Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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Aus der Reihe: Das Leben #5
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Das Vermächtnis aus der Vergangenheit
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Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

Teil 5 Das Leben

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Verhandlung

Drogendealer und Zuhälter

Julian

Zuviel ist Zuviel

Die Macht des geschriebenen Wortes

Albtraum ohne Ende

Familienfeiern

Julians Zukunftsvision

Gangster und Freidenker

Impressum neobooks

Die Verhandlung

Ich kann immer noch nicht begreifen, wie stark eine Liebe werden kann. Wie durchdringend und alles bestimmend. Für mich ist die Zuneigung, die Erik mir zu schenken bereit ist, das Größte, was ich bisher erfahren durfte. Sie erfüllt mein Innerstes und gibt mir das Gefühl von Bedeutung.

Aber auch für Erik scheint meine Liebe zu ihm das Bedeutungsvollste zu sein. Vor allem seit ich Tim meine Liebe zu Erik gestand, obwohl ich eigentlich nach dem alten Vermächtnis unseres Vorfahren unabänderlich zu Tim gehöre. Bei dem Treffen, das wir in unserer kleinen Stammkneipe arrangiert hatten, sagte ich ihm endlich, dass mein Herz nur noch für Erik schlägt und machte ihm unmissverständlich klar, dass wir niemals zusammen eine Zukunft haben werden.

Tim hatte daraufhin wutentbrannt unseren Treffpunkt verlassen und ich weiß, dass er für mich damit zu einer Gefahr wird, die ich noch nicht einschätzen kann.

Aber in Erik hatte mein Geständnis alle tiefen Abgründe einstürzen lassen, die sich immer wieder in ihm auftaten und gab ihm endlich das Gefühl der Beständigkeit, dass er so sehr braucht.

Doch angesichts meines Zerwürfnisses mit Tim ist uns allen klar, dass mir eine schlimme Zeit bevorsteht. Tim ist so aufgebracht und wütend über meine Entscheidung, dass ich davon ausgehe, dass er unseren Bruder Julian mit einer neuen Aussage eine Gefängnisstrafe ersparen wird. Und dann? Wird Julian mich wieder töten wollen, um an den Teil des Alchemisten Kurt Gräbler zu gelangen, der in mir schlummert? Oder glaubt Tim, Julian wird mich dazu bringen können, mit ihm die für uns vorgesehene Bindung einzugehen?

Seit dem Streit mit Tim plagen mich wieder die Albträume. Ich sehe ihn mit Julian zusammen alles zerstören, was ich mir aufgebaut habe und mehr als einmal träumte ich sogar davon, dass sie Erik, Ellen oder Daniel etwas antun, wenn ich nicht nach ihren Regeln spiele. Wie real meine Träume werden können, zeigte mir die Vergangenheit.

Erik weicht seit dem Tag nicht mehr von meiner Seite. Er hat Angst, mich auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen, und seine Schwester Ellen teilte kurzerhand ihren Eltern mit, dass Erik jetzt mit mir zusammen ist und sie ihn gehen lassen müssen … Bewährungsauflage hin oder her.

Er hat noch achtzehn Monate eine Bewährungsstrafe wegen Drogenbesitz und Drogenhandel zu überstehen und ihm sind in allem die Hände gebunden. Ständig muss ich befürchten, dass sie ihn holen und einsperren, denn er steckt noch tief im Drogenmilieu fest.

In dem großen Bett, in Eriks Armen liegend, versuche ich wieder einzuschlafen. Es ist Sonntag und wir können ausschlafen. Dennoch schaffe ich es nicht, mich erneut in die Tiefe des Schlafes fallen zu lassen.

Es ist der letzte Sonntag, der mir noch ein wenig eine heile Welt vorgaukeln kann. Morgen bricht die Woche an, die wahrscheinlich mein Leben verändern wird. Ich hoffe, dass Julian dem alten Vermächtnis des Alchemisten und dem Fluch über uns für immer abgeschworen hat, und wieder ein mich als Schwester liebender Bruder sein wird. In meinen Tagträumen, die ich beeinflussen kann, bauen wir uns ein Verhältnis auf, wie es Erik und Ellen auch geschafft haben.

Nachdem sie ihre ganze Kindheit und Jugend damit verbrachten, sich zu verachten, zu hassen und zu ignorieren, sind sie nun zu einem Geschwisterpaar zusammengeschmolzen, das sich hilft und für den anderen einsteht.

Das ist nicht nur mein Verdienst! Auch Daniel, Ellens große Liebe und Eriks bester Freund, hat einen nicht geringen Anteil daran. Und auch mir wird er immer mehr zu einem Freund, seid ihm klar ist, dass ich Erik wirklich liebe und zu ihm halte, was auch immer geschieht. Auch Daniel weiß, dass Erik nichts anderes verdient hat.

Da ich nicht wieder einschlafen kann, streiche ich vorsichtig die über die Augen reichenden, blonden Haare aus Eriks Gesicht, die sich dort in ihren lockigen Ursprung verwirren. Den Rest der Haare trägt er immer noch so kurz, dass nur ansatzweise Locken zu erkennen sind und ich weiß, wenn er die Augen aufschlägt, sehe ich das wunderschöne Braun darin.

Es ist wieder eine Zeitspanne, die er überbrücken konnte, ohne Drogen zu nehmen. Erik kämpft darum, diese Zeitspannen immer weiter zu verlängern und ich unterstütze ihn, wo ich kann. Ich bin ihm aber auch nicht böse, wenn er wieder etwas nimmt, um die Qual nicht noch schlimmer werden zu lassen. Sein Wille, für ein Leben ohne Drogen zu kämpfen, macht mich schon glücklich.

Aber trotz seiner Größe und seines starken, durchtrainierten Körpers ist er in seinem Inneren schwach und von dem Schrecken aus seiner Kindheit, als er entführt und schwer verletzt wurde, in seinen Grundfesten so erschüttert, dass ihm nur die Flucht in Gewalt und Drogen geblieben war. Doch aus dem Sumpf wieder herauszufinden ist so schwer für ihn, dass ich mir oft nicht sicher bin, ob er es jemals schaffen wird. Und seit er den Kampf aufgenommen hat, bin ich seine Droge, die ihm den Halt im Leben geben muss und seine Albträume beschwichtigen und seine Ängste ausradieren muss.

Aber auch ich habe täglich mit meinen eigenen Ängsten und Schrecken zu kämpfen und mein Albtraum aus der Vergangenheit ist noch längst nicht vorbei. Manchmal glaube ich, er beginnt jetzt erst, mit dieser Woche, die vor uns liegt.

„Hey, mein Schatz“, höre ich Erik leise sagen.

Diese sanfte Stimmlage hat er sich bei mir zu Eigen gemacht, neu erfunden und mir damit seine Liebe mit jedem Wort verdeutlichend. Wenn er mit mir spricht und diesen Ton anschlägt, sehe ich immer automatisch zu Ellen und Daniel, die gar nicht fassen können, dass Erik überhaupt zu so einer Stimmlage fähig ist und ich muss jedes Mal über ihren Gesichtsausdruck lächeln. Und das Wort „Schatz“ hat Erik eine neue Dimension an Zuneigung eröffnet, die sein Leben mittlerweile bestimmt.

Er dreht sich zu mir um und seine Hand gleitet unter mein Haar in meinen Nacken. „Hast du wieder schlafen können?“ Er klingt sorgenvoll und das ist kein Wunder, nach dieser Nacht, die mich wieder von einem Albtraum in den nächsten irren ließ.

„Ja, habe ich. Es geht mir gut.“ Wie immer möchte ich nicht, dass er sich um mich sorgt.

Seine Lippen legen sich auf meine und sein warmer Körper schiebt sich an meinen. Das ist seine Art, die Schrecken der Nacht zu verscheuchen. Er nimmt mich in seine Arme und hält mich fest umschlungen. Ich genieße es, wenn er mir unsere Zusammengehörigkeit immer wieder vor Augen führt und lege meine Wange auf seine breite Schulter.

Er war zu dieser Art von Zuneigungsbekundungen lange nicht fähig gewesen und es war ein harter Kampf der Gefühle, bis er bereit war, sich auf eine Beziehung einzulassen. Nun ist er für mich mein Halt und Rettungsseil. Aber die Feuchtigkeit, die seinen Körper überzieht, sagt mir, dass es mehr nicht geben wird als die Umarmung. Dazu geht es ihm zu schlecht.

„Wollen wir aufstehen und frühstücken?“, frage ich verunsichert.

Mir einen Kuss auf die Stirn hauchend, nickt Erik. Mit belegter Stimme raunt er: „Ich springe unter die Dusche und gehe dann Brötchen holen.“

Diesmal bin ich diejenige, die nur nickt und ich weiß, dass er nicht nur Brötchen holen will. Aber es ist in Ordnung. Er soll nicht zu viel leiden.

Als er mich aus seinen Armen entlässt, werfe ich einen tiefen Blick in seine schönen, braunen Augen, die, wenn er vom Brötchen holen wiederkommt, von dem tiefen Schwarz der Pupillen dominiert werden.

Erik steht auf und ich bleibe noch liegen. Er soll erst duschen und gehen. Dann erst werde ich aufstehen und mich dem Tag stellen. Nach dem Frühstück werde ich ihn um einen Gefallen bitten müssen, der ihn wieder erschüttern und wütend machen wird. Darum ist es gut, wenn er nicht auch noch mit seinem Entzug zu kämpfen hat.

Erik kommt ins Schlafzimmer zurück, nur ein Handtuch locker um die Hüfte geschlungen.

Ich bewundere seinen schönen Körper, den nur die zwei langen Narben über der Brust entstellen. Aber ich liebe diesen Makel an ihm, weil er seine Schönheit etwas relativiert und meine Unvollkommenheit damit nicht ganz so hervorstechen lässt.

Er kommt zu mir und setzt sich auf die Bettkante, seine Haare über mir ausschüttelnd wie ein nasser Hund. Ich ziehe lachend und quickend die Decke über mich und er lässt seine Hände unter die Decke gleiten und hält mich fest. „Warte, bis ich wieder da bin“, raunt er mit dunkler Stimme und streicht mir durch mein langes Haar.

 

Meine Arme um seinen Nacken schlingend würde ich das, was seine Worte versprechen, gerne sofort einlösen. Aber ich weiß, das würde ihn überfordern. Und ich möchte ihm seinen Erfolg nicht mindern, dass er seit Freitagabend keine Drogen mehr genommen hat.

„Ich werde dich an deine Worte erinnern“, antworte ich und streiche ihm eine Locke aus seinem blassen Gesicht. „Und jetzt ziehe dich an und hole uns ein paar Brötchen, und wenn sie noch haben Croissants.“

Erik steht schwerfällig auf und geht zu dem großen, weißen Schrank, um sich seine Jeans und ein T-Shirt herauszusuchen.

Ich sehe ihm erneut zu und spüre eine leichte Traurigkeit, die mich immer wieder überkommt, wenn ich sehe, wie seine Haltung mit dem Kampf in seinem Inneren an Kraft verliert. Erik ist selbst erschrocken und wütend darüber, dass er nicht bemerkte, wie tief er sich schon in den Drogensumpf ziehen ließ. Es ist kein körperlicher Schmerz, der ihm zu schaffen macht, sondern eine innere Angst, Unruhe und das klare Gefühl, es ohne Drogen einfach nicht schaffen zu können. Er glaubt, er ist dem Leben in keiner Weise mehr gewachsen, wenn er es ohne seine Helferlein meistern muss.

„Bis gleich“, sagt er, wirft mir einen Luftkuss zu und geht.

Langsam stehe ich auf, als ich die Wohnungstür ins Schloss fallen höre. Ich dusche mich, föhne mir meine Haare trocken, die mittlerweile weit über die Schultern reichen und werfe einen Blick in mein blasses Gesicht, aus dem mich blaugrüne Augen besorgt mustern. Meine blasse Haut lässt die Sommersprossen alles dominieren. Von meiner Sommerbräune scheint nichts mehr vorhanden zu sein.

Ich schüttele missmutig den Kopf, gehe ins Wohnzimmer und schaue aus dem Fenster in einen verregneten Tag.

Meinen Laptop hochfahrend, mache ich Musik an und beginne das Frühstück vorzubereiten. Eigentlich habe ich keinen Appetit. Aber ich werde etwas essen, um mir die sorgenvolle Miene von Erik zu ersparen. Er muss gut gelaunt sein, um das zu ertragen, um was ich ihn nach dem Frühstück bitten will.

Der Kaffee läuft in die Kaffeekanne und verströmt einen angenehmen Geruch. Die Eier stehen in ihren Eierbechern neben den Tellern, und Käse sowie Schinken und zwei verschiedene Marmeladen warten schon, als Erik wiederkommt.

Er küsst mich und legt die Brötchentüte auf den Tisch. Ein Blick in seine Augen sagt mir, dass ein neuer Anlauf auf eine neue Zeitspanne begonnen hat, die hoffentlich erneut länger sein wird als die vorherige. Aber ich weiß auch, dass dieser Wunsch von mir sich diesmal ins Gegenteil kehren kann, bei dem, was ich vorhabe.

Ich habe es vor, aber während des Frühstücks kann ich Erik nicht auf das Ansprechen, was ich auf dem Herzen habe.

Er erzählt mir von seinen Studienkollegen und den Dozenten an seiner Uni und kommt von dem Thema auf ein anderes, das er bisher unberührt gelassen hat. Er beginnt mir von seinem Vater zu erzählen, der unbedingt möchte, dass er irgendwann die Sportgeschäfte weiterführt, die seine Eltern in mehreren Städten Deutschlands betreiben. Bis dahin sollen noch weitere gegründet werden. Es ist das erste Mal, dass er über die Geschäftswelt seiner Familie spricht, die für mich bisher nur als entferntes Gedankengut ohne Einfluss auf unser Leben bestand hatte.

Ich spüre sein Unbehagen und dass es nicht das ist, was er tun möchte. Aber Erik hat auch keine Idee, was er stattdessen tun will. Er ist irgendwo in seiner Endlosjugendschleife hängengeblieben, in der er bisher das große Geld nur als Dealer und Gangster verdienen wollte. Aber die Zeit im Jugendgefängnis, wo er sechs Monate einsaß, weil er jemanden krankenhausreif schlug, ist ihm als eine der Schlimmsten in seinem Leben in Erinnerung geblieben.

Für mich passt das alles nicht zusammen. Schließlich war er bisher auf gutem Wege, genau da wieder hinzukommen. Vor kaum achtzehn Monaten bekam er für drei Jahre eine Bewährungsstrafe wegen Drogenbesitz und Drogenhandel, die nur durch einen sehr guten Anwalt und weil seine Eltern ein anständiges, ihn weiter unterstützendes Elternhaus präsentiert hatten, nicht zu einer Gefängnisstrafe wurde. Sein Leben in Freiheit hängt beständig am seidenen Faden, denn er wollte dem Drogenmilieu bisher nicht den Rücken kehren und lässt bestimmt als Geldeintreiber nicht immer die Fäuste in der Tasche.

Natürlich weiß ich von all dem nichts. Zumindest tue ich so. Aber auch ich habe in den Wochen mit Erik gelernt, Dinge zu hören und zu sehen, die mir eigentlich verborgen bleiben sollen.

Als wir den Frühstückstisch abräumen, fragt er: „Wozu hast du heute Lust? Was möchtest du machen?“ Er stellt den Aufschnitt in den Kühlschrank und ich überlege, wie ich ihm am besten mein Anliegen vortragen kann. Jetzt ist die Gelegenheit!

„Ich möchte nicht, aber ich muss heute etwas tun, was dir nicht gefallen wird“, antworte ich ihm und lehne mich an die Küchentür.

Langsam dreht er sich zu mir um. „Und was soll das sein?“, fragt er lauernd. Er mag nicht, wenn ich andeute, dass ich etwas allein tun muss und schon gar nicht, wenn mir schon vorher klar ist, dass es ihm nicht gefallen wird.

Ich strecke ihm meine Hand entgegen, die er nehmen soll und er kommt langsam zu mir, mich beunruhigt musternd.

„Komm!“, bitte ich ihn und als er nah genug ist, nehme ich seine Hand und ziehe ihn mit zum Sofa.

„Was ist los?“, fragt Erik, jetzt schon seine Wut hochfahrend und er macht sich sichtlich auf etwas gefasst.

Er kennt mich gut genug, um zu wissen, dass etwas Unangenehmes folgen wird. Doch wie unangenehm das für ihn sein wird, das weiß nur ich in diesem Moment.

Ich schlucke und sehe ihm in die Augen. „Bitte, rege dich nicht gleich auf. Hör mir erst mal zu“, beginne ich und Erik verschränkt seine Arme vor der Brust und setzt sich auf die Sofakante, als müsse er zum Sprung bereit sein.

Ich kenne ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, was dieser Blick von ihm zu bedeuten hat und lege ihm beruhigend eine Hand auf seine verschränkten Arme.

„Erik, ich muss wegen der Verhandlung mit Marcel sprechen“, werfe ich mein Anliegen in den Raum und halte den Atem an.

Seine Augen verengen sich augenblicklich und er brummt: „Das musst du nicht!“

„Doch! Ich bin beunruhigt, weil er sich nicht mehr gemeldet hat und ich muss wissen, ob Tim mit ihm gesprochen hat.“

„Warum ist das denn wichtig? Selbst wenn Tim ihm von uns erzählt hat, muss dich das nicht mehr interessieren“, wirft er wütend ein.

Ich hatte damit gerechnet, dass das nicht leicht werden wird.

„Schatz, es geht nicht darum! Ich möchte wissen, ob Tim Marcel von dem ominösen Bildüberbringer berichtet hat und was er von ihm verlangt. Vielleicht hat Marcel eine Idee, wer dahinterstecken kann und auch, welche Organisation Julian einen Anwalt stellt, der ihn kostenlos vertritt und auf alle Fälle aus dem Gefängnis herausholen will. Seit ich das weiß, bin ich deswegen wirklich beunruhigt.“

Natürlich sage ich Erik nicht, was die volle Botschaft auf der Rückseite des Bildes war, das mich und Erik in eindeutig verliebter Pose zeigt und das Tim zugespielt wurde, um ihm Eriks Bedeutung in meinem Leben vor Augen zu führen. Aber mich beschäftigen die Worte tagaus und tagein: Hilf deinem Bruder und er wird seiner Schwester klarmachen, bei wem ihr Platz ist.

Jemand versprach darauf Tim, wenn er unserem Bruder Julian aus der Untersuchungshaft hilft, bekommt er mich dafür.

Julian ist mein Bruder, verbunden durch unsere Mutter Sophie, und auch Tims Bruder, verbunden durch ihren gemeinsamen Vater Marcus. Wir unterliegen alle drei dem Vermächtnis unseres Vorfahren Kurt Gräbler, der sich sein Leben lang der Alchemie und Lebensverlängerung verschrieben hatte. Doch er schaffte es nicht, sein Leben zu erhalten. Zumindest nicht in dem Sinne, wie er es sich bestimmt gewünscht hatte.

Aber wir drei träumen von ihm, und wurden bisher immer wieder seltsam manipuliert. Und lange Zeit gab es ein tiefes Band zwischen mir und Tim, das uns miteinander verband - wie all die anderen Nachfahren von diesem Alchemisten, die seit seinem Ableben Kinder mit Blutsverwandten zeugten, weil sie sich in einer krankhaften Liebe zueinander hingezogen fühlten. Wie Tim und ich anfangs auch.

„Bitte, Marcel kann mir bestimmt helfen!“

Erik springt auf und sieht mich von oben herab an. „Ich kann dir auch helfen! Du brauchst den dafür nicht. Du kannst mit allem zu mir kommen und wir finden einen Weg.“

Ich stehe auch langsam auf und stelle mich dicht an ihn heran, meine Arme um seine Hüfte schlingend. Ich weiß, er ist gekränkt, weil ich ihn das Recht abspreche, zu wissen, was für mich gut und richtig ist. Dabei ist er sechs Jahre älter als ich und glaubt alles besser zu wissen.

„Natürlich! Du hilfst mir ja auch. Aber Marcel hat Möglichkeiten, etwas in Erfahrung zu bringen, die wir nicht haben. Sein Großonkel ist der Professor, der sich sein ganzes Leben lang mit der Geschichte unserer Familie und der des Alchemisten beschäftigt hat. Vielleicht kann Marcel ihn fragen, was er von Tims Geschichte und von dieser Organisation hält, die Julian unbedingt helfen will, und mir sagen, was ich vielleicht besser vorher weiß, bevor Julian Donnerstag wieder auf freien Fuß kommt“, versuche ich ihm klarzumachen.

Dass jemand Julian einen neuen Anwalt stellte, der den meiner Eltern absägte, ist noch ein Punkt, den ich schwer einschätzen kann. Wem liegt noch daran, dass Julian wieder auf freien Fuß kommt? Sind das die gleichen, die auch das Bild von mir und Erik an Tim weitergaben?

Eriks Blick sagt mir, dass er den Gedanken nicht ertragen kann, dass Marcel und ich noch irgendetwas miteinander zu tun haben. Er kann nicht mal ein Telefongespräch ertragen.

„Also, ist es in Ordnung, wenn ich Marcel anrufe?“, frage ich noch einmal nach.

Erik legt seine Hände auf meine Schulter und sieht mich mürrisch an. „Nein! Ist es nicht!“ Ich höre in seiner Stimme dennoch die Unsicherheit darüber mitklingen, dass seine Ansicht eigentlich eine übertriebene Reaktion ist und er das weiß.

„Erik, ich frage dich, weil ich nichts tun möchte, ohne dass du Bescheid weißt. Aber ich lasse mir auch nichts verbieten“, brumme ich und lasse ihn los.

„Dann mach doch was du willst“, zischt er und lässt mich auch los. Er geht ans Wohnzimmerfenster, reißt es auf, wobei er es fast aus den Angeln bricht und atmet tief durch.

Ich nehme vom Wohnzimmertisch die Zigarettenschachtel und gehe zu ihm. Ihm die Schachtel hinhaltend, lächele ich entschuldigend.

Er nimmt sich eine und sieht mich wütend an.

„Schatz, bitte! Ich mache es auch kurz. Ich muss nur mit ihm über einige Dinge reden. Sei nicht wütend. Du weißt doch, dass ich dich liebe und zu dir gehöre.“

„Ja, dann mach doch!“, knurrt er und zieht an seiner Zigarette, sich wieder dem Fenster zuwendend.

Ich werfe die Zigarettenschachtel auf den Wohnzimmertisch zurück und hole mein Handy aus meiner Schultasche. Ich habe mein altes Handy und meine alte Karte wieder, die einige Zeit in Eriks Besitz war, um mich zu überwachen, und rufe darüber Marcel an. Es klingelt und klingelt und ich lege auf. Aber ich versuche es ein zweites Mal und nach einigem Klingeln nimmt Marcel ab. Er klingt verschlafen. „Ja! Carolin?“

„Hallo Marcel!“

„Hallo!“, kommt es zurückhaltend. „Ich dachte, du meldest dich in der vergangenen Woche mal?“ Er klingt vorwurfsvoll.

„Sorry! Ich hatte viel zu tun. Aber weswegen ich anrufe - hast du etwas von Tim gehört?“ Ich will es kurz machen und spüre Eriks Anwesenheit fast wie eine Bedrohung. Er hasst es, wenn ich noch mit meinen Exfreunden zu tun habe.

Kurze Zeit ist es still in der Leitung, dann antwortet Marcel: „Ne, warum?“

Ich atme tief ein und werfe einen Blick zu Erik hin, der immer noch am Fenster steht und sich nicht rührt. „Er war Dienstag hier. Es gibt ein Problem wegen der Verhandlung. Ich muss davon ausgehen, dass er seine Aussage zu Gunsten von Julian ändern wird“, erkläre ich Marcel.

„Waaas?“, höre ich den laut ins Handy brüllen. Er scheint mit einem Mal hell wach zu sein. „Warum glaubst du das?“

Ich schlucke erneut den Kloß herunter, der sich in meinem Hals bilden will. Wie soll ich Marcel klarmachen, worum es geht? Und vor allem, wie soll ich Marcel von der Botschaft auf dem Bild berichten, ohne dass Erik das wirkliche Ausmaß der Mitteilung mitbekommt?

„Können wir uns irgendwo treffen?“, frage ich resigniert und weiß, dass das Erik zum Kochen bringen wird. Aber er darf einfach nicht erfahren, was Tim erhalten soll, wenn er seine Aussage ändert. Das wäre viel schlimmer.

 

Wieder ist es einige Momente still und ich sehe aus dem Augenwinkel, dass Erik sich zu mir umdreht. Ich sehe ihn lieber nicht an.

„Ja klar! Ich kann in einer Stunde an dem Parkplatz sein, auf dem wir uns letztes Mal getroffen haben“, sagt Marcel.

„Gut, wir kommen da hin. Also …“, ich sehe auf die Uhr, „in einer Stunde. In Ordnung?“ Mir wird heiß bei dem Gedanken, was mir gleich blühen wird.

„Okay, bis dann!“, antwortet Marcel und fragt gar nicht, wer „wir“ ist. Ich bin froh darüber und hoffe, dass das nun folgende Donnerwetter nicht ganz so hurrikanmäßig ausfällt, weil ich klar damit aussagte, dass Erik mitkommen soll.

„Bis dann!“ Ich drücke das Gespräch aus und sehe Erik an, der wieder diesen Blick draufhat, der mich am Anfang, als ich ihn kennenlernte, immer verängstigt hatte.

„So, du willst dich mit ihm jetzt auch noch treffen?“, knurrt der aufgebracht und schüttelt ungläubig den Kopf.

Wir werden ihn treffen. Du kommst mit. Zumindest bleibst du in der Nähe. Bitte! So weiß ich, dass du weißt, dass zwischen mir und Marcel nichts mehr ist und wir wirklich nur reden.“

Erik sieht mich verdattert an. Dass er mitgehen soll, damit hat er nicht gerechnet.

„Bitte Erik! Du musst mitkommen! Ich will nicht mit Marcel allein sein … aber ich muss mit ihm reden. Er ist auch vollkommen entsetzt, dass Tim das jetzt abzieht. Aber er muss auch wissen, warum.“

„Du willst ihm von uns erzählen?“, fragt Erik verblüfft.

Bisher hatte ich meine Beziehung mit Erik vor Marcel geheim halten wollen, weil er vor meiner Mutter immer noch mein Alibi ist. Sie weiß nicht, dass wir getrennt sind und auch nicht, dass ich nicht mehr bei Marcel wohne. Und Marcel hält darüber stillschweigen, weil er immer noch hofft, dass ich zu ihm zurückkehre. Diese Hoffnung würde, wenn er wüsste, dass ich mit Erik zusammen bin und mit ihm zusammenlebe, wie ein Schiff im tosenden Meer untergehen.

„Ja, das werde ich tun. Schließlich geht es auch nicht anders. Es geht nun mal um uns und dem Bild, weswegen Tim wütend ist. Und Marcel wird auch wütend sein. Schließlich denkt er, du wirst aus mir ein drogenabhängiges Strichmädchen machen.“ Ich grinse Erik an und füge schnell hinzu: „Aber das ist egal. Ich muss wissen, was er über die Sache mit der Botschaft auf dem Bild denkt.“

„Was soll er darüber denken? Da stand doch nur, dass Tim euren Bruder mit einer Falschaussage helfen soll aus der Untersuchungshaft zu kommen. Und da du und Marcel ja damals schon falsche Angaben gemacht habt, könnt ihr ihm nicht mal verübeln, wenn er auch umschwenkt.“

Erik ist immer noch viel zu aufgebracht, als dass er auch nur für einen Augenblick meine tiefsitzende Angst registriert, und dass dieses Gespräch mir wirklich wichtig ist, um diese Angst unter Kontrolle zu bekommen.

„Kommst du jetzt mit oder muss ich alleine gehen?“, frage ich ungeduldig und gehe in die Küche, um mir schnell noch etwas zu trinken zu nehmen, bevor ich aufbreche. Ich bekomme keine Antwort und höre stattdessen Erik telefonieren.

Als ich wieder ins Wohnzimmer komme, nickt er wütend. „Ich gehe natürlich mit! Ich lasse dich bestimmt nicht mit dem allein. Wer weiß, was er tut, wenn du ihm von uns erzählst? Ich möchte nicht, dass er dich wieder ins Auto zerrt und mit dir abhaut.“

Ich sehe ihn verwirrt an. Dann fällt mir ein, dass Ellen Erik und Daniel im betrunkenen Zustand einmal erzählt hat, wie Marcel mich nach unserer ersten Trennung an der Schule abfing und ins Auto verfrachtet hatte, um mich zu einem Gespräch zu zwingen.

„Das wird er nicht. Damals war alles anders!“, raune ich nur und hoffe, dass das stimmt. Marcel heute sagen zu müssen, dass ich mit Erik zusammen bin, verursacht mir Magenschmerzen und Erik so aufgebracht zu sehen, tut mir weh. Er hat so eine Angst! Aber wovor? Ich will doch nur ihn!

„Okay. Dann lass uns gehen. Marcel kommt zu dem Parkplatz, auf dem ihr sein Auto schon beim letzten Mal belagert habt.“ Ich halte Erik meine Hand hin und er ergreift sie widerwillig. Mich an sich ziehend, nimmt er mein Kinn zwischen seinen Daumen und Zeigefinger und zwingt mich, ihn anzusehen. „Lass mich das heute ja nicht bereuen“, knurrt er aufgebracht und ich schüttele nur den Kopf. „Erik, bitte! Es wird nichts passieren!“

Wir verlassen die Wohnung und als wir die Treppe hinunter an Daniels Wohnung vorbeigehen, klopft Erik im Vorbeigehen an dessen Tür.

Sofort fliegt die auf und Daniel kommt mit Ellen ins Treppenhaus gestürmt. „Okay! Gehen wir!“, ruft er, ohne einen Gruß oder ein nettes, beruhigendes Lächeln.

Ellen zwinkert mir wenigstens zu, als Zeichen, dass ich beruhigt sein kann. Mir ist klar, dass Erik sein kleines Aufgebot als Unterstützung braucht, und dass Ellen dabei ist, beruhigt mich ungemein. Sie hält mir notfalls die Männer etwas in Schacht.

Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, dass mich drei Leute begleiten, wenn ich meinen Exfreund kurz sprechen möchte, gehe ich weiter. Aber in meinem Inneren zieht sich alles zusammen. Ich schlucke meinen Ärger darüber einfach hinunter. Mit Erik lebe ich jetzt in einer Welt, die diesbezüglich anderen Regeln folgt.

Der Himmel ist immer noch verhangen, aber es regnet nicht mehr. Wir gehen durch die Altstadt zum Dom, neben dem der Parkplatz ist, auf dem ich mich mit Marcel treffen will. Da das Wetter heute schlecht ist, wird er dort auch einen freien Platz bekommen.

Zu meiner Überraschung lässt Erik meine Hand los und gibt Daniel ein Zeichen, ihm zu folgen. Nur wenige Parkplätze sind leer und Erik platziert sich mit Daniel und Ellen so, dass er mich immer im Blickfeld hat. Er wendet sich an seine Schwester, die Daniel unsicher ansieht und dann langsam zu mir zurückkommt.

Ich stehe unschlüssig an der Parkplatzauffahrt und warte darauf, dass ein roter Golf an mir vorbeizieht.

„Ich soll bei dir bleiben“, sagt Ellen und sieht mich verunsichert an, als sie neben mir auftaucht.

„Das ist in Ordnung. Aber ich muss dich bitten, etwas auf Abstand zu bleiben und mich allein mit Marcel sprechen zu lassen“, raune ich und bin mir sicher, dass das kein Problem darstellt.

Ellen wirft einen Blick zu Erik hinüber und schüttelt den Kopf. „Erik will, dass ich wie eine Klette an deiner Seite klebe.“

Verdutzt sehe ich sie an und mir wird klar, dass Erik kein bisschen Vertrauen in mich setzt.

„Verdammt!“, fluche ich leise und Ellen sieht mich unschlüssig an. „Ist das irgendwie ein Problem?“, fragt sie barsch.

Seit sie und Erik ihr geschwisterliches Verhältnis in eine Richtung lenkten, in der sie wirklich auch wie nette Geschwister miteinander umgehen, wird sie schnell wütend, wenn sie das Gefühl hat, Erik könnte hintergangen werden. Aber dass sie bei mir nun so tut, als würde ich ihn irgendwie betrügen wollen, macht mich wütend.

„Ja, ist es! Ich schwöre dir, wenn du Erik nur einen Ton von dem erzählst, was du gleich zu hören bekommst, ist es aus mit unserer Freundschaft“, knurre ich aufgebracht.

Ellen sieht mich verdattert an. Dass ich sie so anfahre, hatte sie nicht erwartet und auch nicht, dass es wirklich zwischen mir und Marcel zu einem Gespräch kommen wird, von dem Erik nichts wissen darf. Sie will gerade wütend etwas erwidern, als Marcels Auto an uns vorbeirauscht und in die nächste Parklücke setzt.

Er springt behände aus dem roten Golf und sieht einfach nur gut aus. Dass ich das immer wieder feststelle, bringt mich kurz aus der Fassung.

Er kommt auf mich zu und umarmt mich kurz, mit Blick auf Ellen. „Hi!“, grüßt er sie kurz und lässt mich los, weil er merkt, wie ich mich in seinem Arm erschrocken versteife.

„Ellen! Marcel!“, stelle ich die beiden einander vor.

Sie hatten bisher nur telefonisch miteinander zu tun gehabt, als Ellen Marcel anrief, um mich von ihm, nach meiner Drogeneskapade mit Erik, wegholen zu lassen. Sie wollte damals nicht, dass Erik mir zu nahekam. Doch bald schon bereute sie diesen Schritt, denn er beendete Marcels und meine Trennung.

„Hallo!“, sagt Ellen und reicht ihm die Hand.

Und Marcel nimmt sie bereitwillig. „So begegnen wir uns auch mal“, raunt er und sieht sich um.

Da er Daniel und Erik nicht kennt, fallen ihm die beiden nicht weiter auf.

„Wollen wir irgendwohin gehen?“, fragt er und sieht mich wieder aus seinen grauen Augen an. Sein Blick versetzt mir einen kleinen Stich und ich schaue zu Erik hinüber, der neben Daniel an einem der Bäume lehnt und eine Zigarette raucht, jede unserer Bewegungen genau verfolgend. Sein Anblick relativiert meine Gefühle sofort wieder und ich atme einmal tief durch und sehe Marcel wieder an. „Ich habe nicht viel Zeit und ich denke, du wirst nach dem Gespräch nicht mehr lange bleiben wollen“, prophezeie ich ihm.