgereiht.

„Alles klar!“, knurrt Leandro und nickt kurz.

Daniel lässt den Koffer zuschnappen und die Verschlüsse zurillen. Sam hatte uns das so beigebracht.

Der neue Besitzer des Geldes wird unseren Boss anrufen und die Kombination bekommen, um den Koffer zu öffnen. Das hat einen simplen Grund. So kann von nun an keiner mehr etwas von dem Geld entwenden und wenn was fehlt, werden sie uns dafür im Mittellandkanal versenken, weil dann feststeht, dass nur wir etwas davon geklaut haben konnten.

Leandro macht das Gleiche mit den zwei Verschlüssen an der Ledertasche, die diese versiegeln. Das ist das übliche Übergaberitual. Mein Boss wird im Gegenzug zu dem Code des Geldkoffers auch den Code der Tasche bekommen. Auch eine Sicherheitsmaßnahme, dass sich keiner an dem Stoff vergreift.

Ich nehme Leandro die Tasche ab, und er mir den Koffer. Der Deal ist erledigt.

„Hey Erik, wenn du mal in Hamburg bist, dann komm bei uns vorbei. Wir zeigen dir die Stadt und unsere Mädchen“, ruft Leonardo mir zu und grinst. Er ist nicht viel älter als ich und macht immer den Eindruck, auch genauso draufgängerisch zu sein.

 

Ich nicke mit kühlem Blick. Genau den Spruch wollte ich hören. „Sicher! Wir hatten sowieso vor, euch zu besuchen. Der nächste Deal läuft in Hamburg“, antworte ich, gehe zum BMW und werfe mich neben Daniel auf den Beifahrersitz.

Der Mercedes fährt als erstes von dem Parkplatz herunter und wieder über die Brücke Richtung Bramsche, während wir in die entgegengesetzte Richtung verschwinden.

Daniel brummt: „Erik, wir sollten nicht nach Hamburg fahren. Es reicht doch schon, dass wir hier ständig mit einem Bein im Knast stehen.“

Ich antworte ihm nicht. Es ist mein Arsch, der einfährt. Aber ich bin mutiger geworden. Seit meiner Bewährungsstrafe vor fast zwei Jahren wurde ich nicht einmal hochgenommen und selbst meinem Bewährungshelfer ist es mit mir zu langweilig geworden. Gut, ich habe auch nicht vor, mich bei irgendetwas erwischen zu lassen und Schlägereien gehe ich möglichst aus dem Weg. Bisher habe ich auch niemanden mehr ins Krankenhaus befördert oder fast ins Grab. Das letzte Mal ist ewig her und hat mir ein halbes Jahr Jugendknast eingebracht.

Nun bin ich vierundzwanzig und wesentlich schlauer. So schnell lasse ich mir nicht mehr ans Bein pissen. Und dass ich nach meiner letzten Verhandlung erneut bei meinen Eltern einzog, um wieder ein geregeltes Leben nach außen hin zu präsentieren, und artig Betriebswirtschaft studiere, zeigt doch der Welt, dass ich brav geworden sein muss.

Da ich Daniel nicht antworte, murmelt er. „Lass uns das Zeug schnell loswerden. Es macht mich immer nervös, wenn wir so viel Stoff durch die Gegend kutschieren.“

Wir fahren direkt zu Walters Bordell im Osten der Stadt. Daniel parkt den BMW auf dem versteckten Hinterhof, auf dem alle Kunden parken, die lieber nicht auf dem Hauptparkplatz gesehen werden wollen. Wir können froh sein, noch einen Platz zu bekommen.

Das Haus ist ein dreistöckiger Kasten aus den Fünfzigerjahren und sieht unscheinbar aus. Nur das Neonschild über dem Eingang verrät, was sich dort drinnen befindet, und die Bilder in dem Schaukasten.

Daniel und ich gehen durch den Lieferanteneingang. Wir schlängeln uns an den Nutten vorbei, die sich in den hinteren Räumen des Erdgeschosses für die Arbeit an der Bar oder in den Zimmern vorbereiten. Sie wechseln in einem kleinen Nebenraum ihre Outfits und machen dort ihre Pausen. Da ist auch der Bereich, in dem sie Essen und Trinken bekommen. Walter achtet immer darauf, dass es den Mädels gut geht, die für ihn arbeiten. Seine Söhne Sam und Teddy, die sich mehr auf den Straßenstrich konzentriert haben, sind da nicht so zimperlich.

„Erik, Daniel!“, säuseln die Mädchen, als wir an ihren kaum bekleideten Körpern vorbeigehen. Kira, ein dunkelhaariges, ziemlich hübsches Häschen, streicht mir mit der Hand über die Wange und lacht mich einladend an.

Ich stehe nicht auf die Mädels, die die Beine für Geld breitmachen. Sie wollen von einem Mann nur seine Asche und alles andere interessiert sie nicht. Sie sind genauso gefühlstot wie ich, und nur noch durch Gewalt zu verletzen.

Ich bereichere mein Leben zwar auch damit, Frauen weh zu tun. Aber Gewalt bringt mich in den Knast. Deshalb bleibt mir nur, Frauen mein Interesse vorzugaukeln, ihnen den besten Sex zu präsentieren und wenn sie völlig verliebt nach mehr lechzen, mit einem verbalen Fußtritt erbarmungslos vor die Tür zu setzen, nachdem ich ihnen ihre Bedeutungslosigkeit vor Augen führte. Die Mädels von heute reagieren darauf, als hätte man sie geschlagen. Diese Emanzen verkraften sowas gar nicht. Sie sind gewöhnt zu bekommen, was sie wollen und dass sie wie Prinzessinnen hofiert werden, denen man nichts abschlägt.

Bei mir lernen sie, dass sie nichts wert sind und ich sie nur benutze und sie wieder aus meinem Leben kicke.

Aber mich mit so einer wie diesen hier einzulassen, wäre mir echt zuwider und würde für mich nichts bringen. Ihnen ist eh alles egal. Sie sind keine Prinzessinnen und kennen ihren Wert und der wird nur in Geldscheinen gerechnet. Außerdem würde ich niemals für Sex bezahlen.

Daniel ist da genauso wie ich. Er würde sich auch niemals auf so eine einlassen. Schon gar nicht, seit er auf meine Schwester Ellen scharf ist. Seitdem gehen ihm sowieso alle Weiber am Arsch vorbei. Er ist so ein richtiger Vollblutromantiker geworden, seit er sein Herz an meine Schwester verschwendet. Und ich sehe das als Verschwendung, denn ich würde die nicht mal mit einer Zange anfassen.

Ich hasse meine Schwester. Sie ist die Prinzessin bei uns zu Hause. Meine Eltern wissen nichts davon, dass sie mit einem Junkie zusammen war und selbst Drogen nahm. Der Penner hat sich mit einem goldenen Schuss ins Jenseits befördert und meine Schwester in einen Abgrund aus Traurigkeit gestoßen. Daniel hat es sich zur Aufgabe gemacht, sie daraus zu erretten.

Wenn es nach mir ginge, würde ich sie darin verrecken lassen. Aber Daniel ist mein bester Freund und wir machen alles zusammen. Wenn er also unbedingt meine Schwester erretten will, dann soll er das in Gottes Namen tun. Aber er weiß, er brauch nicht auf meine Hilfe zu hoffen. Höchstens darauf, dass ich ab und zu ein Auge zudrücke und meine Schwester in unserer Nähe ertrage.

Wir gehen eine Treppe hinunter in den Keller. Dort hat Walter sein Büro.

Andreas gesellt sich zu uns. Er ist einer von Walters Schatten und auch genauso aus dem Nichts aufgetaucht.

Von ihm flankiert, betreten wir den Kellerraum. Er ist nicht besonders groß. Aber es gibt einen riesigen Schreibtisch, dahinter einen opulenten Ledersessel, zwei Lederstühle vor dem Schreibtisch, ein riesiges Ledersofa mit einem Schrank daneben, der eine Bar enthält und etliche Monitore an einer Wand.

Die Tür der Bar steht offen und wir können die vielen verschiedenen Flaschen sehen. Ein Glas mit einer braunen Flüssigkeit steht an dem Platz, an dem der Big Boss sitzt. Wahrscheinlich Whiskey.

Walter trinkt eigentlich nie, außer einer seiner Jungs ist zu einem Deal unterwegs.

An einer Wand steht ein Bücherregal, und eins mit DVDs. Auf die Bücher ist Walter stolz. Die DVDs sind nur Arbeitsmaterial und Überwachungsaufnahmen.

Sam und Teddy hatten mir schon öfters gezeigt, wenn ihr alter Herr unterwegs war, wie das mit den Monitoren bestellt ist. Man kann von hier aus jederzeit in die einzelnen Zimmer schalten und auch in den Barbereich.

In den Zimmern können die Mädels mit einem winzigen Knopfdruck die Kamera aktivieren, wenn sie sich unsicher fühlen. Dann erscheinen Walters Schatten und räumen auf, wenn es zu heftig wird.

Sam und Teddy lieben diese Monitorwand und stellen es als Überwachung der Arbeitswilligkeit der Mädels hin, wenn sie durch die Zimmer zappen und sich die Liebesspiele reinziehen.

Ich stehe nicht auf diese Art von Geschäft. Drogen verticken ist okay. Leute dazu zu bringen, ihre Rechnungen zu begleichen, auch. Aber Männern Sex zu verkaufen finde ich billig. Männer sollten sich wesentlich respektabler aufführen und nicht Geld dafür zahlen, um einen wegstecken zu dürfen. Ich schäme mich dafür, dass meine Geschlechtsgenossen so niveaulos sind. Und Sam und Teddy, die so was wie meine älteren Ziehbrüder sind, stehen da ganz oben, wo niveaulos sich schon in abgefuckt wandelt. Sie sind in dieses Geschäft hineingewachsen, als ich noch gar nicht wusste, dass es so etwas überhaupt gibt. Erst als mein Patenonkel Clemens mich zu seinem besten Freund Walter mitnahm, sah ich eine Welt, die ich nicht verstand. In dieser Welt haben die Frauen die Macht über die Männer. Über jeden einzelnen, der seine Geldtasche für ein bisschen billigen Sex zückt.

Gut, es gibt wiederum Männer wie Walter, die dann noch über den Frauen stehen und ihnen einen Teil des Geldes abnehmen. Aber das ist Geschäft. Das hat nichts mit dümmlichen Trieben zu tun.

„Hat alles geklappt?“ Walters tiefe Stimme dringt aus dem riesigen Ledersessel zu uns herüber und Daniel geht zum Schreibtisch. Er knallt die Tasche auf die Holzplatte und ich nicke. „Alles okay. Leandro hatte allerdings einen Typen Namens Ferris dabei. Keine Ahnung. Der schien mir nicht ganz koscher zu sein. Ich mag es nicht, wenn Neue aufkreuzen“, knurre ich und höre wieder seinen Ausspruch: „Das Goldlöckchen macht heute das Geschäft.“

Ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken, meine Haare ganz abzurasieren. Aber ich will nicht als Rechtsradikaler angesehen werden oder aussehen wie Teddy und Sam. Und unverkennbar stehen die Mädels darauf, wenn ich mir die eine oder andere Locke in mein Gesicht fallen lasse. Schließlich brauche auch ich manchmal das andere Geschlecht, um mich abzureagieren. Ein-Zwei Stunden und Tschüss. Keine hat bei mir mehr zu erwarten. Dafür haben sie in dieser Zeit guten Sex.

Walter kommt behäbig hinter seinem Schreibtisch hervor. Er ist in den letzten Jahren nicht nur erschreckend gealtert, sondern auch dicker geworden. Heute wirkt er wie ein alter Mann und seine hellblauen Augen sind trüb. Seit dem Tod von meinem Onkel Clemens, der seit seiner Kindheit sein bester Freund war, sind seine Haare grau geworden. Ihn hat dessen Tod genauso getroffen wie mich.

Er schlägt mir auf den Rücken. „Du bist wirklich einer meiner Besten und Zuverlässigsten. In zwei Wochen kommt die nächste Ladung.“

„Daniel und ich können die Ware selbst aus Hamburg abholen. Ich wollte dort sowieso nach meinem Auto schauen“, sage ich und Walter sieht mich einen Augenblick abschätzend an. Doch dann nickt er. „Okay, reden wir darüber, wenn es soweit ist.“

Wir gehen, nachdem er mir, und dann Daniel, einen Fünfhunderteuroschein in die Hand gedrückt hat und eine Tüte. Ich weiß, Daniel wir sein Zeug zu achtzig Prozent verticken. Ich werde achtzig Prozent für mich behalten.

Wir verlassen das Büro, gehen an den Damen vorbei, die uns erneut zu locken versuchen und steigen in Daniels BMW.

Er ist erleichtert. Es ist wieder einmal alles gut gegangen und mit dem Geld und dem Stoff kann er sich einige Zeit über Wasser halten. Er hat keine Eltern, die ihm ein Konto einrichteten, auf das immer ein wenig Geld fließt. Er hat eine Wohnung, die seine Mutter ihm überließ, als sie zu einem Großkotz zog, der forderte, dass Daniel aus ihrem Leben verschwindet. Seine Mutter schien diesen Deal nur zu gerne einzugehen und Daniel arrangierte sich damit, weil er die Wohnung des Vorgängers des Großkotzes bekam und der Typ seiner Mutter ihm das Studium finanziert. Er geht mit mir in die Uni und wir machen beide einen auf brave Studierende. Damit sichere ich mir auch mein gefülltes Konto. Allerdings muss ich dafür bei meinen Eltern wohnen, was eine Auflage von ihnen war, nachdem ich die Bewährungsstrafe wegen Drogenbesitzes aufgebrummt bekam. Sie hoffen immer noch darauf, mich in ihre großartige Sportgeschäftswelt zu integrieren.

Ich lasse ihnen einen Hoffnungsschimmer und bleibe in meiner Wohnung in ihrem Haus, obwohl ich nach Onkel Clemens Motorradunfall die Wohnung von ihm erbte, die über Daniels liegt. Seit seinem Tod war ich nicht mehr dort drinnen. Also auch schon geschlagene drei Jahre.

Als es mir vor einigen Jahren total dreckig ging und ich mit meinem Leben gar nicht mehr klarkam, kümmerte Clemens sich um mich. Mein Vater, sein älterer Bruder, konnte noch nie mit mir und meinem Wirken umgehen, genauso wie alle anderen aus meiner Familie das nicht können. Meine Mutter, die nie gelernt hat, sich den Schuldgefühlen mir gegenüber zu stellen und mich daher lieber gar nicht beachtet, tut so, als wäre ich ein fremdes Wesen, das nur bei ihnen wohnt. Meine kleine Schwester, die das Leben unter einem liebevollen Zuhause genießt, das meine Eltern ihr bieten, sieht mich nur als Eindringling in ihrem Prinzessinnenreich an. Meine Eltern setzten immer ihre ganze Liebe und Fürsorge in das kleine Mädchen und beschützten sie, wie sie es bei mir versäumt hatten. Für mich blieb daher nur eine Welt übrig, als wäre bei mir eh alles zu spät und jegliche Fürsorge und Liebe nutzlos und vergeblich.

Ich war mit fünf Jahren gebrandmarkt worden und meine Eltern sahen in mir das Ergebnis ihrer Unfähigkeit, ein Kind zu beschützen. Darum gaben sie sich, um das nicht immer vor Augen zu haben, möglichst nicht mit mir und den Folgen ab.

Als ich zwölf war erfuhr ich aus der Zeitung, dass die Frau, die meine Eltern für mich als vierjährigen als Kindermädchen eingestellt hatten und die mich ein Jahr lang quälte, wegen guter Führung aus dem Knast entlassen wurde. Sie hatte nur sieben Jahre für das büßen müssen, was sie mir angetan hatte. Dabei hätte sie ihr Leben lang eingesperrt gehört.

Es waren nicht nur die Schläge und das Einsperren in einen Schrank, die diese Strafe, die sie absaß, lächerlich erscheinen ließ. Es war viel mehr!

 

Als Ellen geboren wurde und meine Mutter gezwungenermaßen Zuhause bleiben musste, um das Baby zu versorgen, da fiel ihr der unfreundliche Umgang des Kindermädchens mit ihrem fünfjährigen Sohn auf und dass meine blauen Flecken wohl nicht nur vom Spielen kamen. Ich hatte Angst vor Daniela und weinte oft, wenn meine Mutter mich mit ihr allein ließ. Meine Eltern taten das als fremdeln ab und waren darüber sehr böse.

Aber dann, als Ellen auf der Welt war, wurden sie eines Besseren belehrt und sahen, was Daniela in ihrer cholerischen Art mir antat.

Sie entließen sie und ich meinte in Sicherheit zu sein. Meine Albträume hatten aber keine Zeit abzuebben.

Daniela entführte mich, wütend über die Kündigung, und forderte Lösegeld. Bis die Übergabe stattfand war ich drei Tage in ihrer Gewalt, in der sie mich misshandelte und quälte. Es war nicht das Körperliche, das mich in den Abgrund stieß, sondern das Seelische, weil sie mir einredete, dass mich keiner will und keiner mich retten wird. „Deine Eltern haben jetzt ein neues Kind. Ein kleines Mädchen. Die wollen dich nicht mehr“, hatte sie mir immer wieder eingebläut. Und die Zeit, die es dauerte, bis ich freikam, erschien mir endlos und schien ihre Worte zu bestätigen. Ich war mir sicher, dass meine Eltern mich nicht mehr befreien kämen und somit meinen Qualen niemals ein Ende setzen würden.

Als die Polizei einen der Männer, der mit an der Entführung beteiligt war, bei der Geldübergabe festnahm und der sich daraufhin nicht bei ihr meldete, nahm sie ihren Autoschlüssel, stellte mich an die Wand und zog ihn mir über die Brust.

Meine Albträume lassen bis heute den reißenden Schmerz immer wieder aufleben und das warme Blut erneut über meinen Körper laufen.

Ich bin bis in alle Ewigkeit nicht nur seelisch massakriert worden, sondern auch verunstaltet. Die zwei langen Narben ziehen sich über meine Brust, als Mahnmal für ein wertloses, ungeliebtes Wesen.

Aber ich wollte zumindest nie wieder so schwach sein. Also übte ich mich, als ich erfuhr, dass Daniela auf freien Fuß kommen wird, in allen möglichen Kampfsportarten und richtete mir eine Muckibude ein und begann wie besessen zu trainieren. Mir sollte nie wieder jemand etwas antun können.

Aber mit meinen Muskeln kam auch meine Gewaltbereitschaft und ich prügelte mich ständig. Als ich fünfzehn war und Ellen elf und sie gelernt hatte wie sie mich zur Weißglut treiben konnte, packte ich sie mir. Ich hatte nicht vor, sie zu verletzten. Aber sie sollte mich ein für alle Male in Ruhe lassen.

Mit einem Griff warf ich sie zu Boden, dass ihre langen blonden Locken wild durch die Luft wirbelten. Sie schlug hart auf und ihr schmaler Körper gab erschreckend unter mir nach. Aber ich war so wütend und besann mich erst, als ihre braunen Augen mich ängstlich anstarrten. Da wurde mir erst klar, dass ich sie mit meinen Händen um ihren Hals am Boden fixierte.

Sie behauptete, ich wollte sie erwürgen und meine Eltern ließen mich einweisen. Als sie mich holten war es wie eine zweite seelische Massakrierung. Ich weinte, als sie mich wie einen Verbrecher aus dem Haus führten und meine Familie zusah.

Nach zwei Monaten durfte ich nach Hause zurückkehren und ich ließ Handwerker kommen und meine Tür umbauen. Ich machte aus meinem kleinen Reich einen Hochsicherheitstrakt. Meine Eltern sagten nichts, weil ich auch nichts sagte. Ich redete nicht mehr mit ihnen und mit niemandem sonst. Erst als meine Tür und meine Fenster sich auf Knopfdruck so verschlossen, dass nicht mal eine Handgranate sie öffnen konnte, war ich zufrieden. Seitdem kann ich mich sogar vor meiner Familie schützen.

Der Einzige, zu dem ich Vertrauen hatte, war Onkel Clemens und zu ihm ging ich so oft es ging.

Aber meine Eltern sahen das nicht gerne, weil er für sie das schwarze Schaf der Familie war … genauso wie ich.

Er liebte Motorräder und nahm Drogen.

Ich fing auch damit an und lernte Walter und seine Söhne Sam und Teddy kennen.

Mit sechzehn schlug ich dann einen Typen krankenhausreif und wurde für ein halbes Jahr in den Jugendknast gesteckt. Als ich auch das überstanden hatte, gab es kein Halten mehr in meinem Leben.

Aber ich fand einen Weg, meine Wut abzureagieren. Sex wurde zu einem Mittel, dass mich den Druck loswerden ließ, der sich immer wieder bis zur Schmerzgrenze in mir zusammenbraute.

Aber ich hasse die Mädchen, die sich so willig vor meine Füße werfen, von unserem Namen, dem Geld meiner Eltern oder meinem Aussehen angelockt. Und was erst noch wenigstens den Druck aus meinem Inneren zog, bekam mit den Jahren nur noch einen bitteren Nachgeschmack.

Jetzt kann ich mich nur noch mit Drogen für die Damenwelt begeistern, die so unglaublich begeisterungsfähig ist, wenn es um mich geht. Ich kann mir aussuchen, wann und wen ich in mein Schlafzimmer lasse. Wen ich will, nehme ich mir und meine Art, ihnen das klarzumachen, scheint jede in die Knie zu zwingen.

Aber mein Ruf und der Drang, Macht über sie zu haben, um sie dann in ihrem tiefsten Inneren zu verletzten, verpflichtet mich dazu, den Damen etwas zu bieten und sie mir für kurze Zeit hörig zu machen. Dabei liegt mir fern, viel Zeit zu investieren. Ich gebe jeder einen Abend, gekrönt von höchstens zwei-drei Stunden in meinem Schlafzimmer. Es ist mir wichtig, das Gefühl zu haben, dass ich ihnen irgendetwas an Gefühlen abringe, um sie dann in den Staub treten zu können. Das ist das i-Tüpfelchen nach diesen kurzen, sexuellen Zusammentreffen, die mich körperlich und emotional befriedigen sollen und mich für das entschädigen, was mir ein Kindermädchen antat. Es ist nur Sex und ein Programm, das den Damen gefällt. Ich entwickelte es akribisch in den ersten Jahren meiner eigenen Lehrzeit.

Aber irgendwie wird es für mich immer schwieriger, dabei auf meine Kosten zu kommen. Ich schaffte es in den letzten Monaten nur unter Drogen und oft genug auch gar nicht mehr. Irgendwie gibt es mir keinen Kick mehr und ich spüre, dass es mich eher runterzieht als aufbaut. Mir fehlt etwas in meinem Leben. Ja, es fehlt mir etwas und ich weiß nicht, was es ist. Schließlich vermisse ich nichts. Zumindest nichts, was sich benennen lässt.

Daniel steuert seinen BMW auf den Hof hinter dem Haus, in dem er wohnt.

„Kommst du mit rein?“, fragt er und ich schüttele den Kopf. Mir ist nach mich wegpusten. Genug Zeug habe ich in der Tasche.

„Ne, meine Alten sind dieses Wochenende weg. Ich mache mich auf den Weg nach Hause und schau mal, was Walter mir Schönes zusammengepackt hat. Wir sehen uns heute Abend sowieso. Mal sehen, was wir dann noch aus den Angeln heben.“

Daniel grinst. „Ich weiß schon, was ich heute Abend tun will.“ Seine Augen leuchten dabei regelrecht auf.

Ich kenne diesen Blick. Er brennt den Namen meiner Schwester in die vibrierende Luft.

„Aber soll ich dich nicht eben nach Hause fahren?“, fragt er und ich weiß, er will das nur, um vielleicht jetzt schon auf Ellen zu treffen.

Ich steige aus dem Wagen. „Ne, lass mal. Ich nehme mir vorne ein Taxi. Wenn Ellen zu Hause ist, kriege ich dich wieder nicht aus dem Haus und muss dich den ganzen Tag ertragen … hinter meiner Schwester hersäuselnd.“

Daniel lacht und steigt aus. „Du gönnst mir aber auch gar nichts.“

Ich kann ihn nur verdattert anstarren, während er um den BMW herumläuft. Als wenn von so einem Rock die Seligkeit abhängt! Unglaublich.

„Warte nur!“, sagt Daniel, als er sich vor mir aufbaut. „Irgendwann wird es auch dich packen. Ganz unverhofft. Und dann wirst du etwas fühlen … da drinnen.“ Er tippt mir an die Brust.

Ich mache einen Schritt zurück. Er kann froh sein, dass ich ihm nicht welche scheuere. Jeder andere, der mich da anpackt, bekommt welche verpasst. Aber Daniel weiß als Einziger, wie ich unter dem T-Shirt aussehe und was er da unter seinem ausgestreckten Finger fühlt. Daher macht mir das bei ihm nicht ganz so viel aus.

„Gut, fahr mit dem Taxi. Ich komme dann später nach und vielleicht hat Ellen gar keine Zeit. Dann verbringe ich meinen Abend natürlich mit dir“, meint Daniel herablassend und grinst überheblich.

Er ist auch der Einzige, der weiß, dass Ellen mir vorzuziehen mich wirklich ärgert und offenbar will er mich ärgern.

„Du kannst auch ganz wegbleiben“, knurre ich und drehe mich um. „Von mir aus auch für immer!“ Ich gehe über den Hof zur Ausfahrt. Natürlich ist mir klar, dass ich mich benehme wie eine versetzte Diva.

Hinter mir bricht Daniel in Gelächter aus und schmeißt die Haustür hinter sich zu.

Ich schüttele aufgebracht den Kopf.

Am Wall, beim Taxistand, nehme ich mir ein Taxi und fahre nach Hause, verärgert darüber, dass Daniel mich immer wieder damit aufziehen kann. Ich werde mich niemals verlieben und niemals einem Mädel hinterherrennen wie er. Das ist doch wohl klar.