Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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Ich starre ihn nur an. Nichts was er da sagt, gibt mir das Gefühl, dass ich nachgeben kann und mich ihm bedingungslos hingeben darf. Aber in meinem Inneren kämpft ein Hurrikan mit einem Tsunami. Ich will so gerne mein erstes Mal in seinen Armen erleben und doch glaube ich, das wäre ein fataler Fehler. Etwas in mir warnt mich eindringlich.

Marcel kommt mir in den Sinn. Er spricht offen von Liebe und tiefer Zuneigung. Seine Worte drängen wieder in mir hoch: „Wenn du das nicht überlebt hättest, dann hätte ich auch nicht mehr leben wollen.“ Das ist etwas anderes als: Reiß die Decke hoch und lass uns wilden Sex haben, egal was hinterher wird.

Ich finde Tims Art verdächtig unseriös und Marcel erscheint mir, mehr denn je, wie der romantische Prinz hoch zu Ross. Verdammt, warum kann ich für ihn nicht das Gleiche empfinden wie für Tim? Aber ich habe eine Wahl und muss die richtige Entscheidung treffen.

Weil ich auf Tims Worte nicht reagiere, schüttelt er den Kopf und fragt eindringlich: „Carolin, du hast doch schon mal, oder?“

Ich bin von seiner Frage wie vor den Kopf gestoßen. Es klang fast anklagend und verunsichert mich. Bei ihm fühle ich mich, als wäre ich eine Zurückgebliebene aus der tiefsten Walachei. Seine direkte Art erschüttert mich. Bisher hat mich noch keiner so in Verlegenheit gebracht. Daher reagiere ich auch etwas ungehalten und zische aufgebracht: „Ich bin mit Marcel zusammen“, als würde das meinen Sexstatus erklären.

Tim zieht hörbar die Luft ein und in seinen Augen funkelt es empört. Er lässt meine Hand auf die Bettdecke fallen, als würde sie brennen und verkrallt seine ineinander. „Was, ihr beide seid zusammen? Das wusste ich nicht.“

Verdammt, warum habe ich das gesagt? Ich will doch nur ihn und er soll mir einfach die Gewissheit geben, dass er mich für immer lieben wird. Aus tiefstem Herzen.

Tim sieht auf und knurrt: „Das sagst du nur so, stimmt’s?“ Und bevor ich einen vernünftigen Gedanken fasse, nicke ich auch schon.

„Mann, Carolin! Was soll das? Warum tust du das?“, zischt er aufgebracht.

„Ich weiß doch gar nicht, was das wirklich zwischen uns ist“, verteidige ich mich und meine Stimme will mir versagen. In meinem Inneren toben mittlerweile einige Wirbelstürme, die meine Gedanken und Wünsche durcheinanderwirbeln. Ich spüre ganz klar, dass es nicht richtig ist, wenn wir zusammen sind und uns unseren wirren Gefühlen hingeben, solange wir keine Gewissheit haben, woher das kommt. Aber ich kann es auch nicht ertragen, es nicht zu tun.

Tim springt auf, geht zum Stuhl und wirft sich darauf. „Was das zwischen uns ist? Worüber machst du dir eigentlich einen Kopf?“, presst er hervor. Er kann das offensichtlich nicht verstehen und ich fühle mich hilflos. Dass wir uns immer weiter voreinander entfernen, macht mich ganz krank. Ich strecke meine Hand nach ihm aus. Ich will ihn nicht verlieren. All meinen Mut zusammennehmend, flüstere ich fast unhörbar: „Ich nehme keine Pille.“

Noch nie hatte ich mit einem Jungen über Sex, die Pille und solche Dinge gesprochen. Tim fordert mich da echt bis zum Anschlag des Erträglichen. Aber meine ausgestreckte Hand soll ihm meine Bereitschaft signalisieren, wenn ich auch noch nicht weiß, wozu ich wirklich bereit bin. „Deshalb können wir nicht einfach miteinander schlafen.“

Damit habe ich einen plausiblen Grund geliefert, warum wir uns zurückhalten müssen. Das sollte auch ihm klar sein. Sonst ist er der Hinterwäldler …

Er steht langsam auf und kommt wieder zu mir. Bedächtig setzt er sich erneut auf die Bettkante und streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sein Gesicht sagt nichts von „nicht übereinander herfallen“. Es sprüht förmlich vor Verlangen.

Das macht mich wieder nervös und ich will von Tim etwas über wirkliche Gefühle hören. Also starte ich erneut: „Was ist, wenn es bei uns beiden nur etwas ist, das der Kurt Gräbler Teil in uns auslöst?“

Tims Blick wandelt sich von sanft in genervt. Es scheint mir so, als wäre das ein Gedanke, der einfach in seinem Kopf nicht Fuß fassen will. Dann schüttelt er wütend den Kopf und nimmt mein Gesicht in beide Hände. Dabei sieht er mir fest in die Augen. „Das darfst du nicht denken. Das ist doch kein Hokuspokus! Das ist echt!“, zischt er.

Seine Worte geben mir Hoffnung. Vielleicht ist wirkliche Liebe so, wie wir sie empfinden? Vielleicht hat Kurt Gräbler wirklich nichts damit zu tun.

Bevor ich weiter nachdenken kann und Einwände mich verunsichern, beugt er sich vor und küsst mich.

In meinem Körper scheinen alle Muskeln ein Eigenleben zu entwickeln und auf seinen Kuss zu reagieren. Es schmerzt fast. Und Tim scheint sich sicher zu sein, dass damit die Diskussion beendet ist. Er greift nach der Fernbedienung und ich spüre das Rückenteil, das unter unserem Gewicht nachgibt, bis ich liege. Dann zieht er an der Bettdecke, um mich von ihr zu befreien. Als ich sie versuche festzuhalten, werden seine Küsse drängender und ich lasse sie los. Er schiebt sich neben mir in das Bett, stützt sich auf einem Ellbogen ab und mit der drängenden Zungenakrobatik in meinem Mund sucht seine Hand einen Weg unter meine Pyjamajacke und schiebt sich auf meine Brust.

Ich drücke Tim verwirrt und aufgebracht von mir weg und sehe in seine Augen, die zu glühen scheinen. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob wir nicht doch irgendwie manipuliert werden. Denk doch nur daran, wie wir alle entstanden sind“, sage ich mit einem letzten Aufbegehren, um ihn davon abzuhalten, mich weiter so zu küssen und seine Hände meinen Körper erkunden zu lassen. Mich verunsichert seine gierige Art. Außerdem liegen wir in einem Krankenhausbett und es kann jederzeit jemand hereinkommen.

Aber er greift nur nach meiner Hand, die ihn aufhalten will und schiebt sie beiseite, mich wieder mit heißen Küssen bedrängend. Ich befürchte, ich kann ihn irgendwann nicht mehr stoppen und drehe meinen Kopf zur Seite und stemme mich erneut gegen ihn. „Tim … Tim hör auf!“

Er sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an und räuspert sich. Dann schüttelt er den Kopf, als müsse er erst seine Gehirnzellen an den richtigen Platz bringen. Er wirkt benommen, und dass ich unsere innige Zweisamkeit wieder so abrupt unterbreche scheint ihn wütend zu machen.

„Wir werden nicht manipuliert. Wie soll das denn gehen?“, zischt er und drängt sich wieder an mich. „Ich wollte dich immer schon! Das steckt tief in mir und hat nichts mit Kurt Gräbler zu tun. Und du willst das nicht … lässt mich einfach am langen Arm verhungern, immer wieder … und triffst dich mit diesem Marcel“, brummt er plötzlich verbittert auf. Seine dunklen Augen wirken noch dunkler. Er scheint langsam die Geduld zu verlieren.

„Was?“, schießt es aus meinem Mund. Er ahnt nicht, wie sehr ich ihn will. Sein Blick macht mich schon konfus und wenn er mich berührt, bekomme ich echte Schwierigkeiten, ihm länger zu widerstehen. Wenn nicht die Gefahr bestünde, dass ich schwanger werde oder uns jemand überrascht, dann würde ich wahrscheinlich nicht lange zögern. Aber seine Geschichte, dass er mich schon immer wollte, gibt mir erst recht das Gefühl, richtig in meiner Annahme zu liegen, dass er sich so aufführt, weil ihn etwas dazu zwingt. Etwas Böses aus der Vergangenheit, das nichts mit Liebe und wirklicher Zuneigung zu tun hat. Zumindest nicht bei ihm. Ich weiß genau, was ich für ihn empfinde. Aber ich will auch bei ihm sicher sein.

Ich sehe ihn an und erkläre ihm mit sanfter Stimme: „Tim, bitte! Wir dürfen dem jetzt noch nicht nachgeben. Ich nehme keine Pille und möchte nicht, dass es hier im Krankenhaus passiert, wo jeden Moment jemand reinschneien kann … oder an einer Straße auf einer Bank einer Wanderhütte.“ Ich klinge jetzt etwas ungehalten.

Tim sieht mich aufgebracht an. „Und du redest von echten Gefühlen?“, zischt er und schiebt sich demonstrativ vom Bett und setzt sich wieder auf den Stuhl. Sein ganzes Gesicht zeigt den Ärger in ihm.

Diese ganze Situation macht mich fertig. Sobald er sich von mir entfernt, bricht in mir die Angst aus, ihn zu verlieren. Dann glaube ich, ihm gar nicht länger vorenthalten zu dürfen, was er verlangt.

„Hast du ein Kondom dabei?“, frage ich ihn und hoffe, ich werde nicht rot. Ich kann über so etwas irgendwie nicht sprechen wie übers Kuchenbacken. Wie ich schon erwartet habe, sieht er mich groß an und schüttelt den Kopf.

„Also nicht. Und da denkst du, wir können mal eben miteinander schlafen?“

Er antwortet nicht und sieht mich nur verdrossen an.

„… und schwanger werden. Und ein neues Kurt Gräbler Kind kriegen“, raune ich entrüstet.

„Neinnn!“, sagt er gedehnt und endlich scheint ihm klarzuwerden, was ich ihm da gerade zu verstehe gebe. „Ich weiß doch auch nicht. Wenn du in meiner Nähe bist, kann ich nur noch daran denken. Du bist so kühl und beherrscht und ich komme damit nicht klar. Ich will mit dir zusammen sein, ich träume davon und es macht mich völlig fertig“, sagt er und seine Wangen bekommen Farbe. Er sieht mich nicht an und es scheint ihm peinlich zu sein. Plötzlich scheint seine Fassade zu bröckeln und sein großtuerisches Gehabe Risse zu bekommen.

Seine Worte bestätigen meinen Vorbehalt noch. Das Ganze ist eine reine Bettgeschichte für ihn. Das hat doch nichts mit echten Gefühlen zu tun. Scheinbar geht ihm das auch gerade auf. Er flüstert nachgebend: „Aber vielleicht hast du recht. Vielleicht sind wir das gar nicht?“ Seine schwarzen Augen heften sich wieder in mein Gesicht und ich atme einmal tief durch. Erleichtert schlage ich vor: „Das sollten wir erst mal herausfinden. Wir haben wegen diesem Alchemisten so gelitten und fast unser Leben gelassen. Es wäre schrecklich, wenn er uns immer noch manipuliert. Findest du nicht auch?“

Tim starrt mich nur an.

„Wir sollten einfach erst mal freundschaftlich miteinander umgehen, bis wir uns sicher sind.“

 

„Tzzz! Kannst du das so einfach?“, unterbricht er mich. „Ich nicht. Ich will richtig mit dir zusammen sein. Wir gehören zusammen! Wegen dir bin ich hier! Ich habe mir hier gerade einen Job gesucht und eine kleine Wohnung gemietet. Alles wegen dir! Aber bestimmt nicht, um mit dir Bruder und Schwester zu spielen.“ Seine Worte klingen anklagend und schüren mein schlechtes Gewissen.

Ich versichere ihm: „Natürlich nicht. Wir sind Freunde! Wir werden uns so oft treffen, wie es geht und du kannst jederzeit zu uns kommen, da bin ich mir sicher. Immerhin ist dein Vater kein Fremder für meine Mutter. Und dann finden wir gemeinsam heraus, was mit uns los ist“, sage ich und halte das für einen annehmbaren Weg, der mich beruhigt.

Tim sieht auf seine Hände, die er ineinander verknotet hat. Dann nickt er und sieht auf. „Das ist okay. Solange ich dich treffen kann. Aber weißt du …?“ Er setzt sich auf und etwas scheint sich an ihm zu wandeln. „Seit der Sache im Labor habe ich nicht mehr von Kurt Gräbler geträumt. Ich bin diese schreckliche Angst los und das Gefühl, dass ich, wenn ich versage, das mit meinem Leben bezahle. Das hielt mich die ganzen letzten Jahre wie in einem Gefängnis gefangen. Carolin, ich bin davon befreit und möchte einfach neu anfangen. Mit dir! Ich glaube, dieser Alchemistenscheiß ist für immer vorbei.“

„Oder es fängt erst an. Mit uns!“

Über Tims Gesicht huscht ein genervter Ausdruck und er steht langsam auf. Sein Blick wandelt sich. Er sieht mich nicht an, als er zischt: „Du bist so schrecklich pessimistisch. Was soll mit uns anfangen?“

Ich weiß nicht, ob ich aussprechen soll, was mir in diesem Moment durch den Kopf geht. Aber ich wage es dann doch. „Das, was unsere Eltern durchmachten und unsere Großeltern. Das erneut eine neue Generation für diesen Alchemisten gezeugt wird, vielleicht um ihm dann die Möglichkeit zu geben, zu vollenden, was bei uns misslang.“ Ich muss an die Bücher des Alchemisten denken, in denen steht, dass er seine Nachfahren braucht, um sie als Gefäß missbrauchen zu können, in das er schlüpfen kann, wenn ihm danach ist.

Tim sagt nichts. Er sieht mich nur verdrossen an.

Ich wage noch weiter zu gehen. „Ich will auch mit dir zusammen sein. Aber bitte lass uns erst herausfinden, was uns so zueinander hinzieht. Und bevor wir das nicht wissen, sollten wir einen rein freundschaftlichen Umgang hegen und uns die Chance geben, uns näher kennenzulernen.“

Weil Tim mich nur anstarrt, füge ich ein: „Bitte!“ hinzu.

Vielleicht gibt uns das die Möglichkeit, einen anderen Weg zueinander zu finden. Einen, der mehr dem entspricht, was ich mir für meine erste Beziehung wünsche.

Mir kommt die Zeit endlos vor, bis er endlich zustimmend nickt. Er wirkt nicht überzeugt, sagt aber auch nichts mehr dagegen. Stattdessen raunt er: „Morgen holt mich mein Vater ab und nimmt mich mit zu sich nach Hause. Er hat eingesehen, dass er mich nicht ignorieren kann.“ Seine Stimme hat einen schneidenden Unterton. Doch dann besinnt er sich und klingt sanfter, als er hinzufügt: „Ich mache dir einen Vorschlag. Ich werde ihn ausfragen, wie es damals mit ihm und unseren Müttern war. Vielleicht bin ich dann schlauer und wir bekommen eine Antwort auf deine Befürchtungen.“

Das sind erfreuliche Nachrichten. Tims Vater - und auch Julians - hat beschlossen sich wenigstens um einen seiner Söhne zu kümmern.

„Wirst du ihm von Julian erzählen? Er ist auch sein Sohn“, frage ich, bewusst das Thema von meinen Befürchtungen ablenkend.

„Ich schau mal, wie es so läuft. Aber irgendwann bestimmt. Und ich möchte wissen, was mit seinen anderen Kindern ist. Ob die auch Träume haben, die nicht ihre eigenen sind.“

Daran habe ich noch nie gedacht. Vielleicht sind sie die nächste Generation? Was für ein schrecklicher Gedanke. Sollte es so sein, müssen wir das Ganze ein für alle Male stoppen. Wie auch immer.

„Gut, dann lass uns das abwarten“, sage ich und spüre, wie etwas in meinem Inneren schwermutig wird. Ich bin nicht überzeugt, dass ich das Richtige tue. Ich habe Angst, dass Tim sich deswegen von mir abwenden könnte und sich eine andere sucht. Was hatte er gesagt? Er glaubt, mit mir wird es etwas Besonderes sein, nicht wie bei all den anderen. Für Tim ist Sex kein Neuland wie für mich.

Diese Erkenntnis ist nichts für meine schwachen Nerven. Lasse ich nur eine Sekunde zu, Tim in den Armen einer anderen zu wissen, dann bleibt mir die Luft weg und etwas bäumt sich in mir wie ein Wildpferd auf.

„Okay, wenn du meinst?“, raunt er. Aber ich sehe ihm an, wie wenig begeistert er ist. „Aber einen Abschiedskuss?“, bittet er.

Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich bereit ist, sich auf den Deal einzulassen. Seine Augen sagen etwas anderes. Aber ich will nichts mehr, als ihn noch einmal küssen. Ein letztes Mal und dann werden wir sehen, was er bei seinem Vater herausfindet und danach entscheiden, wie es mit uns weitergeht. Ich male mir schon aus, wie er mich zu beruhigen schafft, alle Bedenken auslöscht und wir einen Neuanfang starten, der nichts mit unseren verworrenen Gefühlen an der Waldhütte gemein hat, an der Tim einfach nur verstört und wie getrieben wirkte. Außerdem sollen sie auch nichts mit dem hier im Krankenhaus gemein haben, wo er fast über mich herfiel, wie es ihm gerade in den Sinn kam. Jetzt hoffe ich auf einen gefühlvollen Neubeginn, der nicht nur so wirkt, als suchten wir ein Ventil zum Druckablassen. Das wirkt mir alles nicht ehrlich genug.

Tim kommt in einem bedächtigen Raubtiergang auf mich zu und seine Augen sprühen schon wieder vor Verlangen. Er umschließt mein Kinn mit seiner Hand und seine Lippen legen sich auf meine, während seine andere Hand sich in meinen Nacken schiebt. Seine Zunge drängt an meine.

Ich erwidere seinen Kuss. Nicht mehr so überschwänglich leidenschaftlich, sondern sachte und hingebungsvoll. Da es unser letzter Kuss ist, will keiner ihn beenden. Und dann spüre ich wieder die Hitze durch meine Adern schießen und in meinem Unterleib zieht sich fast alles schmerzlich zusammen. Im gleichen Augenblick reißt Tim sich von mir los und sieht mich mit glänzenden Augen benommen an. „Es wird mir unendlich schwer fallen … deine freundschaftliche Tour“, raunt er. „Und darum gehe ich jetzt. Sonst kann ich mich nicht länger zusammenreißen. Du, ein Bett und Küsse … das kriege ich nicht hin.“ Tim lacht nervös. „Auch, wenn ich versuchen werde mich an unser Abkommen zu halten.“

Er geht an meinem Bett vorbei zur Tür, dreht sich noch einmal um, wirft mir einen Handkuss zu und verschwindet.

Die Entscheidung

Tim ist weg.

Ich starre auf die Tür, die hinter ihm ins Schloss fiel und lasse mich innerlich aufgewühlt auf mein Kissen zurückfallen. Nur langsam beruhigen sich meine Nerven wieder. Tim hat die Flucht angetreten, und das ist gut so. Nur so können wir das in den Griff bekommen. Denn so sehr ich auch dagegen ankämpfe, ich will endlich meinen Gefühlen und dem Drang meines Körpers nachgeben. Ich weiß nur noch nicht, ob es wirklich Tim sein soll.

Erneut hatte mich seine Art verunsichert und ich will einfach ehrliche Gefühle. So wie die von Marcel.

Mit unserer Abmachung habe ich mir einen Raum geschaffen, der mich nicht mehr verpflichtet ihm von Tim zu erzählen. Schließlich werden wir nichts Verbotenes mehr machen. Tim ist ein Freund. Mehr nicht.

Ich kann beruhigt aufatmen und mich in der Gewissheit suhlen, dass ich somit keinen von beiden verliere, bis ich mir wirklich sicher bin. Alles ist wieder in Ordnung. Zumindest vorerst.

Tatsächlich schaffe ich es, einen annähernd ruhigen Nachmittag zu verbringen und schlafe sogar einige Zeit. Irgendwann bringt mir eine Schwester einen Tee und ein Stück Kuchen, das ich hungrig verschlinge. Ich fühle mich nicht nur körperlich besser, sondern auch mein Innerstes scheint sich mit den neuen Begebenheiten einigermaßen wohlzufühlen. Auch wenn ich immer wieder kleinere Anwandlungen unterdrücken muss, die mich in Tims Armen sehen wollen und eine Sehnsucht nach seinen Küssen mich durchflutet, bin ich doch froh, dass wir dieses Abkommen getroffen haben. Ich kann besser damit umgehen, Tim als Freund in meinem Leben zu wissen und weiter vor mich hinzuschmachten, als mich ihm mit dem Wissen, dass es falsch sein kann, hinzugeben und Marcel wegstoßen zu müssen. Denn das kann ich auch nicht ertragen. In meinem Inneren spüre ich immer noch eine schleichende Angst, vielleicht irgendwann festzustellen, dass meine Gefühle zu ihm nicht echt waren. Oder seine zu mir, was mich noch viel schwerer treffen würde. So muss es bei den anderen Generationen gewesen sein, und das Ergebnis sind wir.

Es klopft und meine Tür geht vorsichtig auf. Christiane lugt ins Zimmer und grinst mich an. „Man weiß ja nie, was du gerade wieder treibst“, ruft sie und springt übermütig an mein Bett. „Alles klar bei dir? Du siehst schon besser aus.“

Ich nicke und grinse zurück. „Sicher! Ich habe auch schön geschlafen.“

„Schön geschlafen? Mit wem?“, fragt sie und wirft sich auf den Stuhl, immer noch breit grinsend.

„Nah, was denkst du von mir?“, brumme ich entrüstet und setze mich auf.

„Denken? Ich hatte heute schon das Vergnügen, dich in einer recht stürmischen Umarmung zu erleben. Danke auch. Ich dachte mir, ich komme lieber vorsichtig ins Zimmer, auf alles gefasst.“

Es ist wieder wie in alten Zeiten und tut gut. Alles ist vergessen … unsere Streitereien und der Einfluss von Julian, der fast unsere Freundschaft zerstört hatte.

„Oh Mann! Das ist geklärt“, antworte ich und tue so, als wäre mir das Ganze echt peinlich. „Tim und ich werden die Finger voneinander lassen.“

Christiane rutscht entrüstet bis auf die vorderste Kante des Stuhles, um mich mit bösem Blick besser fixieren zu können. „Warum das denn?“, schießt es aus ihren schmalen Lippen hervor.

Ich überlege, wie weit ich sie über meine Bedenken gegenüber Tim und unseren Gefühlen zueinander einweihen soll. Dann entscheide ich mich dafür ihr meine Angst, bezüglich Kurt Gräblers Macht über seine nachfolgenden Generationen, mitzuteilen. Ich beende meine Ausführungen mit den Worten: „… und da wir nicht wissen, was alle anderen Paare trieb, möchte ich erst Klarheit haben. Stell dir vor, alle haben sich nur in diesen seltsamen Konstellationen zusammengefunden, weil dieser Alchemist einen Weg gefunden hatte, seine Blutlinie immer wieder zusammenzuführen, weil er die daraus entstehenden Kinder braucht. Dann möchte ich das auf gar keinen Fall fortführen.“

„Ach, das kann es doch gar nicht geben. Ich würde deswegen doch nicht so einen leidenschaftlichen und gutaussehenden Typen von der Bettkante schubsen. Und es gibt doch genug zum Verhüten.“ Christiane denkt wie immer recht pragmatisch.

„Woher willst du wissen wie leidenschaftlich Tim ist?“, frage ich schnippisch, weil Christiane mich wieder mal nicht ernst nimmt.

„Poor, weißt du wie der über dich hergefallen ist? Deshalb dachte ich auch, ich wäre im falschen Zimmer. Hier hat die Luft förmlich gebrannt. Und dann euer Abschiedskuss …!“, ereifert sie sich. „Also, wenn du den nicht willst …“, setzt sie noch hinterher.

Das geht mir richtig quer. Mir Tim mit einer anderen in leidenschaftlicher Umarmung vorzustellen, bringt mir echten Herzschmerz ein und schürt die Angst, ihn mit meiner heutigen Abfuhr vertrieben zu haben.

Allerdings, wenn er sich davon vertreiben lässt, dann sind seine Gefühle nichts wert. Dann will er wirklich nur mit mir ins Bett gehen, getrieben von etwas, das nichts mit ehrlichen Gefühlen zu tun hat.

„Das ist ja, was ich meine. Das ist doch nicht normal!“, sage ich und ignoriere ihren letzten Satz geflissentlich. „Und was ist, wenn das zwischen uns nur so ist, weil wir von etwas dazu getrieben werden, um schließlich miteinander zu schlafen? Jetzt sofort! Ohne Verhütung!“

„Mensch Carolin. Du hast Sorgen!“, brummt Christiane und sieht mich völlig verständnislos an.

Warum glaubte ich auch nur eine Sekunde, dass sie mich verstehen kann?

Weiter kommen wir auch nicht, weil ein Pulk von Ärzten den Raum betritt. Christiane wird von einer jungen Krankenschwester gebeten, kurz vor der Tür zu warten.

Meine Unterlagen werden gesichtet, mein Befinden erfragt und dann brummelt der Oberarzt: „Gut, sehen wir mal nach der Verletzung.“ Er kommt näher und beginnt meinen Verband zu lösen.

Ich rühre mich nicht, vor Entsetzen wie erstarrt.

„Das sieht schon gut aus. Schwester Katrin wird einen neuen Verband anlegen und wir sprechen uns morgen noch mal. Ich denke, Sie können dann bald wieder nach Hause gehen.“

 

Ich nicke nur.

Der ganze Trupp begibt sich wieder zur Tür. Sie verlassen das Zimmer und Christiane schlüpft wieder rein.

„Igitt, ist das eklig!“, kreischt sie auf und steht wie erstarrt da.

Ich weiß im ersten Moment gar nicht, was sie meint. Erst als ihr Zeigefinger Richtung meines Halses zeigt und ihre riesigen Augen meinen Hals anstarren, ahne ich es.

Ich klettere unter der Decke hervor und gehe ins Badezimmer, um mir das Ganze selbst anzusehen. Ich muss mich an dem Waschbecken festhalten, als ich das schrecklich Gelbe und Schwarze an meinem Hals sehe, das sich seitlich über den Nacken in Regionen zieht, die ich nicht weiter einsehen kann. Der Schnitt wurde mit richtigen Stichen zusammengenäht und sieht schrecklich aus. Julian hatte meine Halsschlagader tatsächlich nur um Haaresbreite verfehlt. Gruselig! Mir kommt das Bild von Frankensteins Monster in den Sinn, dem mit ähnlichen Stichen der Kopf festgenäht worden war.

Ich wanke zu meinem Bett zurück und klettere wieder unter die Decke.

Christiane sitzt wieder auf dem Stuhl und hält erschüttert ihre Tasche umklammert. „Das ist ja ganz schlimm“, sagt sie kleinlaut. „Du Arme!“

Ich bin auch geschockt, will das aber vor Christiane nicht zeigen. Sie ist noch weißer als ich und wirkt völlig verstört.

„Ich bin selbst schuld. Ich hätte Julian nicht in die Eier treten sollen“, sage ich und will mit meinem derben Ausruf dem Ganzen die Schärfe nehmen.

„Du hättest dabei draufgehen können“, stammelt Christiane und scheint sich gar nicht wieder einkriegen zu wollen. „Dass Julian so weit geht!“

Stimmt! Ich hatte natürlich nicht erwähnt, dass dies sein Ziel war. Nur Tims Hartnäckigkeit hatte ihn davon abgehalten und weil er ihm nicht sagte, was er wissen musste. Und natürlich Marcel, der mich wirklich rettete.

Eine Schwester kommt mit einer weißen Schale ins Zimmer, in der sich Verbandsmaterial und einige Flaschen befinden.

„So, da wollen wir mal wieder einen Verband anlegen“, sagt sie und lächelt freundlich.

Es ist nicht die, die mir das schlechte Gewissen macht und ich hoffe, die hat für heute frei.

Das Ganze geht superschnell und tut gar nicht weh. Mir fällt ein, was der Arzt gesagt hatte.

„Was für ein Tag ist heute?“

„Montag“, antwortet sie und legt alles wieder in die weiße Schale zurück.

„Der Doktor hat gesagt, er entscheidet morgen, ob ich bald gehen kann.“

Sie nickt: „Dann kannst du Mittwoch oder Donnerstag auschecken. Möchtest du das?“

Ich nicke. „Auf jeden Fall. Das wäre echt klasse.“

„Nah, dann hoffen wir mal, dass das klappt.“ Sie geht wieder und ich weiß, dass ich alles dransetzen muss, dass der Arzt mit mir zufrieden ist.

„Waaas?“, tobt Christiane los. „Du willst damit“, sie zeigt auf meinen Hals: „schon nach Hause?“

„Wenn sie mich lassen“, erwidere ich nur.

Langsam öffnet sich erneut die Tür und wir schauen beide, wer das sein kann.

Eine rote Rose mit weißem Schleierkraut und einem roten Stoffherzen, schön in Folien eingeschlagen und mit rotem Schleifenband verziert, schiebt sich als erstes durch die Tür. Dann folgt breit grinsend Marcel.

Ich werfe verunsichert einen schnellen Blick in Christianes Richtung, die eigentlich nicht weiß, dass Marcel und ich hier als Paar gelten. Ich hatte es noch nicht erwähnt.

Ihre Kinnlade macht sich gerade wieder selbstständig.

Marcel kommt an mein Bett und beachtet Christiane gar nicht. „Hey, wie geht es dir, Süße?“ Er legt eine Hand auf meine Wange und küsst mich auf den Mund.

„Besser“, antworte ich ihm, als er wieder von mir ablässt. Ich freute mich wirklich, ihn zu sehen und ich liebe seine Art, mit mir umzugehen. Er ist so ruhig und sanft. Und ich bin unendlich froh, dass ich so empfinde. Nach Tim war ich mir den ganzen Nachmittag nicht sicher gewesen, wie ich mich Marcel gegenüber verhalten werde.

Er gibt mir die Rose und haucht mir ein „Ich liebe dich!“ zu, dass Christiane bestimmt nicht überhört hat.

„Danke!“, antworte ich ihm peinlich berührt, weil er seine Gefühle immer wieder vor mir ausbreitet, und nehme die Blume entgegen. „Das ist so lieb von dir.“

Es ist unglaublich, wie lieb und gefühlvoll Marcel ist und ich muss an Tim denken und seine übersprudelnde Art.

Ein Blick zu Christiane zeigt mir, dass sie immer noch mit ihrer Kinnlade kämpft.

„Kannst du mir eine Vase holen?“, spreche ich sie an und sie steht auf, als hätte ich einen Knopf an einer Fernbedienung gedrückt, der sie den Befehl ausführen lässt.

„Ich gehe schon“, sagt Marcel und kommt ihr zuvor. Er verschwindet durch die Tür auf den Gang, um den Schrank mit den Vasen zu suchen.

Christiane lässt sich wieder auf den Stuhl fallen und findet auch ihre Sprache wieder. „Das ist doch wohl eher der Grund, warum du mit Tim nicht zusammen sein kannst. Das ist echt voll krass! Seit wann seid ihr beiden denn zusammen?“

„Naja, eigentlich erst seit gestern. Du weißt doch, dass Marcel die Polizei zu dem Labor geführt hat. Er hat mich da rausgetragen und ins Krankenhaus begleitet. Scheinbar hat er auch die ganze Zeit an meinem Bett verbracht. Ich habe das erst gestern richtig mitbekommen. Ich war wohl manchmal wach, habe aber nichts richtig gecheckt. Und dann hat er gestern …“ Weiter komme ich nicht. Marcel gleitet wieder ins Zimmer zurück und holt aus dem Badezimmer noch Wasser, kommt zum Bett und stellt die Rose in die Vase.

„So schön!“, beteuere ich nochmals und nehme seine Hand, um ihn auf meine Bettkante zu ziehen. Es ist komisch. Ich will ihn glücklich sehen und ihm meine Zuneigung zeigen. Ist das mein schlechtes Gewissen oder der Drang, dem Konter zu bieten, was vielleicht in mir haust und mich in Tims Arme treibt.

Christiane sitzt nur da und starrt uns an, als wären wir Geister.

Marcel lässt seine Augen unaufhörlich über mein Gesicht gleiten und ich werde nun doch etwas nervös, mir meiner Defizite bewusst. Ich sehe immer noch so schrecklich aus.

„Ich habe dich so vermisst“, raunt er und gibt mir noch einmal einen Kuss. Christiane ignoriert er dabei erneut völlig.

„Ich dich auch“, sage ich und kann nicht verhindern, dass mein Blick zu Christiane abschweift.

Die hat sich wieder im Griff, kneift die Lippen aufeinander und nickt mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck, als wolle sie sagen: „Ja klar! Ganz doll hast du ihn vermisst.“ Zu meinem Glück sagt sie aber nichts. Sie setzt sich nur zurück und sieht uns an, als wären wir Schauspieler in einer Daily Soap, in der die nächste Intrige nicht lange auf sich warten lässt.

„Ich kann vielleicht am Mittwoch schon gehen“, versuche ich ein Gespräch in Gang zu bringen.

„Mittwoch?“, sagt Marcel mit leuchtend Augen. „Das ist ja super! Ich werde mir freinehmen und dich dann abholen. Weißt du schon wie spät?“

So weit ist es eigentlich noch gar nicht. Aber dass er sich sofort bereit erklärt, mich abzuholen, ist wieder typisch.

„Weiß ich noch nicht. Das ist auch noch nicht ganz sicher.“

Marcel nickt nur verstehend. „Wäre aber wirklich schön.“

Ich ziehe Christiane mit ins Gespräch, um der ganzen Situation etwas Normalität abzuringen.

„Was sagen die anderen, weil ich nicht da bin? Weiß jemand, was passiert ist, und dass ich im Krankenhaus bin und Julian im Gefängnis?“

„Ne, nicht wirklich. Zumindest hat noch keiner etwas gesagt. In der Zeitung stand zwar etwas von einem Übergriff auf zwei Jugendliche, die mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Aber keiner weiß, um wen es sich handelt und ich habe nichts gesagt, weil die Polizei mir das verboten hat.“