Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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Aus der Reihe: Das Leben #5
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„Willst du nicht besser zu uns kommen? Papa holt dich heute Abend ab.“

„Mama! Ich werde hier versorgt“, raune ich nur und sie keift: „Marcel sagte, dass du einen Neuen hast! Wann wolltest du uns von dem erzählen? Und das alles, wo doch Julian auch noch seine Verhandlung diese Woche hat. Kannst du denn dorthin überhaupt mit?“

„Das muss ich! Aber ich werde keine Aussage machen. Ich werde mein Zeugnisverweigerungsrecht vorschieben. Als seine Schwester kann ich das und werde das auch tun. Ich hoffe, das beruhigt dich.“

Das weitere Gespräch ist für mich nur noch eine Qual. Meine Mutter will nur eins und das um jeden Preis - Julian aus der Untersuchungshaft haben.

Nach dem Gespräch mit ihr lasse ich mich aufs Sofa zurücksinken. Erik ist zur Apotheke gegangen, um meine Medikamente zu holen und ich kann mich nur zusammenrollen und tief durchatmen, um die aufsteigende Unruhe und Angst zu bekämpfen, die mir schon wieder die Luft abschnüren will. Ich will auch, dass Julian aus dem Gefängnis kommt und endlich alles ein Ende hat. Ein Ende, dessen Ausgang mir in diesem Moment echt egal ist. Hauptsache es ist endlich vorbei.

Am Abend ruft Marcel mich an. Seinem Großonkel geht es nicht gut und er hatte ihn nur kurz besuchen dürfen. „Ich habe ihn zwar über diese Organisation ausgefragt, aber er konnte mir nichts darüber sagen.“

„Wie heißt diese Organisation?“, frage ich etwas enttäuscht.

„Die Al Kimiyaischen Freidenker oder so. Al Kimiya heißt so viel wie Chemie auf Arabisch. Es gab nicht viel, was ich darüber herausfinden konnte und was dann auch noch einigermaßen verständlich ist. Ich weiß auch nicht, wo die herkommen oder wo die ihren Sitz haben.“

„Okay! Ist auch erst mal egal. Und was ist mit deinem Großonkel? Warum geht es ihm so schlecht?“, frage ich, um wenigstens ein wenig Anteilnahme zu zeigen. Erik ist noch in der Dusche und ich bin froh darüber, dass er von dem Gespräch nichts mitbekommt.

„Nah, das Alter“, antwortet Marcel nur und er tut mir leid. Er liebt seinen Großonkel und für ihn wäre es schlimm, wenn er nicht mehr da wäre.

„Ich hoffe, es geht ihm bald wieder besser“, sage ich ehrlich mitfühlend.

Einen Augenblick herrscht Stille in der Leitung. Dann räuspert sich Marcel. „Und, wie geht es dir?“, fragt er und seine Stimme wird so weich, dass mir mein Herz schwer wird.

„Alles wieder okay. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich bin so schnell nicht kleinzukriegen. Das weißt du doch.“

„Ich weiß nur, dass du zwar viel aushältst, aber nicht auf ewig und nicht in diesem Maße. Wir haben es doch gestern gesehen! Aber Erik ist wenigstens körperlich allem gewachsen, was dir etwas antun könnte. Ich hoffe nur, er hat auch genug Herz und Köpfchen“, murrt er und ich weiß, er ist verletzt, weil ich mit jemand anderen zusammen bin und dem ganz offensichtlich all das entgegenbringe, was ich ihm nicht mehr entgegenbringen will.

„Das hat er“, antworte ich nur. „Er wird auf mich achtgeben und wenn er mal nicht kann, dann habe ich ja noch meinen Freund, der auch immer für mich da ist und der mir einer der liebsten Menschen auf der Welt ist“, sage ich, weil ich das Gefühl habe, ihn aufbauen zu müssen.

„Ach echt! So einen dummen Volltrottel gibt es in deinem Leben auch noch, der trotz allem immer noch für dich da ist?“, raunt Marcel und lacht leise auf.

„Das hoffe ich zumindest!“

Es ist erneut still in der Leitung und ich warte auf seine Antwort, die letztendlich ergeben an mein Ohr dringt: „Ja, den hast du wohl“, raunt er leise und ernst. „Und dieser Volltrottel muss jetzt Schluss machen. Die Jungs warten. Wir wollen noch Fußball schauen.“

„Okay, Marcel! Und Danke!“

„Für dich doch immer.“

Dr. Bremer kann mir ein Erscheinen vor Gericht nicht ersparen. Aber Erik begleitet mich bis vor das Gebäude. Dort nimmt mich Marcel in Empfang, mit klarer Order von Erik, ihn anzurufen, wenn ich es irgendwie nicht schaffe. Er bleibt auf Abruf in der Nähe, soll aber möglichst nicht in Erscheinung treten, damit keiner weiß, wo und bei wem ich hinterher untertauche.

Da ich immer noch nicht in Osnabrück gemeldet bin, sondern bei meinen Eltern, wird es nicht leicht sein mich ausfindig zu machen.

Meine Mutter ist vollkommen außer sich, als sie von unseren Vorsichtsmaßnahmen erfährt. Sie wollte unbedingt den Neuen an meiner Seite kennenlernen und kann nicht verstehen, warum wir ihren Julian so verteufeln.

Zu meinem Erstaunen erscheint Dr. Bremer vor dem Gerichtssaal. Erik hatte ihn wohl gebeten, mich im Auge zu behalten.

In dem großen Saal sehe ich Julian dann das erste Mal wieder. Seine Haare sind ungeschnitten und glänzen in weichen Wellen in dem Licht der Neonröhren, und seine braunen Augen leuchten auf, als er mich sieht. Ich kann keine Wut oder Bösartigkeit in ihnen ausmachen. Er wirkt eher traurig und betroffen.

Als ich die Fragen zu meinem Namen und meiner Anschrift beantworte, kann ich fast nur flüstern. Der Richter ist nachsichtig mit mir, weil er von Dr. Bremer, der mit ihm auch Golf spielt, wie ich kurz vorher erfuhr, über meinen Zustand unterrichtet wurde. Als ich gefragt werde, ob ich mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert bin, murmele ich zu Julian sehend: „Er ist mein Bruder.“

Julian schließt einen Moment die Augen, als würde ich ihn schlagen.

„Möchten Sie hier vor Gericht eine Aussage zum Tathergang machen?“

„Nein, ich möchte das Zeugnisverweigerungsrecht in Anspruch nehmen“, antworte ich und spüre schon wieder diesen Kloß in meinem Hals, der mir die Luft abschnürt.

Mein Blick fällt auf den Anwalt, der neben Julian sitzt und unverschämt grinst. Er ist ein dunkler Typ, mit schwarzen Haaren und dunklen Augen und einem unglaublich arroganten Gesichtsausdruck. Ihm würde ich die Worte auf Eriks und meinem Bild zutrauen.

Ich werde entlassen und Dr. Bremer, der mich von der Tür des Gerichtssaals aus nicht aus den Augen ließ, legt seinen Arm um mich und begleitet mich hinaus. Alle anderen Zeugen können nach ihrer Aussage auch im Gerichtssaal Platz nehmen.

Marcel ist der nächste, der aufgerufen wird und mich daher nur schnell in den Arm nehmen kann.

„Bitte ändere deine Aussage nicht. Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert“, flüstere ich ihm ins Ohr, als ich diesen kurzen Moment noch einmal meine Arme um seine Taille schlingen kann und ihn festhalten darf. „Wir haben den Kampf sowieso verloren.“

Er nickt und geht, von dem Gerichtsdiener begleitet. Hinter mir taucht Tim auf und ich sehe ihn verunsichert an.

Aber er dreht sich weg und wirft sich auf einen der Stühle.

Ich will zu ihm gehen, aber Dr. Bremer nimmt mich an den Schultern und schiebt mich aus dem Wartebereich.

Tim sieht mir hinterher und seine dunklen Augen drücken eine seltsame Ruhe aus, die ich bei ihm schon mal gesehen habe. Da war er sich sicher, dass nichts uns wirklich je trennen kann.

Ich fühle wieder meine Kräfte schwinden und der Griff von Dr. Bremer wird fester, als wir oben auf der Treppe an die frische Luft treten. Ich bin froh, dem riesigen Gebäude den Rücken kehren zu können und Erik ist mit ein paar Schritten bei mir und nimmt mich mit sorgenvollem Blick in sein Gewahrsam.

„Sie hat das gut gemacht! Ganz tapfer, deine Kleine!“, sagt der Doktor und Erik bedankt sich bei ihm. Aber sie machen aus, dass er mich nach Hause bringt und Dr. Bremer mir dort noch einmal eine Beruhigungsspritze gibt, weil ich schon wieder zu zittern beginne.

Vor meinem geistigen Auge sehe ich Julian vor mir und seinen Blick aus seinen braunen Augen. Er ist immer noch mein Bruder. Aber der Gedanke an ihn macht mich unruhig und schnürt mir die Luft ab. Meine Liebeskummerpython regt sich in meinen Eingeweiden und ich versuche sie niederzukämpfen. Scheinbar erwacht sie neuerdings auch bei psychischem Stress zum Leben.

Erik bringt mich zu Daniels BMW, den er am Gericht parkte, obwohl wir nicht weit zu laufen gehabt hätten. Er wollte auf keinen Fall, dass wir zu Fuß wieder zurückgehen müssen und er wollte nicht mit seinem auffälligen Auto vorfahren.

Manchmal hat er einen Weitblick, der mir wirklich vor Augen führt, dass er sechs Jahre älter ist als ich.

Bei uns zu Hause erwarten uns Ellen und Daniel. Sie kommen uns schon an der Haustür entgegen und Ellen umarmt mich mit sorgenvollem Blick. „Komm! Endlich hast du es überstanden“, raunt sie und Erik und Daniel halten wieder ihr stummes Zwiegespräch. Wir haben noch nicht mal in meiner Wohnung die Tür hinter uns geschlossen, als es an der Tür klingelt und Dr. Bremer zu uns stößt.

„So, Carolin! Ich möchte Ihnen noch einmal eine Beruhigungsspritze geben, damit Sie das Ganze besser verkraften. Erik wird dafür sorgen, dass Sie gleich ins Bett gehen. Morgen sieht die Welt dann wieder besser aus. Heute müssen Sie sich noch schonen.“

Ich setze mich aufs Sofa, weil ich nicht weiß, ob ich schon beim Anblick der Spritze umkippe. Ich sehe nicht hin, als die Nadel sich in meine Haut bohrt.

Dr. Bremer wünscht mir alles Gute. Da mein EKG gestern in Ordnung war, denkt er, dass ich mich nur genug schonen und alle weitere Aufregung vermeiden muss, um mich wieder in den Griff zu bekommen.

Er lächelt über Erik, Ellen und Daniel, die sich um mich scharen, wie Glucken um ihr Küken und ich sehe, wie er Erik mit einem Blick zunickt, der mehr als nur dem eines netten Doktors entspricht. Aber wenn er Erik schon ewig kennt, wird ihm vielleicht nicht entgangen sein, wie er mich behütet. Und wer Erik kennt, weiß, dass das kein Wesenszug ist, der ihm schon immer lag.

Ich fühle das Mittel wirken und versuche mich dagegen zu wehren. Ich möchte nicht schlafen. Noch weiß ich nicht, wie die Verhandlung ausgegangen ist und sofort packt mich die Unruhe, die das Mittel nur schwer niederdrücken kann. Aber es dauert nicht lange und auch der Gedanke an die Verhandlung ist nur noch ein Nebelschwaden in meinem Kopf. Ich lehne mich an Ellen, die neben mir sitzt und einfach nur meine Hand hält, während Erik und Daniel sich leise unterhaltend ans Küchenfenster stellen und eine Zigarette rauchen. Ich wüsste gerne, was die beiden besprechen. Aber mein Kopf würde es gar nicht mehr wahrnehmen, wenn sie es mir sagen würden.

 

Ellen legt den Arm um mich und ich falle an ihre Schulter und drifte in einen dunklen Schlaf, der sogar meine Gedanken frisst. Tröstlich.

Ich wache in meinem Bett auf und höre von irgendwoher Musik und Stimmen, die sich unterhalten. Langsam schiebe ich mich aus dem Bett, noch völlig benommen. Aber der Drang zur Toilette ist stärker als die Müdigkeit.

Durch das Wohnzimmer strebe ich dem Badezimmer entgegen und da die Stimmen nicht aufhören zu raunen, wähne ich mich unentdeckt.

Als ich das Badezimmer verlasse, gehe ich in die Küche und sehe Ellen mit Erik und Daniel am Tisch sitzen und Bier trinken. Es sind ihre Blicke, die mich sofort wieder beunruhigen.

„Carolin!“ Erik springt auf und bringt mich zu einem Stuhl, als wäre ich eine achtzigjährige Oma.

Ellen springt auch auf. „Ich mache dir deinen Tee!“

Nur Daniel bleibt wie immer gelassen. Ich sehe ihn an und bin froh über diese kleine, ruhige Insel in dem immer sturmgepeitschten Zeiss-Clarkson Ozean.

„Wie fühlst du dich?“, fragt er nur und ich antworte: „Geht schon. Habt ihr was von Marcel oder meinen Eltern gehört?“

„Dein Vater hat angerufen. Er wollte wissen, wie es dir geht. Und Marcel war nach der Verhandlung hier“, sagt Ellen überdreht. Sie sagt aber nicht, was ich eigentlich wissen will.

Erik stellt sich hinter mich, legt seine Arme über meine Schultern und verschränkt seine Hände vor meiner Brust, als müsse er mich festhalten. „Julian ist auf Bewährung rausgelassen worden“, raunt er und ich kann nur nicken. Irgendwie wusste ich das schon.

„Tim hat ausgesagt, dass er nur meinte, dass Julian euch umbringen wollte und er wäre ausversehen vor das Auto von Julian gelaufen und dieser hätte ihn ins Auto gebracht, um ihn zu einem Arzt zu fahren. Aber er wollte zu dir und ist freiwillig mit in das Labor gegangen. Dass Julian dich in den Hals geschnitten hat, auch wenn das angeblich versehentlich geschah, wie Tim diesmal auch bestätigte, lag angeblich daran, weil du ihn getreten hast. Fast wollten sie Tim sogar eine Nebenklage wegen Falschaussage anhängen und er hätte das echt in Kauf genommen, hat Marcel gesagt. Der neue Anwalt hatte leichtes Spiel und fegte alles vom Tisch und da die Untersuchungshaft schon mit anzurechnen ist, reicht wohl eine Bewährungsstrafe für das Maß der Anschuldigungen aus“, höre ich Erik leise sagen und in seiner Stimme schwingt Wut mit.

Ellen schaltet sich ein. „Marcel war ziemlich aufgebracht. Dieser Anwalt konnte alle überzeugen, dass Julian nur durch ein gescheitertes Experiment und durch die Dämpfe, die dadurch entstanden sind, einen Aussetzer hatte. Und sein Ausraster kam nur, weil er nicht wollte, dass seine Schwester und sein Bruder etwas miteinander anfangen. Dass Tim vorher ausgesagt hatte, dass er ihm in das Labor gefolgt war, weil er zu dir wollte, besiegelte alles. Wer will schon, dass der Bruder mit der Schwester …“ Sie schüttelt den Kopf. „Diese verlogenen Arschlöcher!“

Ich sehe sie an und weiß, was sie meint. Sie ist die Einzige, die weiß, was der Preis für Tims Verrat ist. Sie kennt die Zeilen von der Bildrückseite.

Den Tee vor mich hinstellend, streicht sie mir über die Wange.

„Du hast uns. Wir sind deine Kampfbrigade. Erik war nicht umsonst jahrelang in seiner Muckibude. Das war Vorsehung! Es sollte so laufen! Auch mit euch beiden.“ Sie grinst Erik an, der mich loslässt und sich wieder auf den Stuhl neben mir wirft.

„Das denke ich auch“, raunt er leise und ich sehe ihm an, dass er immer noch schrecklich bedrückt ist. Er hat Angst um mich und kann genauso wenig wie ich die neue Situation einschätzen.

„Ich hoffe, das reicht auch“, flüstert er und sieht Daniel an, als könne der ihm eine Antwort darauf geben.

Drogendealer und Zuhälter

In der Nacht schlief ich gut. Wahrscheinlich war das noch die Wirkung der Beruhigungsspritze von Dr. Bremer. Als ich um halb sieben wach werde und mich nach Erik umschaue, liegt er wach neben mir und starrt an die Decke.

Das Licht, das durch das Fenster in unser kleines Reich scheint, beleuchtet sein Gesicht und er wendet den Kopf, als er neben sich eine Regung ausmacht.

„Guten Morgen!“, sage ich und lächele ihn an.

„Guten Morgen!“, antwortet er mit belegter Stimme und ich sehe an dem Braun seiner Augen und seinem blassen Gesicht, dass es für ihn nicht so ein guter Morgen ist.

Ich fahre mit meiner Hand über seine Brust, die feucht und kalt ist. „Wie geht es dir?“, frage ich ihn dabei und er sieht mich verdutzt an. „Wie geht es dir?“, fragt er zurück und klingt etwas ungehalten.

„Gut! Ich habe gut geschlafen. Und du?“

Seine Augenränder geben mir schon eine Antwort.

„Geht so.“ Erik sieht wieder zur Zimmerdecke.

Sein Anblick tut mir weh. Ich muss aufstehen … etwas tun. Dass er so leidet, verursacht in mir ein beklemmendes Gefühl, das mich wieder runterzieht. Ich will das nicht sehen.

Schnell schiebe ich die Decke weg und stehe auf. „Ich gehe duschen“, sage ich und verlasse das Schlafzimmer.

Er sagt etwas, aber ich laufe schon durch das Wohnzimmer in den Flur. Zurückgehen und Nachfragen möchte ich nicht. Ich weiß, Erik wird gleich aufstehen und sich irgendwo das weiße Pulver in die Nase ziehen oder eine Pille einwerfen und mir ist klar, ich darf das nicht zu sehr an mich heranlassen, wenn ich nicht wieder zusammenbrechen will. Ich muss stark sein für das, was mich erwartet und für ihn mit.

Als das heiße Wasser über meinen Körper läuft, spüre ich, wie in mir die Lebensgeister wiedererwachen, die mich seit Sonntag verlassen zu haben scheinen.

„Warum duschst du so früh am Morgen?“, höre ich Erik von der Tür her fragen.

Ich drehe mich zu ihm um, ihn durch das langsam beschlagene Glas der Duschwand ansehend. „Ich glaube, ich bringe heute mal die Wohnung auf Vordermann, gehe einkaufen und am Nachmittag zu Alessia“, antworte ich ihm mit übertrieben guter Laune.

„Bestimmt nicht“, knurrt er mit übertrieben schlechter Laune.

Ich dusche mich weiter und wasche mir meine Haare. Als ich aus der Duschkabine steige, steht er davor und hält mir ein Handtuch hin. Ich lasse mich von ihm einwickeln und er zieht mich in seine Arme. „Das war ein Scherz, hoffe ich! Du bist noch krankgeschrieben.“

Ich lächele ihn nur an.

„Gut“, sagt er beruhigt, davon ausgehend, dass ich nur scherzte. „Ich muss nämlich heute wieder los. Wir haben wichtige Vorlesungen und ich kann nicht immer fehlen.“

„Stimmt, das geht gar nicht. Ich mache dir einen Kaffee und mir einen Tee. Passt das?“, frage ich und möchte ihm zeigen, dass es mir wieder gut geht.

Er nickt und mir wird klar, er will noch ein wenig hinauszögern, was schon längst als wilde Sehnsucht durch seine Adern rauscht und in seinem Kopf ein Verlangen auslöst, das nicht mal ich befriedigen kann.

Ich ziehe mich an, koche ihm seinen Kaffee und mir einen Tee, während er duscht. Wir haben kein Brot da, also gibt es später etwas vom Bäcker.

Erik setzt sich rasiert und unglaublich gut nach seinem Aftershave duftend an den Tisch.

Ich küsse ihn auf die Wange, um den Geruch einmal tief einatmen zu können.

„Und was machst du heute?“, fragt er und seine Augen blitzen kurz auf, als er meinen Blick sieht.

„Ich sagte doch … Hausputz, einkaufen, Alessia.“

Erik sieht mich mit diesem arroganten Blick an, den er mir manchmal noch präsentiert und ich weiß, er glaubt mir nicht.

Meinen Tee trinkend, lächele ich nur vor mich hin.

Er lächelt auch und raunt: „Du willst mich heute Morgen fuchsen!“

Ich schüttele den Kopf. „Mir geht es gut und ich muss etwas tun. Du gehst zur Uni und ich mache mein Ding.“

Ich klaube mein Handy von der Fensterbank, das gestern irgendwie seinen Weg dorthin gefunden hat. Wahrscheinlich, als mein Vater anrief und Erik das Gespräch entgegennahm. Ich drücke eine SMS rein und Erik wird misstrauisch.

„Wem schreibst du?“

„Alessia, dass ich heute zum Arbeiten komme.“

Das ist der Augenblick, in dem sich Eriks Blick verfinstert, weil ihm klar wird, dass ich es ernst meine. „Das tust du nicht!“

Die ewigen Kämpfe, die ich mit ihm ausfechten muss, kosten mich Kraft.

„Erik, ich kann hier nicht sitzen und warten, bis du wiederkommst. Ich muss raus, mein Leben in den Griff bekommen. Genauso wie du deins!“

Er weiß, was ich meine und raunt betroffen: „Ich habe seit Montagabend nichts mehr genommen.“

Ich sehe ihn sprachlos an. „Drei Tage?“

Er nickt und ich kann nicht anders. Ich falle ihm um den Hals. „Das ist ja unglaublich! Und ich habe das nicht mal mitbekommen.“

„Dr. Bremer hätte das sofort gemerkt. Sonntag konnte ich mich noch rausreden, dass es von einer Party am Samstag war. Aber alles andere hätte ihn stutzig gemacht.“

„Wir laden Dr. Bremer jetzt jede Woche zu uns ein“, freue ich mich. Doch Erik brummt nur: „Das wird aber teuer.“

Ich werde ernst. „Kostet der Einsatz für mich dich etwas?“

„Hundertprozentig!“

„Ich gebe dir das Geld wieder“, raune ich betroffen.

Diesmal kann Erik nur lachen. „Das brauchst du nicht. Das geht auf meine Eltern. Und du wirst es nicht glauben, aber sie würden dir Dr. Bremer kaufen, wenn du einfach nur bei mir bleibst und mich weiter auf den rechten Weg bringst.“

Ich sehe ihn verunsichert an. Seine Worte sprudelten so böse über seine Lippen, dass ich nur traurig auf meine Teetasse starre. Er scheint wütend auf mich zu sein, weil ich so geschwächelt habe und er deshalb gezwungen war auf seine Drogen zu verzichten.

Erneut wird mir klar, dass ich in seinem Leben nur zweitrangig bin.

„Wenn du deine Drogensucht so sehr liebst, dass du sie gerne behalten willst, dann tu dir keinen Zwang an“, murmele ich und stehe auf.

Ich bin nicht dazu aufgelegt, mich heute mit ihm wegen seinem Scheiß zu streiten. Ich habe meine eigenen Probleme und wenn er meint, dass „mein rechter Weg“ nicht seiner ist, dann muss er es bleiben lassen. Ich kann heute nicht für zwei kämpfen und ich muss arbeiten gehen, sonst werde ich hier noch verrückt. Die letzten Tage waren so emotional und aufreibend und haben mich an die Grenze des Ertragbaren gebracht. Ich will hier nicht zu Hause sitzen und grübeln müssen. Alles andere erscheint mir besser.

Im Badezimmer föhne ich mir die Haare und Erik erscheint in der Tür. „Wenn du heute schon arbeiten gehst und wieder einen Zusammenbruch hast, dann bist du selbst schuld.“, knurrt er bissig, greift nach seiner Jacke und geht.

Einen Moment bleibt mir die Luft weg, weil er so wütend ist. Und er ist es diesmal wegen mir und nur, weil er seinen Willen nicht durchsetzen kann und auf Entzug ist.

Mich auf den Toilettendeckel setzend spüre ich, dass ich es nicht ertrage, wenn ich mich mit ihm streite. Und wir haben schon fast eine Woche nicht mehr miteinander geschlafen und ich habe plötzlich Angst, dass mir seine Liebe entgleitet.

Es klingelt einige Zeit später an der Wohnungstür. Ich gehe durch den Flur, um sie zu öffnen und frage mich, ob das Erik ist.

Aber es ist Ellen, die mich entrüstet ansieht. „Du willst heute einkaufen und arbeiten gehen? Bist du dir sicher?“

Ich seufze auf. „Ich muss hier raus, sonst werde ich verrückt!“

Ellen nickt. „Das habe ich mir gedacht. Und Erik ist auch nicht mit der Zange anzufassen. Er ist unten bei Daniel aufgekreuzt und hat rumgetobt, bevor die beiden zur Uni gefahren sind.“

„Nah, dann hat er sich ja wenigstens noch schnell seine heiß geliebte Dröhnung abholen können“, brumme ich leise und mehr zu mir selbst.

Aber Ellen hat es doch gehört und grinst. „Er hat abgelehnt! Daniel war auch davon ausgegangen, dass er etwas braucht. Irgendwie hat er wohl zwei oder drei Tage ausgehalten, weil er unserem Doktor etwas vormachen wollte. Aber ich habe gehört, wie er zu Daniel sagte, dass er es noch länger schafft.“

 

Ich starre Ellen mit großen Augen an. Erik ist nicht losgezogen, um sich seine Dröhnung zu verpassen? Ich schwöre mir, wenn er heute Nachmittag immer noch nichts genommen hat, werde ich alles tun was er sagt.

Tatsächlich schaffe ich nur die Wohnung sauber zu machen. Das Einkaufen ist mir schon zu viel und ich hatte Alessia schließlich geschrieben, dass ich heute noch arbeiten komme. Also muss ich das auch tun.

Ellen will mich unbedingt zum Cafe bringen und kommt gerade aus Daniels Wohnungstür, als ich die Treppe hinuntergehe. Als ich aus dem Haus trete, fährt der Mustang auf den Hof und Erik steigt aus.

„Du gehst nicht wirklich?“, knurrt er und sieht mich wütend an.

Ich gehe zu ihm, um mir die Bestätigung zu holen, dass er wirklich noch clean ist. Seine braunen Augen funkeln mich so zornig an, dass ich zurückschrecke. Aber dann schiebe ich ihm meine Hand in den Nacken und gebe ihm einen Kuss. „Lass es mich versuchen. Ich verspreche dir, wenn ich irgendwie das Gefühl habe, es geht mir schlecht, komme ich nach Hause. Bitte, sei mir nicht böse.“

Ein Blick zu Daniel, wieder ein stummes Zwiegespräch und er sieht mich wieder an. „Gut! Wenn du meinst!“ Sein Blick wandert zu Ellen: „Du schaust nach ihr!“

„Natürlich! Willst du einen Bericht, wenn ich sie abgeliefert habe?“ Ellen grinst frech.

„Wenigstens!“, antwortet Erik und seine Augen blitzen kurz auf, aber sein Gesichtsausdruck bleibt ernst.

Ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange und raune leise. „Und viel Erfolg weiterhin, mein Schatz!“

Er sieht mich verständnislos an. Doch dann scheint ihm ein Licht aufzugehen und er lächelt kurz. „Danke! Und lass du dich nicht von dummen Brüdern ansprechen.“

Jetzt geht auch mir ein Licht auf. Erik geht es nicht nur um meinen Gesundheitszustand. Er hat Angst, dass Julian oder Tim mich ausfindig machen.

„Keine Sorge! Ich passe auf mich auf.“

Er nickt leicht und raunt leise: „Es wird heute Abend später! Wir müssen nach der Uni noch etwas erledigen.“

Ellen küsst ihren Daniel, der wieder in den Mustang steigt. Ich werfe den beiden einen unschlüssigen Blick zu. Dass Erik immer noch dubiosen Geschäften nachgeht, beunruhigt mich.

„Okay, ich werde auf dich warten“, antworte ich und streiche ihm über die Wange.

„Ich komme auf alle Fälle! Bitte pass auf dich auf!“, bittet er mich noch einmal eindringlich und an seinem Blick sehe ich, dass er sich die größten Sorgen macht.

Ich schlinge meine Arme um seinen Nacken und küsse ihn. Als ich ihn wieder ansehe, wird seine Sorge von Liebe überdeckt. „Natürlich!“, antworte ich leise, als Ellen neben mir auftaucht und mich am Arm mitzieht. „Rumknutschen könnt ihr heute Abend noch“, sagt sie lachend und winkt Daniel noch mal zu.

Ich lasse mich von ihr mitziehen.

Der Mustang fährt wenig später an uns vorbei. Die beiden müssen zur Uni zurück und ich freue mich auf meine Arbeit. An diesem Nachmittag auch noch allein zu Hause zu sitzen und Zeit zum Grübeln zu haben hätte ich nicht ausgehalten.

Vor dem Sofa kniend, küsst Erik mich aus dem Schlaf.

Ich öffne die Augen und sehe mich verwirrt um. Draußen vor dem Fenster hat die Nacht schon den Tag eingeholt.

Ich war nach der Arbeit todmüde auf das Sofa gefallen und sofort eingeschlafen. Nun brauche ich einen Augenblick, um wieder ins Hier und Jetzt zu finden und spüre noch das warme Gefühl in meinem Bauch, das von meinem Traum herrühren muss. In ihm war ich nicht allein in meiner Wohnung gewesen. Alle waren da! Tim, Julian, Marcel, Ellen, Daniel, meine Eltern … sogar Alessia und Professor Knecht. Und ich ging von einem zum anderen, glücklich, weil alle sich so gut verstanden …

„Es tut mir leid“, flüstert Erik und schaut auf seine Hände, die meine halten.

Beunruhigt setze ich mich auf. „Was tut dir leid?“, frage ich besorgt.

Als Erik mich ansieht, weiß ich Bescheid.

„Ich komme mit der Angst um dich sonst nicht klar“, murmelt er und ich schiebe mich auf die vorderste Kante des Sofas, nehme sein Gesicht in beide Hände und ziehe ihn in meine Arme.

„Erik, du hast schon so lange ausgehalten. Ich bin wirklich total stolz auf dich. Komm her!“ Meine Stimme ist nur noch ein Flüstern und ich lege meine Lippen sanft auf seine und küsse ihn, von dem warmen Gefühl aus meinem Traum getragen.

Er schlingt seine Arme um meine Taille und erwidert meinen Kuss so atemlos, dass mir schwindelig wird. Ich streiche mit beiden Händen seine Haare zurück und spüre das Verlangen, ihn endlich wieder zu spüren.

Aber Erik entzieht sich mir und sieht mich verunsichert an. „Schatz, geht es dir denn gut?“, fragt er und seine dunklen Augen mit dem kleinen braunen Ring sehen mich so verheißungsvoll an, dass ich nur stammeln kann: „Mir geht es nur gut. Aber es würde mir noch bessergehen, wenn ich dich endlich wieder fühlen dürfte.“

Das Lächeln, das sich über sein Gesicht schiebt, lässt mein Herz höherschlagen.

„Nah, dann komm! Daran soll deine Genesung nicht scheitern.“ Er steht auf, zieht mich vom Sofa und nimmt mich mit ins Schlafzimmer. Schöne Musik läuft und ich fühle mich an den Tag erinnert, als Erik mich zu unserem Date im Darkroom mitnahm.

Vor dem Bett zieht er mich aus und ich ihn. Wir lassen uns Zeit und küssen uns zwischendurch immer wieder lange und lassen die feurige Leidenschaft wachsen, bis es fast unerträglich ist. Erik setzt sich auf das Bett und zieht mich zwischen seine Beine, meinen Bauch und meine Brustwarzen liebkosend.

Ich kann nur ergeben die Augen schließen und mich dem Gefühl hingeben, das er in mir auslöst. Als es fast unerträglich wird, nehme ich sein Gesicht in beide Hände und küsse ihn. Langsam schiebe ich mich auf seinen Schoß und schlinge meine Beine um seine Hüfte. Unsere Küsse werden immer drängender und ich spüre Eriks Finger mich streicheln und liebkosen. Als sie in meine feuchte Hitze vordringen, nimmt mir das den Atem und ich stoße mit geschlossenen Augen einen Seufzer aus, der ihn noch mehr zu erregen scheint. Er zieht seinen Finger zurück und schiebt mich ungeduldig auf seinen bereitstehenden Freund. Eine alles durchdringende Empfindung lässt uns zusammen aufstöhnen, von dem Gefühl getragen, das uns durchströmt wie warmer, süßer Honig.

„Endlich!“, hauche ich ihm in sein Ohr.

„Ja, endlich!“, flüstert er zurück, umfasst meine Hüfte und gibt den Rhythmus vor, den Rausch auskostend, der doch besser sein muss, als jede Droge … denke ich zumindest.

Völlig müde und erschöpft liege ich neben Erik, von seinem Arm an seinen Körper gepresst. Seine Hand streichelt meinen Arm, der über seiner Brust liegt. In der Ferne höre ich mein Telefon klingeln.

„Geh nicht!“, murmelt er und küsst mich.

Das Klingeln hört auf, setzt aber im nächsten Moment wieder ein.

„Das scheint wichtig zu sein“, flüstere ich und stemme mich aus seiner Umarmung. Aber ich laufe nur ins Wohnzimmer, hole das Handy vom Wohnzimmertisch und flitze wieder ins Schlafzimmer zurück. Vor dem Bett stutze ich. Was ist das für eine Nummer?

Das Klingeln hört auf und Erik fragt neugierig: „Was ist los? Warum bist du nicht rangegangen?“

Bevor ich antworten kann, klingelt es erneut. Aber es ist ein anderer Klingelton, der eine SMS anzeigt. „Bitte nimm ab“, steht da nur und ich bin verunsichert. Ist das Tim mit einer neuen Nummer? Oder Marcel?

Es klingelt erneut und Erik setzt sich beunruhigt auf.

Ich nehme den Anruf an und hauche ein verunsichertes: „Ja!“

„Carolin?“

Meine Welt bleibt stehen und mein Herz setzt aus.

„Ja!“, flüstere ich, meine verschreckte Stimme wiedersuchend.

„Hallo! Ich bin wieder zu Hause.“

„Ich weiß, Julian“, antworte ich und schlucke. Mein hilfesuchender Blick gleitet zu Erik.

Der zieht mich auf das Bett und legt beide Arme um mich, als müsse er mir Halt geben.

Es entsteht eine Pause, die nur zu deutlich zeigt, dass weder Julian noch ich wissen, was wir zueinander sagen sollen.

Endlich raunt er: „Mama sagt, du bist krank. Ist es schlimm? Du warst bei der Verhandlung so schnell wieder weg und ich habe gehört, dass der Richter dem Protokollschreiber etwas von krank und unter ärztlicher Aufsicht anwesend sagte. Das hat mich beunruhigt.“