Mannesstolz

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Mannesstolz

Georg von Rotthausen

published by epubli GmbH, Berlin

Copyright: © by Georg von Rotthausen

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Inhaltsverzeichnis:

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Zwei Jahre später

Etwa vier Monate später

Knapp sechsdreiviertel Jahre später, zwei Wochen vor dem Morgen, an dem das Unheil verstummt sein wird, nur um damit weiteres heraufzubeschwören

Einen Tag später

13 Tage später

1. Tag

2. Tag

3. Tag

4. Tag

5. Tag

Am Tag zuvor

6. Tag

7. Tag

8. Tag

Am Tag nach der Aufklärung

Epilog

Danksagung

Schlußerklärung

Kontakt zum Autor

Georg von Rotthausen

Mannesstolz

“Die Liebe ist ein Wunder, das immer wieder möglich ist. Das Böse eine Tatsache, die immer vorhanden ist.”

Friedrich Dürrenmatt

Prolog

In einer schmalen Einbahnstraße kommt es zum Gegenverkehr. Ein Verkehrsteilnehmer hatte nicht damit gerechnet und erlebt eine böse Überraschung, als drei Verkehrsteilnehmer den Verkehr in die verkehrte Richtung lenken und es so zu einem verkehrten Verkehr kommt, der ihm auf fatale Weise verkehrt vorkommt. Das verkehrte Verhalten der drei Verkehrsteilnehmer hatte ihn derart gefesselt, daß er nicht mehr ausweichen konnte und nun inmitten des verkehrten Verkehrs nicht umhin kann, zu denken, daß sei alles reichlich verkehrt und er selbst sei auch verkehrt − irgendwie, denn so hat er noch keinen Verkehr erlebt und so verkehrt verkehrt. Gemessen an seinem Alter ist er schon recht lang Verkehrsteilnehmer, aber dieser Verkehr an diesem schönen 11. September neben einem sonst eher verkehrsberuhigten, ja idyllischen kleinen bayerischen See ist ein gefährlich verkehrter Verkehr, der mit einem harten Schlag endet und sein bisheriges Verkehrsverhalten ins Gegenteil verkehrt. Dies wird sich alsbald gegenüber den drei Verkehrsteilnehmern zeigen, nachdem sie Verkehrsflucht begangen haben. Er bleibt nach dem Verkehrszusammenstoß liegen. Am Ende der Einbahnstraße lassen sie Blut zurück. Es rinnt in das klare Wasser des idyllischen bayerischen Sees, wo es glücklicherweise keine Rauschwirkung auf Haie hat, denn die haben sich zurückgezogen, nachdem unbändige Naturgewalten ihren Lebensraum trockenfallen und zum Aufmarschgebiet des gefährlichsten Lebewesens unter der Sonne werden ließen. Aber eine Wirkung hat es, das vergossene Blut des verkehrten Verkehrs: Es verkehrt eine Seele und vermählt einen schlafenden Hai mit der gefährlichsten Gefahr. Unter der besten Tarnung, der Schönheit, erwacht das Böse.

*

Zwei Jahre später.

Ein junger blonder, blauäugiger Bursche schlingt sich ein großes Badetuch um die Hüften, betätigt die Spülung und verläßt den Raum. Sein Gesichtsausdruck läßt erkennen, daß er gerade an etwas sehr lustiges denkt. Es ist ein fröhlicher, unbekümmerter Junge, ein hübscher Kerl gar, den sich jede Mutter als Freund für ihre Tochter und für sich selbst als Schwiegersohn wünscht, wenn sie ihn schon nicht als eigenen Sohn hat − oder als Geliebten genießen kann.

In der Dusche trifft er auf ein bekanntes Gesicht. Sonst ist niemand da. Er nimmt sein Tuch ab, legt es auf einen Schemel und dreht die Brause an. Während er sich unter dem langsam heißer werdenden Wasserstrahl hin und her dreht, wird er genau beobachtet, was er zunächst nicht bemerkt. Ohne zu seinem Nachbarn zu sehen fragt er ihn:

„Auch nicht nach Hause gefahren? −−− Ich muß noch auf die nächste Prüfung lernen, zu Hause habe ich keine Ruhe, die Mädels eben”, und er lacht. Es kommt keine Antwort, was ihn nicht weiter stört. „Kannst Du mich mal hinten einseifen?” Er dreht sich um. „Denkst wohl auch gerade an scharfe Dinger, wie? Geile Pracht, Mann!” Sein ebenmäßiges Gesicht ist ein einziges breites Lächeln, seine eigene Männlichkeit schickt sich an, zu erblühen.

Sein Nachbar sagt noch immer nichts, nimmt aber sein Duschgel und seift ihn ein − erst wohltuend, dann fest und gründlich.

„Du, da mach’ ich’s selber, danke.”

Er wird unvermittelt gegen die Kachelwand gestoßen …

„He, was soll das?”

Da wird er hart im Genick gepackt, mit dem Gesicht gegen die Wand gedrückt und sieht nur den erhobenen rechten Zeigefinger, der ihm wortloses Stillhalten befiehlt, während es ihn im selben Augenblick heiß durchfährt, und seine linke Wange reibt an den kühlen Kacheln … und reibt … und reibt ... und reibt … und eine Seele wird verwundet, während ein schönes Lächeln stirbt.

*

Etwa vier Monate später.

In einer Hamburger Villa, in Eppendorf, um genau zu sein, nicht wirklich groß, aber groß genug, um noch als Villa zu gelten, nicht an der Pfeffersackmeile, aber doch vornehm genug, um die Bewohner für wohlhabend zu halten, läßt ein schönes Mädchen sich zwei Tage vor Heiligabend ein heißes Bad ein. Es ist fast ein wenig zu heiß, aber es soll seine Wirkung nicht verfehlen, und ein langes Badeerlebnis hat sie ohnehin nicht vor, die junge Schöne. Sie hat etwas ganz bestimmtes im Sinn: sie will baden wie eine römische Adlige. Das Haus ist ruhig, außer ihr ist niemand da. Sie hat ihr hübsches Zimmer aufgeräumt und ihre Kleidung sorgfältig aufs Bett gelegt. Sie wendet sich vor dem Betreten des Bades, das sich gleich an ihr Zimmer anschließt, um, läßt ihren Blick schweifen, als wolle sie sich vergewissern, daß alles in Ordnung ist und ihr niemand folgt, dann geht sie ins Bad, wo sich die hellblaue Wanne mit dem dampfenden Wasser füllt. Sie hat keinen Blick für den schönen Raum, bleibt vor dem hellblauen Waschbecken stehen, betrachtet sich im Spiegel, löst ihre Haare, schüttelt sie aus und nimmt etwas aus dem Toilettschrank.

An der Wanne stellt sie das Wasser ab, verzieht etwas das Gesicht, als sie ihren rechten Fuß kurz eintaucht, aber dann mit heftig eingesogener Atemluft in die Wanne steigt, kurz innehält und sich dann langsam setzt. Die eingetauchte Haut rötet sich augenblicklich. Sie legt den kleinen Gegenstand in die Seifenschale an der Wandseite, lehnt sich mit dem Kopf zurück und schließt die Augen. Sie schwimmt in ihren Gedanken. Sie weiß genau was sie will, ist völlig mit sich einig und absolut ruhig.

„Jetzt werde ich zu meinem Kind schwimmen, so wie es davongeschwommen ist − in meinem Blut. Ich habe es nicht halten können, so wie ich mich nicht mehr halten kann. Niemand kann mich halten, niemand. Mein Blut wird mich zu meinem Kind bringen und dann trennt uns niemand mehr. − Es muß gelingen, da kein Freund mir hilft, ganz alleine muß ich auf die Reise gehen. − Lebt alle wohl, ich muß zu einem Wiedersehen, muß sehen, ob mein Kind doch lächelt.”

Sie greift zur Seifenschale. Ganz in Gedanken tritt die Schöne ihre Reise an. Kurz zucken ihre Mundwinkel, begleitet von einem kurzen Zusammenkneifen ihrer Augen. Und wie so manches Mal bei einer Überlandtour sie ihren linken Arm im Übermut in den Fahrtwind hielt, so hält sie ihn nun hinaus aus der Wanne als wolle sie zum letzten Mal im Diesseits fröhlich winken. Mit Blut kam sie ins Leben, mit Blut geht sie auf die Reise, einem Leben nach, das nicht bei ihr bleiben konnte − und langsam schwinden ihr die Sinne. Zuletzt hört sie ein Kinderlachen. Es verschönt ihr sterbendes Gesicht mit einem letzten Lächeln.

*

Knapp sechsdreiviertel Jahre später, zwei Wochen vor dem Morgen, an dem das Unheil verstummt sein wird, nur um damit weiteres heraufzubeschwören.

Ein schöner junger Mann, blond, blauäugig, dessen ebenmäßige Gesichtszüge für sein Alter ein wenig zu ernst wirken, bleibt an einem Briefkasten an der Ecke der Straße, in der er wohnt, stehen, prüft die Leerungszeiten, sieht auf seine Armbanduhr, nickt unmerklich, hebt die Klappe an der Vorderseite hoch und wirft einen hellblauen Briefumschlag ein.

„So, das ist erledigt.”

Als er weitergeht, begegnet ihm ein Ehepaar mittleren Alters, das, seiner angesichtig, zeitgleich ein ehrliches Wie-schön-Sie-zu-sehen-Lächeln aufsetzt und seinen Gruß erwartet, der ausbleibt. Er geht wie abwesend an ihnen vorbei. Leicht konsterniert bleiben beide stehen.

„Moin, Herr …”

Der Rest bleibt dem Mann im Halse stecken. Beide sehen sich verwundert an.

„Hast Du Töne, geht einfach vorbei.”

„Hast Du seinen Gesichtsausdruck nicht gesehen?” Dem geht’s nicht gut.”

„Sagen Sie, Herr …”, ruft der Mann ihm nach.

„Laß ihn. Der Junge will nicht reden. Ich geh’ morgen mal zu ihm hin.”

„Vielleicht hat Warendorff ihn angesch …, ich meine angepfiffen”, verbessert er sich, nachdem seine Frau ihm blitzschnell das Sag-es-ja-nicht-Augenbrauensignal gegeben hat. „Mann, der muß lernen, das zu ertragen.”

Beide sehen ihm kurz nach und gehen weiter. Fünf Schritte später hat er es schon abgehakt, sie macht sich Sorgen.

Der junge Mann hat inzwischen das Haus erreicht, in dem er wohnt, betritt es und ist froh, daß niemand von den Nachbarn ihn gesehen hat, als er seine Tür aufschließt. Er wirft den Schlüsselbund auf den Schuhschrank gegenüber dem Flurspiegel, ohne die Tür wieder abgeschlossen zu haben. Für einige Augenblicke lehnt er sich gegen die Haustür und schließt seine Augen.

Dann stößt er sich ab, legt seine weiße Schirmmütze auf die Hutablage der Garderobe und geht in sein Schlafzimmer. Dort entkleidet er sich vollständig, legt fein säuberlich alle Stücke weg und betrachtet noch einmal sein textiles Statussymbol mit dem goldenen Streifen und Seestern darüber. Er war so stolz darauf, als er es das erste Mal tragen durfte. Bald wäre der zweite Streifen dazugekommen. Und dann hängt er es weg.

 

„So, das ist erledigt.”

Er betritt seine kleine Küche und richtet sich ein Abendbrot. Es ist wie jeden Abend, wenn er zu Hause sein kann. Nicht zu viel und nicht zu wenig, er achtet sehr auf seine Figur, beim Training und bei dem, was er zu sich nimmt. Er ißt mit Genuß, atmet nach dem letzten Bissen und letztem Schluck Weißbier tief durch, trägt ab, reinigt das Geschirr und stellt alles ordentlich weg. Eine Pantry muß immer klarschiff sein.

„So, das ist erledigt.”

Nach einem letzten Blick umher geht er in sein Wohnzimmer und setzt sich an den alten Schreibtisch, den sein Vater ihm geschenkt hatte. Zwei Briefe schreibt er, mit ruhiger, schöner Handschrift, faltet jeden Bogen sorgfältig, steckt jeden in einen Umschlag, den er anleckt und verklebt und zusätzlich petschiert. Er muß schmunzeln: Nicht nur die Briefe sind petschiert − er ist es auch. Aber bald ist er frei.

„So, das ist erledigt.”

Mit einem tiefen Durchatmen läßt er sich in seinen Lieblingssessel fallen, lehnt sich zurück und schließt die Augen. Sein Kopfkino springt an und spielt ihm die schönsten Filme seines Lebens vor, so schön, daß sein Lächeln für eine kurze Weile zurückkehrt und er sich selber zu lieben beginnt. Nach dem Höhepunkt atmet er tief durch.

„So, das ist erledigt.”

Nach einem letzten Blick umher geht er in sein Bad und holt sein Reisemittel heraus. Er will es gleich verwenden, aber vorher genießt er eine heiße Dusche, die ihn reinigt und doch nochmals an den Beginn erinnert, so wie sie ihn jedes Mal erinnerte, wo es begann und wie es begann − sein Unheil, seine Schmach, sein Verderben.

Nach zehn Minuten trocknet er sich ab und hängt die Handtücher fein säuberlich auf.

„So, das ist erledigt.”

Er nimmt sein Reisemittel in die Hand, blickt sich ein letztes Mal um und geht in sein Schlafzimmer, denn das will er nun tun − schlafen.

Er schlägt das Oberbett zurück, setzt sich auf die Bettkante. Die Uhrzeit nimmt er nicht mehr wahr; sie ist unwichtig geworden. Zwei Kopfkissen türmt er auf und setzt sich dagegen. Er macht mit der linken Hand eine Faust, an seinem sehnigen Arm zeigt sich die Reisestrecke, mit der leeren Spritze schickt er eine Luftblase los, zieht die Nadel heraus, ein kleiner Blutstropfen quillt hervor, er läßt die Spritze fallen, lehnt sich zurück und schließt die Augen.

„So, das ist er ...”

*

Einen Tag später.

Zwei junge Männer rennen zur Mittagszeit auf das Haus zu, in dem der schöne, junge Mann wohnt. Als der erste gerade läuten will, wird die Haustür geöffnet, und beide drücken ohne Rücksichtnahme hinein.

„He, können Sie nicht aufpassen?” Ein empörter älterer Mann sieht ihnen böse nach.

Nein, es schert sie nicht. Beide stürmen zwei Stockwerke hoch und beginnen, an der Tür des schönen, jungen Mannes zu klingeln und gegen sie zu hämmern.

„Mach’ auf, mach’ endlich auf. Mann, mach’ keinen Scheiß!” Beide sehen sich entsetzt an.

„Kannst Du nicht aufschließen oder sie einfach eintreten?”

„Fußmatte!”

Der das sagt bückt sich und findet einen Sicherheitsschlüssel. Gerade als sie die Tür öffnen, kommt der Nachbar heraus.

„Was machen Sie da, was soll das? Ich kenn‘ Sie nicht”, aber er bekommt keine Antwort. „Sie, ich hol’ die Polizei!” ruft er noch, findet aber kein Gehör.

Die jungen Männer sind längst in die Wohnung gestürmt, sehen jeder in ein anderes Zimmer und erstarren, als sie den schönen, jungen Mann entdecken. Einer tritt mit weit aufgerissenen Augen, stoßatmend an das Bett heran, fällt auf die Knie und ergreift die rechte Hand des Gesuchten.

„Das zahlt er mir, das zahlt er mir. Ich schwöre Dir, das zahlt er mir.”

Der in der Tür stehengebliebene junge Mann wendet sich entsetzt ab, sucht einen Stuhl und entdeckt im Wohnzimmer auf dem Tisch zwei Briefe und daneben einen Siegelring. Die Briefe sind adressiert an „Vater und Mutter” und „S.”

*

13 Tage später.

Es ist eine klare Mondnacht. Sie ist warm. Der Ort liegt ruhig. Der Tag war heiß. Man könnte noch immer in Shorts am Strand spazierengehen, den angenehm warmen Sand unter seinen Füßen spürend, Hand in Hand mit dem liebsten Menschen, oder auch allein, wenn einem das lieber ist. Doch es ist ruhig. Kein lebhaftes Schwatzen mehr vor den Strandcafés und kleinen Gaststätten. Kein Liebespärchen, das lieber im warmen Sand liegt als in den Federn oder daneben oder wo auch immer.

Bis Mitternacht wird es still. Es ist nicht Westerland drüben auf jener schmalen, ach so mondänen Nordseeinsel, wo es schon teuer ist ein kühles Bier auch nur anzusehen, geschweige denn sich servieren zu lassen und die kühlen Blonden manchen Mann erst um den Verstand und dann sein letztes Geld bringen, wo es auch nach Mitternacht noch lebhaft zugeht. Es ist auch kein Weltbad, wie es einst Zoppot vor Danzig in Westpreußen war, wo die große Welt verkehrte, als noch Traverser Schöner aufspielte, das Kasino gesellschaftlicher Treffpunkt war, Blumenkorsi die Menschen entzückten und selbst im Winter schöne Frauen in ihren Pelzen auf Seesteg und Promenade die Aufmerksamkeit auf sich zogen, ehe die Welt verrückt wurde und die Schüsse des Linienschiffes „Schleswig-Holstein” den Untergang der alten Ostseewelt ankündigten, weil dumme Führer vieler Staaten meinten, man müsse Clausewitz allzu wörtlich nehmen und sich wieder einmal zeigen, was man rüstungstechnisch drauf hatte. Ausgerechnet „Schleswig-Holstein” mußte dieses Schiff heißen, mit dem es losging, ein schönes, ein stolzes Schiff, mit einem fähigen Kommandanten, der es bis zum Vizeadmiral bringen sollte, und der doch nicht ahnen konnte, daß nun gerade seine Artillerie nicht nur die feindliche Stellung auf der Westerplatte vor dem deutschen Danzig niederkämpfte, sondern auch dazu beitragen sollte, wenn auch indirekt, daß wunderschöne Ostseebäder wie Rauschen, Cranz und Kolberg ihren Glanz verlieren würden und deutsche Urlauber sich andere Ziele suchen müßten. Und so kam es, daß ein kleines Ostseebad in Ostholstein, obwohl es schon zu Kaiser Wilhelms Zeiten, dem mit dem Es-ist-erreicht-Schnurrbart, ein kleines Ostseebad in Ostholstein war, ausgerechnet der Artillerie der „Schleswig-Holstein” und weltumspannender Dummheit es verdankte, nachdem man sich wieder beruhigt hatte und vom Wirtschaftswunder erholen mußte, einen für ruhige norddeutsche Verhältnisse ungeheuren Aufschwung zu nehmen, als viele Gäste, die nun nicht mehr nach Rauschen, Cranz und Zoppot fahren konnten, sich Ersatz suchten und neben manch weiterer Perle in der Kette der holsteinischen Badeorte in der Lübecker Bucht auch und ungemein treu in dieses kleine Ostseebad hinter dem Eutiner Staatsforst fahren sollten. Manche kamen wohl auch von der Seeseite her, dann lag und liegt es natürlich vor dem Eutiner Staatsforst. Aber immerhin liegt es da, denn glücklicherweise hat die große Flut von 1872 es verschont, sonst läge es nicht mehr da, wäre verschwunden, wie einst Vineta. Das immerhin kennt man noch als Sage, das kleine Ostseebad wäre nie eines geworden und das weggespülte Fischerdorf hätte man völlig vergessen, man erzählte sich wohl nicht einmal mehr eine Sage davon, denn es hat keine. Es käme niemand, denn die Leute müßten ja ihre Kurtaxe woanders abgeben, ob es ihnen paßt oder nicht, und die Wasserstandseiche im Eutiner Staatsforst würde auch niemand kennen, denn es hätte niemand den Wasserstand von 1872 dort angezeichnet, und dann würde sie niemand Wasserstandseiche genannt haben − warum auch. Es wäre niemand da, den es interessiert hätte, höchstens den Förster des Eutiner Staatsforstes, der die Wasserstandseiche, die nie zu diesem Namen gekommen wäre, kurzerhand verkauft hätte, um die öffentliche Kasse mit seiner guten Holzwirtschaft zu entlasten. Eine unbekannte Wasserstandseiche hätte sich vortrefflich zu Möbeln verarbeiten lassen, die dann von einem Menschen mit Geschmack gekauft worden wären, der nie etwas von einer Wasserstandseiche erfahren hätte, aber möglicherweise nun in diesem kleinen Ostseebad Urlaub machte und nach ihm seine Kinder und Enkel, die allesamt die Wasserstandseiche mindestens einmal in ihrem Leben bestaunt haben und sich fragten, warum denn dort das Wasser so hoch stand und das kleine Ostseebad noch steht. Das, was damals nicht weggespült wurde, haben heimatlose Bürgermeister zur Förderung des Baugewerbes und ihres Egos nach und nach abreißen lassen, denn wenn die Flut 1872 das kleine Ostseebad erreicht hätte, wäre ja sowieso alles weg gewesen. Warum also diese Aufregung?

Und so liegt das kleine Ostseebad ruhig und ahnungslos da. Fast so ruhig wie im Winter, wenn außer den wenigen Einheimischen und der Atmosphäre einer wunderbaren Ruhe kaum jemand da ist. Die wird dann noch ruhiger, die Atmosphäre, wenn die gar nicht so ruhigen Winterstürme, die sehr stürmisch sind, wie ihr Name schon sagt, drei Meter hohe Schneewehen aufwehen, denn dann gilt: Keen een rin un keen een rut. Man tut dann gut daran, vorher ausreichend eingekauft zu haben, denn der kleine Eckladen am Ring, so emsig seine Besitzer auch sind, hat auch nicht alles. Und selbst wenn er alles hätte − man muß erst einmal hinkommen, wenn die Schneewehen aufgeweht sind, und das ist gar nicht so einfach, wenn es von achtern und von vorn weht, als wäre man am Kap Hoorn. Beneidenswert sind die, die am Ring wohnen und es nicht weit haben, aber auch die müssen bannig aufpassen, daß der Wind, der nichts anderes kann als zu wehen, sie nicht am Laden vorbei die Waldstraße entlangweht und sie erst am Waldrand zum Stehen kommen und der Förster in seinem schmucken neuen Forsthaus sich wundert, wer denn da zu Besuch vorbeigeweht kommt. Die Verlegenheitsausrede, man wolle bloß ein Ster Holz kaufen, kommentierte er nur noch kurz mit einem gemurmelten „Bregenklöterig, hm?” und ermahnte etwas deutlicher „Bliev to Huus, dat weiht ut Noord!” − und Tür zu, denn es weht. Seine liebe Frau mag es gar nicht, wenn es ihr weiter hinten im Haus das gute Geschirr vom Tisch fegt.

Manchmal aber versuchen die Stürme das nachzuholen, was die Flut von 1872 nicht geschafft hat. Sie peitschen das Wasser, was soll man im Winter auch anderes damit machen, denn zum Baden ist es viel zu kalt, aber schöne hohe Wellen lassen sich auftürmen und damit spülen sie schon mal den ganzen Strand weg oder versuchen, den Landesdeich zu durchbrechen. Dann wird es etwas unruhig, die Schäden müssen repariert werden, und dann beruhigt man sich wieder, damit man die Kraft und Ruhe hat, die Gäste mit der ruhigen Freundlichkeit zu empfangen, die das kleine Ostseebad auszeichnet, damit die anfänglich immer noch etwas aufgeregten Gäste, die aus weniger ruhigen Gegenden und Lebensumständen kommen, langsam die Ruhe finden, derethalben sie angereist sind, um davon nach ihrer Abreise etwas mitzunehmen, um die unruhigen Gegenden und die Lebensumstände, aus denen sie gekommen sind, etwas ruhiger zu machen und sich selbst natürlich auch. Und wenn sie denn alle wieder fort sind, finden die Einheimischen erneut die Ruhe, die sie brauchen, um die Kraft zu sammeln, den langsam wieder unruhig gewordenen Binnenländern im kommenden Jahr wieder zu der Ruhe zu verhelfen, wenn die Unruhe sie erneut an die Küste treibt. Die Einheimischen freuen sich übrigens jedes Jahr, wenn die Gäste wieder all das Geld mitbringen, das zu verdienen sie die Ruhe hatten, nachdem sie in dem kleinen Ostseebad zur Ruhe gekommen waren, und es nun da lassen, und das wiederum beruhigt die Einheimischen ungemein, denn sie leben ganz gut davon, auch wenn sie es nicht immer zugeben mögen. Im übrigen haben die Einheimischen hier die Ruhe weg. Das gehört in dem kleinen Ostseebad einfach dazu.

Und so ist auch dies eine ruhige Nacht, noch warm von der Hitze des Tages, milde erleuchtet von einem ohne Wolken behinderten silbernen Mond. Noch ahnt niemand, daß Gottes Nachttischlampe die Ruhe vor dem Sturm bescheint.

Eine schlanke junge Frau geht im matten Licht auf die Promenade zu. Die leichte Brise in der Nähe des Strandes läßt sie ebenso leicht frösteln, wobei sie sich, unbewußt natürlich, nicht sicher ist, ob es nicht die zitternde Aufregung dessen ist, worauf sie sich freut − zu freuen glaubt.

Sie bleibt in dem schmalen Schatten stehen, den das Strandcasino wirft. Ihr Blick richtet sich auf die Seebrücke und die sich auf der angebauten Badeinsel abspielende Szene, derer sie nun Zeugin wird, was sie nicht erwartet hat.

Sie sieht fünf junge Männer, die der Reihe nach nackt ins Wasser springen. Nackte junge Männer findet sie schön, aber das hier ist ihr zuviel. Sie verschränkt die Arme vor der Brust, schaut enttäuscht, wippt mit beiden Füßen einige Male auf und ab, schaut zu Boden, sieht noch einmal zu den im Wasser tobenden jungen Männern hin. Dann dreht sie sich um und geht, gesenkten Hauptes, mit verschränkten Armen, den Weg zurück, den sie gekommen ist. Am Seemannsdenkmal wendet sie sich noch einmal um, hört einen kurzen Augenblick dem fröhlichen Getobe zu, dreht sich in Richtung des Theehauses und beginnt zu laufen, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her. Hinter dem Landesdeich verschluckt die Nacht die Lebensfreude.

 

Daß ein weiteres Augenpaar die Szenerie beobachtet, hat sie nicht bemerkt. Sie selbst ist nicht unentdeckt geblieben und seit ihrem Erscheinen im Blickfeld gehalten worden. Nun, da sie fort ist, wenden sich diese Augen, verborgen im Schatten eines Korbes schräg gegenüber der Badeinsel, wieder den nackten jungen Männern zu und verfolgen funkelnd das lebhafte Treiben.

*

Die junge Frau kommt atemlos zurück in ihre Ferienwohnung. Sie schließt ab, läßt den Schlüssel stecken, lehnt sich tief atmend gegen die Tür. Nach ein paar Augenblicken drückt sie sich ab, geht ins Wohnzimmer, zieht die Jalousien herunter und wirft sich in einen Sessel. Sie sieht traurig aus, starrt an die Decke. Nach einem Augenblick springt sie auf, murmelt „Was soll’s”, geht in ihr kleines Schlafzimmer, entkleidet sich, sucht das Bad auf und steigt unter die Dusche.

Sie dreht sich unter dem prasselnden Wasser, hält ihr Gesicht hinein, ihre langen schwarzen Haare fließen an ihrem Rücken herunter. Ihre schöne Haut schimmert golden im Badezimmerlicht, gespendet von einer der letzten Glühbirnen, ist übersät von immer wieder sich erneuernden Wassertropfen, die wie kleine Kristalle blinken. Ihre Hände gleiten über ihre wohlgeformten Brüste, ihren flachen Bauch, suchen ihren schwarzen Schoß, als wollten sie das Geschenk nachliefern, das am Strand nicht gegeben wurde.

Abrupt dreht sie das Wasser ab, steigt hinaus, trocknet Haare und Körper. Sie wirft ihren Bademantel über und windet sich einen Handtuchturban.

In der Küche macht sie sich den letzten Tee des Tages, setzt sich und schreibt Tagebuch, begleitet von einem leisen Weinen, dessen sie sich nicht erwehren kann. Nachdem ihre Erinnerungen notiert sind, läßt sie ihren Bademantel auf der Küchenbank zurück. Die Schöne legt sich schlafen und entflieht der Enttäuschung der Nacht in die sanften Arme des Schlafes.

*

1. Tag

Die kleine Uhr neben ihrem Bett zeigt 6.30 Uhr. Nicole liest blinzelnd die Zeit ab, rekelt sich noch einmal und kehrt aus der Traumwelt in die noch stille Wirklichkeit des Morgen zurück. Das Haus ist noch ganz ruhig. So wie es sich in einem Haus in dem kleinen, ruhigen Ostseebad gehört.

Sie steht auf, kämmt sich die Haare sorgfältig durch. Nicole geht, nackt wie sie ist, in die Küche, läßt die Jalousie hochlaufen und trinkt ihren morgendlichen Orangensaft am Fenster stehend. Sichtlich besser gelaunt schaut sie anschließend in den Spiegel, nickt sich selbstzufrieden zu; sie schaut sich um, entdeckt ihren weißen Bademantel, zieht ihn über, schlüpft in ihre Strandsandalen, steckt ihr kleines Portemonnaie ein und verläßt das Haus.

Es ist noch niemand auf den Straßen. Die Bäckereien öffnen erst um sieben; den Brötchenkauf plant sie für den Rückweg. Sie geht die Strandstraße entlang, kommt an dem schön renovierten Theehaus vorbei, passiert das Seemannsdenkmal, wo sie kurz stehen bleibt und in die Morgensonne blinzelt. Sie reckt und streckt sich, als wäre sie gerade aufgestanden. Dann steckt sie beide Hände in die Bademanteltaschen und schlendert vorbei an den kleinen Becken mit den plätschernden Wasserspielen über die Bodensteine mit dem Wellenmuster weiter Richtung Haupteingang Promenade und Strand, wobei sie sich rechts hält.

Nicole biegt um die Ecke des Strandcasinos, bleibt kurz stehen, sieht sich um, stellt mit einem feinen Lächeln fest, daß sie allein ist, löst den Gürtelknoten, faßt in Brusthöhe die Aufschläge und öffnet sie, als wolle sie die ersten Sonnenstrahlen einfangen. Die ersten Schwalben sausen im Tiefflug über die Promenade und dem Sand zwischen den Strandkörben.

Nicole bewundert die Manövrierfähigkeit der pfeilschnellen kleinen Vögel, sieht ihnen einige Augenblicke zu. Noch sitzen gelassene Möwen auf den Strandkörben, einige stolzieren durch die Korbreihen, um nach Essensresten zu suchen, die die Badegäste am Abend zuvor absichtlich in den Sand geworfen hatten und bei der ersten Aufpickrunde übersehen worden waren.

In Scharen sitzen große weiße Möwen und die kleineren Schwarzkopfmöwen auf der Seebrücke. Die ersten Gäste werden sie verscheuchen und auf Abstand halten. Wehe, wenn diese Möwen es lernten, den Menschen die Eistüten aus der Hand zu picken, wie die aufdringliche Bande auf Sylt es bereits gelernt hat.

Nicole vergewissert sich erneut, unbeobachtet zu sein, läßt die Aufschläge los, nimmt leicht Anlauf und springt auf den Sand, der noch etwas feucht von der Nacht ist, und strebt einem Strandkorb in der ersten Reihe zu. Einige der Möwen fliegen auf und machen sich davon. Beim Näherkommen sucht sie etwas in den Taschen, bleibt kurz stehen, prüft nochmals − und murmelt leise vor sich hin: „Jetzt habe ich doch den Schlüssel vergessen”, geht aber weiter und zwar gezielt auf den Strandkorb H 55 zu. Nicole wundert sich im Stillen, daß links neben dem etwas nach rechts gedrehten Korb das Gitter steht, will aber nicht weiter darüber nachdenken, läßt den Bademantel heruntergleiten, hängt ihn am Gitter auf und geht weiter zur Wasserlinie.

Nicole schaut nochmals links und rechts, sich absichernd, daß sie allein ist, prüft mit den Füßen die Wassertemperatur und bekommt eine leichte Gänsehaut.

„Ach was”, macht sie sich selber Mut und geht hinein. Es kostet sie etwas Überwindung, aber mit leisem Juchen schaufelt sie sich das frische Wasser an den Oberkörper, ihre schönen Brustwarzen sind augenblicklich aufgerichtet und fest. Dann taucht sie kurz unter, kommt wieder hoch und ist schließlich so weit fortgekommen, daß sie mit einem Sprung nach vorn in das ruhige Ostseewasser gleitet und kraulend Distanz zum Strand gewinnt.

Nicole zieht weiter draußen einige Bahnen, kehrt zur Sandbank zurück, wo sie in Hocke kurz verweilt und die verwaiste Badeinsel betrachtet, auf der sie zum Mondscheinschwimmen einen einzigen schönen Mann zu treffen trachtete, der ihrer offensichtlich nicht gedacht und sich stattdessen mit vier Kameraden getroffen hatte. Sie nimmt sich vor, ihn deshalb energisch zur Rede zu stellen. Jetzt sitzen dort nur einige Möwen, die die nackte Schöne zwar im Auge behalten, aber für ihre Erotik ganz sicher keinen Blick haben. Was zählt menschliche Schönheit für eine Möwe? Die wird erst interessant, wenn sie ihr einen Keks entgegenhält.

Nicole wendet sich dem Ufer zu, schwimmt noch einige Züge, richtet sich auf − und entdeckt, daß aus ihrem Strandkorb zwei Beine herausragen, als hätte sich jemand hineingesetzt und wäre eingeschlafen. Sie verläßt die See, nimmt ihre am Körper klebenden Haare mit der Rechten zusammen, läßt sie durch ihre geschlossene Hand laufen, um das Wasser herauszudrücken und läßt sie überrascht los, denn sie bemerkt beim Näherkommen, daß es sich um Männerbeine handelt. Nicht behaart, aber doch Männerbeine. Zu einer anderen Tageszeit hätte sie vielleicht gedacht „Hm, schöne, trainierte, lange Beine, da hängt bestimmt ein großer hübscher Kerl dran und noch ‘was anderes Großes”, aber daran denkt sie jetzt am frühen Morgen, einsam am Strand, überhaupt nicht. Um nicht Opfer einer unerwünschten Betrachtung ihrer Nacktheit zu werden, unterläßt sie jeden Anruf, geht seitwärts auf ihren Korb zu, nimmt ihren Bademantel vom Gitter, wirft ihn über, bindet den Gürtelknoten, geht herum, holt Luft, um ein herzhaftes „Sagen Sie mal, was machen Sie in meinem Korb?” anzubringen − reißt schreckgeweitet ihre Augen auf und vergißt ihre Worte in einem gellenden Schrei.