Mannesstolz

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Auf dem mittlerweile belebten Strand stehen zahlreiche Personen um den Strandkorb H 55 herum. Nebenan, im H 76, bemüht sich eine junge Kriminalbeamtin um die schöne Frühschwimmerin, die noch immer völlig aufgelöst ist. Ein Notarzt fragt sie:

„Möchten Sie ein Beruhigungsmittel?”

Sie schüttelt mit dem Kopf und macht eine abwehrende Handbewegung. „Nein, nein, es geht bald wieder.” Sie zittert am ganzen Körper, ist mit verschränkten Armen ein einziges ‚,Geht doch alle weg!“

Der Kriminalkommissar Frederic Langeland, ein großer blonder Mann von 30 Jahren, versucht, Neugierige fernzuhalten. Er ist sonst ein fröhlicher Typ, locker, tolerant, läßt auch mal Fünfe gerade sein, aber die Sensationsneugier einiger Leute geht ihm an diesem Morgen auf die Nerven. Wer genau hinhört, erkennt einen leichten, einen wirklich nur leichten dänischen Akzent.

„Herrschaften, gehen Sie zu Ihren Körben oder in Ihre Quartiere. Außer einem Toten gibt es hier nichts zu sehen” und macht wegwinkende Handbewegungen. Als einige Kinder zu nahe kommen wird er energisch und lauter „… und halten Sie Ihre Kinder fern, das ist hier kein Spielfilm!”

„Na hören Sie mal, wofür zahlen wir denn Kurtaxe?”, protestiert ein bauchiger Mann.

„Sicher nicht, um eine Leiche anzusehen und unsere Arbeit zu stören” − und sein Ton wird deutlicher − „Entfernen Sie sich!”

Langeland beobachtet kopfschüttelnd, wie der Dicke sich grummelnd zurückzieht. Auch andere Neugierige verlaufen sich, von Uniformierten mit ausgebreiteten Armen zurückgedrängt.

Recht aufgeregt kommt eine weibliche Person gehobenen Alters heran:

„Was ist hier los? Wer hat hier das Kommando?“

An der noch nicht vollständigen Absperrung versucht einer der Beamten aus Grube gar nicht erst, das nahende Ungewitter aufzuhalten, denn er weiß, was, bzw. wer da kommt, und macht angesichts der ihm entgegengeworfenen gebieterischen Handbewegung „Weg da!” schleunigst Platz. Sie stürmt an Langeland vorbei, der ihr mit Stirnrunzeln nachsieht. Dann wendet er sich dem gehorsamen Beamten mit stumm-fragend erhobenen Händen zu und formuliert lautlos „Wer ist das?”, worauf mit lautloser Lippenformulierung zurückkommt „Die Bürgermeisterin”; dazu die Handbewegung, er solle bloß nichts sagen.

Das „Ungewitter” ist 63 Jahre alt, von asketischer Figur, mittelgroß, mit einer flotten Kurzhaarfrisur, die fast jedem Sturm standhält, auch im Gemeinderat oder im Landratsamt, wo immer es stürmisch werden kann; einmal gewuschelt − wieder in Ordnung. Man sieht es gerade nicht, aber sie kann sehr freundlich dreinschauen − wenn sie will, aber sie kann auch verbal draufhauen, wie Blücher bei Waterloo. Keine Gefangenen! Sie drückt sehr viel für ihren Ort durch, plündert jeden erreichbaren Zuschußtopf. Als sie bei der Einweihung der neuen Promenade 2003 einen Staatsminister aus Kiel unentrinnbar vor sich hatte, da machte sie ihm coram publico schon klar, wieviel Geld sie für die neue Seebrücke benötigte, was der dann auch mit einem breiten Schmunzeln und einem Beckenbauer’schen „Schau’n wir mal” beantwortet hatte. Sie schaffte es dann tatsächlich, das entsprechende Geld aus den Kieler Rippen zu leiern und die neue Seebrücke steht; mit ein paar Schwierigkeiten, aber sie steht. Fragt sich nur, wie lange, bei den Winterstürmen. Und wenn Jugendliche einen Arbeitsplatz suchen oder erst einmal eine Lehrstelle brauchen, da ist sie zur Stelle und hilft. Hin und wieder müssen gleichaltrige Einheimische, mit denen sie zur Schule ging und sie gut kennen, sie ein wenig einnorden, aber das gehört zum menschlichen Miteinander dazu. Man ist ja im Dorf, man kennt sich. Aber bei der Straßenumlage, da wird sie zum Tier, langt gnadenlos zu. Da kann es schon mal sein, daß sie Hausbesitzern sagt, sie sollen halt verkaufen, wenn sie es sich nicht leisten können. Sie hängt sich wirklich ’rein, ist ständig auf Achse im Dienst an der Gemeinde, obwohl sie „nur” eine Ehrenamtliche mit Aufwandsentschädigung ist. Da beneidet sie schon ihren Kollegen in Grömitz, der rund 7.700 Einwohner verwaltet und ein fixes Gehalt bezieht. Und dann erst die lieben Beamten im Landratsamt, die alles besser wissen − mit Gehalt. Aber sie ist überall präsent, stellt ihre Plakate nicht nur zur Wahl auf. Aufmerksame Gäste, die Einheimischen sehen das schon gar nicht mehr, finden vor vielen Häusern ihren Namen auf kleinen Schildern. Man kann nämlich Ferienwohnungen bei ihr mieten. Da ist sie sehr geschäftstüchtig, und wer sie sehen will, und das muß man schließlich, wenn man eines der hübschen Feriendomizile ergattern will, der trifft sie dort, wo einst das schöne weiße Hotel zur Post stand, ungefähr da, wo man früher das Hotel betrat und rechts in den großen Speisesaal ging. Doch an diesem Morgen ist sie Bürgermeisterin, und nur Bürgermeisterin, mit der ganzen Energie ihrer Amtsführung.

Sie entdeckt ein ihr bekanntes Gesicht.

„Ah, guten Morgen, Hans …”

„Guten Morgen, Hanne!” erwidert der Angesprochene, geht der Bürgermeisterin entgegen, und beide geben sich die Hand.

„… was ist passiert?” bohrt die Bürgermeisterin nach, „Kannst Du mir mal sagen…?” Sie sieht Hans von Greiff fragend an.

Ein großer Mann von 44 Jahren, imponierende 1,90 Meter groß, in heller, sommerlicher Kleidung, mit Rembrandt auf dem Kopf, tritt heran. Er hat ein angenehmes Gesicht, mit gepflegtem Schnurrbart und Spanischem Dreieck, man könnte ihn fast als „schönen Mann” bezeichnen. Seine kräftigen, gepflegten Hände zieren an den Ringfingern ein breiter goldener Ehering rechts und ein alter Siegelring links. Er wirkt noch etwas abgespannt, zeigt dabei immer noch leichte Züge von Verärgerung.

Man hatte ihn an seinem freien Tag aus dem Bett geholt, wohlgemerkt nach einer heißen Liebesnacht. Auch nach fast 20 Ehejahren hat er sich nicht auf gelegentliche Alibi-Blumensträuße zurückgezogen, seiner schönen Frau seine Liebe zu zeigen; er weiß sehr wohl, daß Frauen bei plötzlich mitgebrachten Rosensträußen eher zu einem kaum noch fortzubringenden Mißtrauen neigen, und wenn sie sich noch so erfreut geben. Es wird immer mit brüllender Schweigsamkeit die Frage aufkommen, ob der Kerl ’was angestellt hat oder sich frische Jugend bei einer Jüngeren holt. Rosen sind ja ein so offensichtliches Ablenkungsmanöver. Seine Maren pflegt seit Jahren ihre hübschen Portulac-Röschen, die im Sommer so fleißig blühen, egal, wo sie bisher einen Garten zur Verfügung hatte; nun auch auf dem Grund ihres neuen Heims. Das genügte. Sie hatte sich dem, kaum, daß das Haus eingerichtet war, mit Feuereifer gewidmet. Und ebenso hatten sie sich in der vergangenen Nacht geliebt. In den Sommerferien mußte auch sein geliebtes Frauchen, wie er sie für sich gern nennt, nicht auf die Zeit achten. Lehrerprivilegien eben. Ihre drei Teenager hatten es längst gelernt, sich ohne elterliches Gluckenverhalten das Frühstück zu machen. Also waren beide eng aneinandergekuschelt beim Morgengrauen eingeschlafen, in der Zuversicht, irgendwann am Vormittag miteinander aufzuwachen und fortzusetzen, was sie in der Nacht so stürmisch begonnen hatten. Das Telephon war leise gestellt. So hatte er es nicht gehört, aber die Haustürklingel, obschon ein schöner Dreiklang − er haßte diese schnarrenden Terrorklingeln, wie er sie schon als Kind empfunden hatte, aller früheren Quartiere − bedient von seinem Kollegen Fritz Langeland, hatte ihn erbarmungslos aus seinen Liebesträumen geholt und mürrisch an die Haustür geführt − der Einfachheit halber nackt wie er war. Langeland hatte sich nicht einmal geräuspert. Dessen dänische Toleranz übersah das einfach. Die Meldung einer Tötung ließ ihn aufwachen, allerdings auch seinen Kollegen anmaulen, warum er nicht den Diensthabenden vom KDD aufgescheucht habe. Der sei anderweitig unterwegs − Raubüberfall, mal wieder bei einer Tankstelle. Er solle Malle aus dem Bett holen, der wohne ja gleich „um die Ecke”. Malvoisins Gesicht verzog sich und er selbst wieder ins Haus. Langeland hatte anschließend auf einer praktischerweise vor der Tür stehenden Bank gewartet, während sein Chef sich in aller Ruhe zurecht machte. Der Tote würde ihm eh keine Fragen mehr beantworten. Warum also eine unnötige und wegen der Störung nicht gewollte Eile an den Tag legen? Warum? So hatte er sich der norddeutschen Ruhe hingegeben. Man jümmers suutje. Die Hingabe an seine Frau war dagegen bedeutend temperamentvoller ausgefallen. Jetzt lag sie zusammengerollt friedlich schlummernd da, als er sich angezogen und noch einmal nach ihr gesehen hatte. Ein leise schnurrendes Kätzchen. Kein Vergleich zu der wilden Katze wenige Stunden zuvor. Er nahm sich die Zeit dieses weibliche Wesen zu betrachten, das er so unendlich liebte und das ihn so sehr liebte. Er kann das zwar nach all den Jahren noch immer nicht begreifen, aber warum soll er auch? Er findet es einfach nur schön. Dann riß er sich los. Fruchtsaft mit einem Tropfen besten griechischen Olivenöls, kaltgepreßt, selbst-verständlich, und grüner Tee mußten sein. Ohne das war er morgens kein Mensch. Er hatte noch drei Löffel seines am Abend zuvor angesetzten Matjestopfes genascht und war dann zum Dienst erschienen. Herr von Greiff stellt ihm die Bürgermeisterin vor:

„Herr Kollege, ich darf Ihnen unsere Bürgermeisterin vorstellen: Frau Hanne von Bauwitz.”

Der Angesprochene nimmt seinen Hut ab.

„Hanne, ich darf Dir meinen Kollegen vorstellen: Kriminalhauptkommissar von Malvoisin … oder schon Erster?“

„Seit kurzem, aber ‚Erster’ ist für mich nur eine geradezu österreichische Rangverliebtheit, Generalobersargträger und dergleichen. Oder dieser Quatsch mit Stabshauptmann oder Stabskaleu. Es kommt auf den Mann an, nicht auf den Dienstgrad, aber lassen wir das”

„Na, da ist ja die ganze preußische Rangliste beisammen …” Die Bürgermeisterin hat ihre „spitzen” fünf Minuten. Malvoisin bleibt gelassen, verneigt sich kurz.

 

„Ja, ja, 400 Jahre Franzosen, 300 Jahre Preußen, aber das ist jetzt auch unwichtig.”

„Sagen Sie mal, sind Sie nicht gerade erst zugezogen?”

„Ganz richtig, Madame, vor einem guten Jahr.”

Er seufzt leise, hört an ihrer rauchigen Stimme, daß sie an der Kette hängt, und ein kurzes Einziehen der Luft bestätigt ihm: sie ist Raucherin.

„Keine Zeit, sich vorzustellen.”

„Das kann man doch von einem vielbeschäftigten Gemeindeoberhaupt nicht erwarten.”

Frau von Bauwitz sieht Malvoisin indigniert an. Der hält das aus, fragt:

„Madame, sind Sie schreckhaft?” und sieht das Gemeindeoberhaupt forschend an.

„Junger Mann, ich bin fast 40 Jahre verheiratet, mich erschreckt gar nichts mehr! Aber ich habe es schon einmal gefragt: Was ist hier los?”

Greiff wirft hinter vorgehaltener Hand leise ein: „Harte Admiralstochter…”

„Na dann kommen Sie mal …”

Malvoisin wendet sich dem H 55 zu und die Bürgermeisterin stapft im Sand hinter ihm her.

Malvoisin bleibt stehen und wendet den Blick dem Korbinneren zu. Bauwitz tritt heran − und der schreckgeweitete Blick wird von einer Ohnmacht ausgelöscht. Ehe Malvoisin und Greiff zufassen können liegt Bauwitz im Sand.

Malvoisin murmelt: „Da fehlen wohl noch 10 Ehejahre zur Abhärtung, wie?”

Beide Männer knien nieder, um die am Boden liegende Bauwitz aufzuheben, doch kaum angefaßt, berappelt sie sich und wehrt die helfenden Hände ab.

„Laßt mich, ich kann das allein!”

Bauwitz steht auf und sieht, etwas nähertretend, zur Sitzseite des H 55.

Im Strandkorb sitztliegt, etwas zur Seite geneigt, ein großer junger Mann, dem ersten Augenschein nach 23 bis 26 Jahre alt, durchtrainierter Körper, kurze pechschwarze Haare, Dreitage-Bart, nackt bis auf eine knappe Badehose. Um den Hals hängt ein Seil mit Henkerknoten, etwas oberhalb sauber abgeschnitten. Die weiße Badehose ist blutgetränkt. Daß sie mal ganz weiß war, ist kaum noch zu sehen.

Malvoisin bemerkt Unruhe hinter sich, sieht sich um und bemerkt, daß Strandgäste immer näher kommen

„Habt Ihr schon mal ’was von Tatortsicherung gehört? Mann, Weber …” − ein Polizeihauptmeister macht sich straff −

„… haben Sie vergessen, wie man absperrt?”

„Natürlich nicht, Herr Hauptkommissar!” erwidert der Gerüffelte fast empört.

„Na − und wo ist die Absperrung? Wenn die Leute die Bänder nicht respektieren, dann verschafft dem Respekt!” Er wird lauter. „Ausführung!” und zeigt auf die Promenade und auf den Strandbereich um den Fundort herum.

Weber winkt zwei Kollegen heran, und sie machen sich zu Dritt an die Verbesserung der Absperrung. Einige frühe Gäste protestieren, da sie den Strandabschnitt verlassen sollen.

Weber ruft einem Kollegen zu:

„… und notiert die Namen und Adressen der Leute, Urlaub und zu Hause!”

„Verstanden!” kommt es zurück.

Ein älterer Herr gibt sich empört:

„Junger Mann, ich bin der Oberlandesgerichtsrat Dr. Ach …”

Weber unterbricht, gibt sich betont höflich, aber etwas spitz:

„Auch im Ruhestand, Euer Ehren, sollte Ihnen noch erinnerlich sein, daß Tatorte von Unbeteiligten zu räumen sind.”

Er macht eine zum Gehen auffordernde Handbewegung.

„Impertinent!” schimpft der Fortgewiesene.

„Komm’, Lieber …” spricht ihn seine vornehm aussehende Gattin an, „… Die jungen Leute machen doch nur ihren Dienst. Früher warst Du streng, jetzt ist man es mit Dir. Polizei ist Polizei. ”

„Nichts für ungut, Herr Hauptwachtmeister”, brummt Ach vor sich hin. Der überhört das -wacht. Aber wer zählt schon am Morgen grüne Sterne …

Weber reicht der Richtergattin galant den Arm, um beim Überstieg auf den Absatz der Promenade behilflich zu sein, nimmt auf festem Boden leicht Haltung an, legt die Hand an die Schirmmütze.

„Danke, junger Mann!” schnarrt der alte Richter und wendet sich mit seiner Frau am Arm zum Gehen. „Untergrabe nicht immer meine Autorität …“ hört Weber noch und atmet durch. Die Absperrung läuft weiter.

Ein Mann mit Brille und Arzttasche stapft auf den H 55 zu.

Malvoisin fragt etwas ungehalten:

„Ist die Spurensicherung endlich da?”

„Nein!” ruft ein Kollege.

„Verdammt, wo bleiben die denn heute?”

Malvoisin wirft einen Blick auf die Seebrücke:

„Weber! WE-BER!”

„Ja?”

„Mann, Weber, holen Sie mir die Neugierigen von der Brücke und machen Sie da dicht!”

„Jawohl, Chef!” ruft Weber zurück und rennt mit Absperrband zur Brücke. „WEBER!“

Der erneute Anruf bremst ihn in vollem Lauf und ein winkender Zeigefinger holt ihn zu Malvoisin zurück. „Die Gaffer haben vermutlich Spuren auf der Brücke hinterlassen. Personalien aufnehmen, merken Sie sich genau, was die Männer an Kleidung tragen. Bestellen Sie sie ein. Fingerabdrücke und Faserproben nehmen, am besten gleich. Ausführung.”

Hauptmeister Weber strebt nun auf die Neugierigen zu, die merken, daß sie gemeint sind und sich verdrücken wollen.

„Halt, bleiben Sie stehen.” Weber hat die Männer erreicht und setzt das dienstlichste aller Gesichter auf. „Weisen Sie sich bitte aus.” Die Männer sehen sich und dann den Polizisten fragend an.

„Wir gucken doch nur. Endlich ist schon morgens richtig ‘was los”, meint einer.

„Sie haben einen Tatort betreten und weisen sich jetzt bitte aus.”

Achselzuckend ziehen die Männer ihre Börsen aus den Gesäßtaschen und zeigen ihre Ausweise vor. Weber notiert. „Und wo wohnen Sie in Kellenhusen?”

Die Männer sagen es ihm und verstehen noch immer nicht.

„Sie kommen bitte unverzüglich mit nach Grömitz. Dort werden Ihre Fingerabdrücke und Gewebeproben Ihrer Kleidung genommen. Reine Routine.”

„Warum das denn? Glauben Sie etwa …?”

„Ich und der Hauptkommissar glauben gar nichts, aber sie haben Fingerabdrücke auf dem Brückengeländer hinterlassen, wie sicher auch die Täter. Wir müssen sicher sein, Sie ausschließen zu können.

„Wie bitte?”, protestiert einer der drei.

„Wir hatten schon den Fall, daß Täter sich dreist unsere erste Ermittlungsarbeit angesehen haben. Also, bitte, meine Herren. Den ganzen Vormittag wird es nicht dauern. Es sei denn, Sie möchten nach Lübeck mitkommen.” Weber macht eine einladende Handbewegung.

„Das haben wir jetzt von Deiner verdammten Neugier!”

„Hättest ja nicht mitzukommen brauchen”, kommt es patzig zurück.

„Also bitte, wir drehen keinen Film, das ist echt! Bitte verlassen Sie jetzt die Brücke und warten Sie hinter dem Strandcasino bei unseren Dienstfahrzeugen.”

Maulend gehen die drei Männer weg.

„Immer wenn es interessant wird, und jetzt auch noch Fingerabdrücke abgeben, verdammte Scheiße.”

„Früher schickten uns die Eltern ’raus, jetzt verscheuchen einen die …”, mault einer weiter. „Schlucks ’runter, der kann Dich noch hören. Auf B-U-L-L-E paßt sicher ‘was im Bußgeldkatalog, oder hast Du Geld zuviel?”

Eifriges, stummes Kopfschütteln.

Derweil kommt der Arzt am H 55 an.

„Moin, Malle.”

„Moin, Klinge.” Die Männer geben sich die Hand. Der gerade Eingetroffene ist der Leiter der Rechtsmedizin in Lübeck, Prof. Dr. Karl Anderson, wegen seines scharfen Berufes von einigen ganz wenigen „Klinge” genannt, von denen er sich das auch gefallen läßt. Er ist ein jovialer Herr, 60 Jahre alt, für sein Alter ungewöhnlich schlank, mit schlohweißen, vollen Haaren, mit einem schönen, weißen, kurz geschnittenen Bart und erstaunlicherweise fast schwarzen Augenbrauen, was ihm hin und wieder die schmunzelnd, hinter vorgehaltener Hand geäußerte Verdächtigung einträgt „Ob er wohl färbt?” Er weiß das, aber es stört ihn nicht, denn er weiß, daß er nicht färbt, im Gegensatz zu manchen Politikern, die auch mit über 60 und 70 Jahren angeblich schwarze Haare haben, die so gar nicht zu ihrer Parteifarbe passen. Ihm genügt es, daß seine süße kleine Frau ihn immer noch attraktiv findet. Anderson hat sich einen gelassenen Humor zugelegt, gewachsen in all den Jahren, gewachsen mit jeder Leiche. Und er findet seinen Beruf immer noch hochinteressant. Andere Menschen lesen Bücher, er liest Menschen.

„Was hast Du denn heute Schönes?” Der Rechtsmediziner sieht Malvoisin fragend an.

„Na, sieh selbst” und deutet auf den Toten.

„Oh, eine Hinrichtung!”

Hier müßten jetzt hochgezogene Augenbrauen folgen, aber die wollen nicht. Gelassenheit.

„Wieso Hinrichtung?”

„Na, Henkerknoten, oder kennst Du so etwas nicht mehr?”

„Ja, richtig.”

Malvoisin nimmt den Rembrandt ab, kratzt sich am Kopf.

„Oder hast Du gedacht, der Tote hat sich den Knoten selbst geknüpft?”

„Na, wenn er tot war, konnte er wohl kaum noch Knoten knüpfen! Sei nicht so pingelig!”

„Wenn unsereins nicht pingelig wäre, wie Du das nennst, würdet Ihr manchen Toten als natürlichen Fall bestatten!”

Anderson sieht Malvoisin nun doch mit hochgezogenen Augenbrauen über den Brillenrand schauend an, während er sich die Einweghandschuhe überstreift. Der Professor prüft mit beiden Händen den Hals.

„Genickbruch?” greift Malvoisin der Diagnose vor.

„Sicher! Wenn der Knoten richtig gesetzt wurde − knack und weg!” Anderson macht eine ruckartige Doppelhandbewegung, als würde er einen stärkeren Zweig durchbrechen wollen.

„Tatzeit?” Anderson legt für einige Sekunden seine rechte Hand auf den Oberkörper des Toten.

„Ungefähr Mitternacht, nicht später als zwei Uhr, aber Du weißt ja …”

„Ja, ja, nach der Obduktion …”

Anderson besieht sich den Oberkörper des Toten nochmals.

„Er hat Salz auf der Haut, also war er im Wasser und hat nicht mehr geduscht.”

Dann sieht er nach dem großen Blutfleck auf der weißen Badehose, die sorgfältig zugebunden ist, löst den Knoten, zieht sie leicht herunter − ein dichter schwarzer Pelz ist zu sehen. Er zuckt zusammen, dreht sich um.

Anderson wendet sich aufgerichtet an Malvoisin:

„Ich habe das mal in einem Mafiafilm gesehen, aber noch nie im Dienst. Schau Dir das an − er ist kein Mann mehr!”

„Wie bitte?”

Malvoisins Mimik zeigt Ungläubigkeit, er beugt sich zu dem Toten vor, Anderson zieht die nun schlabberige Badehose herunter − Malvoisin prallt zurück. Das Ungläubige in seiner Mimik weicht dem blanken Entsetzen.

„Mein Gott, wer macht denn so ‘was?” stößt Malvoisin hervor.

„Wenn Du mich fragst, mein Lieber, jemand der sehr haßt oder sehr liebt − und Du weißt, das liegt nicht weit auseinander!”

Der Professor zieht die Handschuhe aus. Im Hintergrund stapfen die Sargträger der Rechtsmedizin heran.

„Kann ich ihn mitnehmen?” fragt Anderson.

„Nein, noch nicht. Die Spusi war doch noch nicht hier −” Malvoisin ringt mit der Fassung.

„Weber! − WE-BER!”

Der Gerufene eilt herbei.

„Ja, Herr Hauptkommissar?”

„Mensch, rufen Sie das K6 an! Wo bleiben die denn?”

„Mach’ ich.”

Weber zieht sein Funktelephon, tippt die Nummer ein, hält sich das Gerät ans rechte Ohr, wartet.

„K6? − Weber, Einsatzort Kellenhusen. Mensch, wo bleibt Ihr denn? Malvoisin wird schon grätig! − Was, Trecker? − Dann fahrt doch ‘rum! − Ende!”

„Übrigens, er ist nicht hier gehenkt worden -”

Malvoisin ist noch etwas verwirrt: „Wie?”

„Der Strandkorb ist nicht hoch genug, um ihm das Genick zu brechen.”

„Schlaumeier, das weiß ich auch!”

„Na, ich mein’ ja nur. Ein Galgen steht hier weit und breit nicht, aber such’ doch mal die Seebrücke ab … Von den Aussichtstürmen wird ihn keiner hergeschleppt haben, hm?”

„Verstehst Du das, Klinge?” Malvoisin grübelt.

„Hals durch, Messer im Bauch, Kopfschuß, aber Hängen und … Du weißt schon … ab − wer macht denn so etwas?”

„Malle, Du wiederholst Dich! − Na ja, Fräulein Kronborg wird sich freuen. Endlich hat sie mal etwas Schönes auf dem Tisch, nicht immer nur Wasserleichen und erbbereinigte Opas, obwohl das Seil des Glockenspiels fehlt …”

„Klinge! − Dein Humor ist wie immer unübertrefflich!”

Malvoisin sieht ihn mit hochgezogener rechter Augenbraue an.

Der Professor grient, wie nur ein langgedienter Profi seines Faches in des Todes Nachbarschaft lächeln kann und geht weg.

Weber kommt heran und meldet Malvoisin:

„Herr Hauptkommissar …”

 

„Ja?”

„K6 meldet unterwegs Treckerhindernis.”

„Wie bitte?“ Er zieht eine gespielt gleichgültige Miene, innerlich ist er sauer. „Na ja, wi hebbt jo Tiet. Gott schuf die Zeit, hat der ‘was von Eile gesagt?” Weber muß grinsen.

Nun schaltet sich rauchig die Bürgermeisterin wieder ein.

„Und was wird hier jetzt weiter passieren, Herr Kommissar? Der Strandbetrieb muß weiterlaufen! Wir verlieren sonst Gäste und Kurtaxe!”

Malvoisin wird deutlich.

„Frau Bürgermeisterin, hier laufen erst einmal unsere Ermittlungen und sonst gar nichts. Es hat ein junger Mensch sein Leben verloren, und ich will zum Donnerwetter wissen, warum!”

„Aber unser guter Ruf”, protestiert sie.

„Erstens haben wir auch einen guten Ruf zu verlieren, oder wollen Sie, daß die Tat nur deshalb nicht aufgeklärt wird, weil wir zu früh Ihre Gäste hier herumlaufen lassen und wertvolle Spuren vernichtet werden? Und zweitens ist das hier ein Tatort und Sie stehen im Weg. Also bitte!” Malvoisin macht eine verabschiedende Handbewegung mit Aufforderung zum Gehen.

„Impertinent!”

Die Bürgermeisterin stapft mit zorniger Miene davon.

„Oh, diese Verwaltungsleute”, murmelt Malvoisin leise und schüttelt den Kopf.

Malvoisin wendet sich zunächst an die junge Kriminalbeamtin.

„Sie können gehen, Frau Kollegin, ich übernehme jetzt hier.”

Die Angesprochene steht vom Strandkorb auf und entfernt sich. Malvoisin spricht betont leise die schwarzhaarige Schöne im H 76 an.

„Mein Name ist Malvoisin, Kripo Lübeck. Ich leite hier die Ermittlungen. Darf ich fragen, wie Sie heißen?”

Sie schaut hoch, sieht ihn verweint, aber gefaßt an:

„Nicole. Nicole Neumayer.”

„Sind Sie im Urlaub hier?”

„Ja, wir haben Semesterferien.”

„Oh, Sie studieren?”

„Ja, Kunstgeschichte und Französisch.”

„Wo?”

„In Tübingen.”

„Ah, aus dem Ländle, hört man aber gar nicht …”

„Nein, ich bin aus Essen. Meine Eltern leben noch dort. Sie kommen bald her.”

„Sie haben hier eine Ferienwohnung?”

„Ja, im Haus Lehmann”

„Ah, bei Mama Lehmann.”

„Sie kennen sie?”

„Oh ja. Bitte gehen Sie jetzt, ruhen Sie sich aus, halten sich aber zu unserer Verfügung.”

Malvoisin wendet sich ihr im Weggehen nochmals zu.

„Wie lange haben Sie den Korb H 55 schon?”

Nicole steht auf.

„Eine Woche.”

„Haben Sie den Toten schon vorher gesehen, ich meine, als er noch lebte?”

Malvoisin sieht sie forschend an.

„Oh ja, er gehört zu den Rettungsschwimmern. So wie der sich vor der Rettungsstation immer aufbaute war er nicht zu übersehen. Na ja,” − sie schaut traurig − „ein Angeber, aber ein schöner Typ war er schon, irgendwie. Ist ja auch groß, äh, war …”

Sie schnieft.

„Dankeschön. Wir kommen auf Sie zu. Übrigens, wie lange bleiben Sie noch?”

„Drei Wochen.”

Nicole verschränkt die Arme und will weggehen.

„Fritz! FRITZ!”

Malvoisin sieht sich nach seinem Assistenten um. Er spricht Nicole nochmals an.

„Ich danke Ihnen für Ihre Auskunft. Sollte Ihnen doch noch etwas einfallen, hier haben Sie meine Karte. Bitte melden Sie sich gleich. Auch Kleinigkeiten sind wichtig.”

Nicole nimmt wortlos die Karte, steckt sie ein und entfernt sich.

Langeland dreht sich in die Richtung des Rufes. „Komme!” Er stapft auf seinen Chef zu. „Der Gast da hinten …“ Malvoisin folgt der angedeuteten Blicklinie Langelands Kopfdeuten. „… ist gestern abend noch am Strand spazieren gegangen, hat aber nichts gesehen, was uns weiterhelfen könnte. Aber …?”.

Langeland sieht Malvoisin fragend an.

„Fritz. Ruf’ mal die Schiffsdienste in Timmendorfer Strand an, daß sie heute vormittag hier nicht anlegen können. Die Brücke bleibt dicht.”

Langeland verzieht sein Gesicht.

„Na, das Gemaule wegen des entgangenen Umsatzes hör’ ich schon.”

„Mach’s einfach.”

Langeland zückt sein Handy.

Inzwischen „eilt” die Spurensicherung herbei. Malvoisin entdeckt sie und geht gleich den ersten Kollegen an.

„Moin Hans. Mensch, wo bleibt Ihr denn? Das ist hier doch nicht Brigadoon, das auf keiner Karte verzeichnet ist!”

„Das mag ja sein, aber wir hatten drei Trecker vor uns und immer Gegenverkehr.”

„Hat man Euch das Blaulicht weggenommen?”

„Hast Du vergessen, wo wir hier sind?”

Hans Nielsen sieht ihn grinsend an.

„Vertell mol de Buern wat ‘ne Einsatzsirene is! Und wenn ich dem zugerufen hätte, wir müßten zu einem Tötungsdelikt, da sagt der glatt zurück: ‚Man jümmers sinnig, de is doch al dood, de hett nix mehr to vertellen’ und dann tuckert der gemütlich weiter. In Lübeck kannst de Lüüd mit Blaulicht beeindrucken, aber hier doch nich‘. Man jümmers suutje un damit is allens seggt.”

Jetzt kann selbst Malvoisin sich ein Grienen nicht verkneifen und sagt bloß noch schulterklopfend: „Nu mook mol Dien Kram.”

Malvoisin läßt die Spurensicherung ihre Arbeit machen und stapft zum Strandkorbhäuschen der Frau Horch. Sie steht bereits aufgeregt an der Sperre, neben ihr ihr Lebenspartner, der pensionierte Kriminalrat von Greiff.

„Herr von Malvoisin, was ist denn nun los hier? Stimmt das mit dem Toten? Mein Mann sagte mir gerade, wir müßten mit bis zu sechs Stunden Sperre rechnen. Kommt das wohl hin?”

Marga Horch bleibt auch angesichts der ungewöhnlichen und aufregenden Situation bei ihrer ruhigen und liebenswürdigen Art, die ihre Gäste so sehr an ihr schätzen. Nur ihr Gesicht weiß nicht so recht, ob es nun blaß oder von rötlich frischer Farbe sein soll. So wechselt es sie hin und her.

„Moin, moin, liebe Frau Horch.”

Malvoisin bleibt vor ihr stehen.

„Es ist leider so. In Ihrem Korb 55 befindet sich die Leiche eines jungen Mannes … Moment.” Er unterbricht sich selbst.

„Weber! WE-BER!”

Augenblicke später.

„Herr Hauptkommissar …”

„Hier haben Sie mein Handy. Bild vom Toten, dann wieder zu mir. Hier draufdrücken.“

„Für wie dämlich hält er mich! Jawohl, Herr Hauptkommissar! Bild vom Toten.“

Weber stapft zum H 55 und verdreht die Augen.

Malvoisin wendet sich Horch und Greiff zu.

„In diesen unmittelbaren Abschnitt des Strandes einschließlich der Brücke können Ihre und dritte Gäste bis zum Ende der Spusi-Arbeit nicht. Es geht nicht anders.“

„Sie werden sicher den Strandkorb mitnehmen müssen, Herr Kollege.“

„Oh ja, das müssen wir, Herr Kriminalrat. Selten können wir einen Tatort abtransportieren, aber hier können und müssen wir. Sie bekommen ihn so bald als möglich zurück.“

„Dürfen wir die Lücke mit einem Reservekorb auffüllen?“, fragt Frau Horch, besorgt über den möglichen Verdienstausfall. Dreißig €uro die Woche oder acht €uro Tageskorb − das ist auch Geld.

„Aber selbstverständlich“, beeilt sich Malvoisin, sie zu beruhigen. „Sobald die Spusi ihre Arbeit beendet hat, der Sand durchgesiebt ist und wir abgezogen sind, steht dem nichts im Wege.“

Horch und Greiff verständigen sich wortlos mit Blicken. Der Mann hat seinen Auftrag.

„Herr Hauptkommissar. Bitte, Ihr Handy mit Bildern des Toten.“

Hauptmeister Weber reicht Malvoisin das photographierende Telephon. Der hält es Horch und Greiff hin.

„Kennen Sie den jungen Mann?“

Das Vermieterehepaar betrachtet das Bild im Anzeigenfeld genau.

„Tjoo“, setzt Frau Horch an. „Das ist doch einer der Rettungsschwimmer. Der zog alle Blicke auf sich, über ein Meter neunzig groß. Weißt Du nicht, wie er heißt?“ Marga Horch sieht ihren Mann an.

„Jo, doch. Den hat hier mal jemand ‚Malte‘ gerufen, aber weiter weiß ich auch nicht.“

Malvoisin ist zufrieden.

„Danke. Sie haben uns schon sehr geholfen. Ich muß dann mal.“

Malvoisin setzt seinen Rembrandt auf, verneigt sich kurz.

„Denn tschüs zusammen, Und falls Ihnen zu dem Toten etwas einfällt …“

Greiff macht stumm das Handzeichen des Telephonierens.

„Danke. Wir sehen uns.“

„Und viel Erfolg“, lächelt Frau Horch Malvoisin an.

„Tja, mal sehn.“

Malvoisin wendet sich ab und kehrt zum H 55 zurück.

„Nee, is dat nich allens gresig“, hört er sie noch murmeln. Er sagt nichts, er sagt nie viel, ist in Gedanken schon auf dem Weg zum Strandkorblager.