Mannesstolz

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„Hans, was habt Ihr?”

„Eine Reihe Fingerabdrücke, wenig frisches. Abgeriebene Sonnencreme, ein paar schwarze Haare in der Korbritze. Und auf den ersten Blick hat der Tote Salz auf der Haut …”

„Das sagte Klinge schon, und die schwarzen Haare sind entweder vom Toten …”

„Es sind lange Haare.”

„… dann sind sie sehr wahrscheinlich von der Korbmieterin.” Malvoisin sieht sich um. „Kann Anderson den Toten jetzt mitnehmen?”

„Photos haben wir, sonst auch alles. Übrigens, neben der Brücke muß einer sein Brett vor dem Kopf verloren haben. Erste Kollegenbefragungen haben nichts ergeben. Keiner vermißt eines.” Er grinst schelmisch. Malvoisins rechte Augenbraue fährt hoch. Ihm ist gerade nicht nach Witzen. Nielsen räuspert sich. „Wir nehmen es mal mit. Man könnte es für eine Planke halten, doch es ist nicht glatt. Aber ab dafür. Das Sandaussieben dauert noch ‘n Weilchen. Bringt vermutlich nur jede Menge alter Kippen, die die Schweinigels einfach in den Sand stecken. Methode ‚Wozu ‘nen kleinen Aschbecher festhalten, wenn ich für den großen Kurtaxe zahle‘.” Malvoisin sieht sich um und entdeckt, was er sucht.

„Hans, die Korbmieterin steht da hinten am Strandkaufhaus. Nicole Neumayer heißt sie. Lauf man fix hin und laß Dir ‘ne Haarprobe geben; dann könnt Ihr sofort vergleichen.”

Hans Nielsen rennt gleich los. Er erwischt die junge Frau noch. Sie sieht ihn erst überrascht an, zupft sich dann aber doch gleich Haare aus und läßt sie in die ihr hingehaltene Plastiktüte gleiten. Nielsen bedankt sich, Nicole verschränkt die Arme und geht mit gesenktem Kopf über den Vorplatz am Seemannsdenkmal vorbei zur Strandstraße. Sie will nur noch ins Bett und heulen.

An ihr vorbei strömen die Badegäste, ein paar Senioren Arm in Arm, junge Eltern mit quicklebendigen Kindern, schöne Mädchen, hübsche Burschen, einige viel zu dicke Teenager. Sie hat für niemanden einen Blick übrig. Neben dem Strandkaufhaus baut die Obstverkäuferin ihren Stand auf. Sie hat schon gehört, was passiert ist. „Wird der wieder lebendig, wenn ich mich jetzt aufrege”, denkt sie bei sich. „Der kauft mein Obst nicht mehr und die 20 Neugeborenen von Hamburg heute morgen auch nicht, aber die Gäste, die heute zum Strand kommen. Also bau ich mein gutes Obst auf − fertig.” Gemütsruhe ist etwas Wunderbares.

Der Tote wird in den Sarg gelegt. Der wird geschlossen und weggetragen.

Professor Anderson sieht dem Abtransport kurz hinterher und wendet sich Malvoisin zu.

„Du hast meinen Bericht heute abend, bekommst eine schöne Bettlektüre.”

„Hau schon ab!”

Malvoisin spricht seinen stumm das Geschehen beobachtenden Kollegen Hauke Tewes an.

„Kommst Du, Mokwi? DLRG.“

„Jou.“

Malvoisin und sein schweigsamer Kollege stapfen im Sand auf die Promenade zu und wenden sich dort in Richtung der DLRG-Station. Die Spusi-Leute betreten gerade die Seebrücke und suchen auf beiden Seiten die Geländer ab.

*

„Was ist denn da los?“

„Haben Sie schon gehört was da passiert ist?

„Einen Toten soll es gegeben haben!“

Einige Leute sind stehengeblieben und beobachten jenseits der inzwischen funktionierenden Sperre, was am sonst so beschaulichen Strand los ist. Es kommen erste Gäste, um sich über die Absperrung zu beschweren, aber sie müssen wieder gehen. Drei Kinder nörgeln:

„Mami, warum dürfen wir nicht an den Strand?”

„Keine Ahnung. − Frau Horch, was ist denn hier los?”

„Frau Hansen, wir haben einen Toten …”

„Bitte was? Um Gottes Willen, was ist denn passiert?”

Herr von Greiff übernimmt.

„Kommen Sie bitte gegen Mittag wieder, dann ist der Strand sicher wieder frei”, und sieht sie freundlich an.

„Kommt Kinder, wir gehen zum Waldspielplatz” und zu Horch und Greiff gewandt, „… und den halben Tag bekommen wir doch erstattet, nicht wahr?”

Herr von Greiff macht gute Miene zum bösen Spiel. „Selbstverständlich, Frau Hansen, immer Dienst am Gast!”

„Na, wenn das so ist, sehr freundlich”, und schiebt damit ihre Kinder in Richtung Strandcasino und Ausgang.

„Hört von einem Toten und denkt nur ans Geld.” Greiff schüttelt verständnislos den Kopf.

Ein die Szene beobachtender Mann meint trocken zu seiner Frau:

„Na Liebling, dann machen wir heute unseren Ausflug nach Fehmarn.”

Horch und Greiff verschwinden kopfschüttelnd im Strandkorbhäuschen.

*

Malvoisin, begleitet von seinem Assistenten Hauke Tewes, genannt Mokwi, der zu ihm aufgeschlossen hat, nähert sich der DLRG-Station. Es ist baulich eine optische Beleidigung.

Malvoisin kannte die wunderbar altmodische Lesehalle seit seiner Kindheit. Auf dem Platz vor ihr fanden früher die sommerlichen Platzkonzerte statt. Wie oft war er mit anderen Kindern dem Blasorchester zur Waldstraße entgegengelaufen und hatte den Musikern in ihren marineähnlichen, blauen Jacken mit goldenen Knöpfen und den weißen Mützen bis zur Promenade Marschgeleit gegeben. Die Einheimischen waren dagegen, aber ein traditionsloser Bürgermeister ließ den hübschen Bau in einer Nacht- und Nebelaktion abreißen. Malvoisin konnte sich damit nie abfinden. Aber es war ja auch das schöne alte Hotel zur Post am Ring beseitigt und gegen belanglose Architektur ausgetauscht worden. Die alte Schule, die Heimatmuseum werden sollte, verschwand über Nacht. Gewachsene Geschichte wird gegen geltungssüchtige Bürgermeister immer verlieren. Daß künftige Generationen damit bestohlen werden − wer fragt danach. An dem Betonmonster hochschauend murmelt vor sich hin:

„Der Kasten wird auch nicht mehr schöner… dat süht ut as hinscheten.”

Vor dem Bau steht ein etwa 45jähriger Mann mit roter DLRG-Kleidung und Fernglas in der Hand.

Malvoisin und Tewes grüßen knapp.

„Moin! − Moin.”

Der DLRG-Mann sieht sie kaum an.

„Moin!”

„Wir suchen den Chef der Mannschaft …”

Der DLRG-Mann sieht Malvoisin und Tewes prüfend an.

„Sie haben ihn gefunden.”

Malvoisin zückt seinen Ausweis.

„Kripo Lübeck, Malvoisin. Das ist mein Kollege Tewes. Können wir hineingehen?”

Der DLRG-Mann ruft hinter sich.

„Hannes, komm’ ‘raus und übernimm die Aufsicht!”

Ein etwa 22jähriger tritt heraus, der Stationsleiter hält Malvoisin die Tür auf.

„Nach Ihnen.”

Alle drei gehen hinein. Im Büro des Leiters nehmen sie Platz. Malvoisin legt vorher seinen Rembrandt auf einen freien Stuhl. Der DLRG-Leiter sieht Malvoisin erwartungsvoll an und wirft einen neugierigen Blick auf den Rembrandt. „Was ist das denn für ein Hut? Seltsames Teil.” Malvoisin unterbricht Kallweits Hutgedanken, legt gleich los.

„Sie heißen bitte?”

„Kallweit, Harm Kallweit.”

„Oh, ostpreußische Familie?”

„Sie kennen sich aus?”

„Sind selber aus der kalten Heimat …”

„… aber der französische Name Mal…”

Malvoisin betont, besonders die nasale letzte Silbe: „Mal - vua - sän, Hugenotten, Sie wissen?”

„Wir hatten mal einen Kapitän zur See als Nachbarn, der hieß de la Sauce, war aber ein Ur-Berliner −”, er unterbricht sich selbst, „… aber Sie sind sicher nicht wegen Fragen der Namenskunde hier?” Kallweit sieht Malvoisin fragend an.

„Nein, allerdings nicht.” Malvoisin wird ernst. „Es ist heute im Strandabschnitt der Frau Horch, Sie wissen, rechts von der Seebrücke, wenn man Richtung Wasser sieht …”

„Sicher weiß ich, wo das ist …”

„Also, es ist dort heute morgen ein junger Mann in einem Strandkorb gefunden worden. Sicher über ein Meter neunzig groß, sehr gut trainiert, schwarze Haare, Dreitagebart, weiße Badehose. Kennen Sie den?”

„Das hört sich nach unserem Malte Kröger an, allerdings hat er keine weiße Badehose − was ist mit ihm? Hat er zu toll gefeiert?”

Tewes macht sich Notizen.

„Wenn es das mal nur wäre. Er ist tot.”

Kallweit reagiert ungläubig.

„Bitte keine schlechten Scherze, Malte war kerngesund und durchtrainiert …” Er runzelt die Stirn.

„Er wurde ganz ohne Zweifel getötet.”

Kallweit springt auf und schreit.

„Ermordet? Was? Wer ermordet denn einen von meinen Männern?”

„Bitte nicht so laut. − Das herauszufinden sind wir hier.”

Kallweit setzt sich wieder, ist sichtlich fassungslos. „Das gibt es doch gar nicht! Er war sehr selbstbewußt, vielleicht auch ein Angeber, wie halt die jungen Böcke so sind, ein Weiberheld, aber deswegen ermordet …?”

„Sie glauben gar nicht, welch nichtige Anlässe schon einen Menschen das Leben gekostet haben.” Malvoisin sieht Kallweit forschend an. „Aber Sie sagen, er war ein Weiberheld; hatte er eine feste Freundin?”

Kallweits Fassungslosigkeit verschwindet hinter einem breiten Grinsen.

„Eine? Da konnte man schon den Überblick verlieren, aber ich glaube nicht, daß eine dabei war, die ihm die Wäsche gewaschen hätte, meist kurze Bekanntschaften von Mädels, die hier Urlaub machten.”

„Wie lange kommt, äh, kam Kröger als Rettungsschwimmer?”

„Drei Jahre.” Kallweit überlegt. „Ja, drei Jahre müssen das jetzt sein.“

„Was machte er sonst? Beruf oder Studium?”

„Malte war Leutnant zur See, jetzt der Reserve, vorher Z 4. Kam aus einer Marinefamilie …”

„Ach ja? Wo leben seine Eltern?”

„Zur Zeit ist der Vater Kommandeur der Marineunteroffizierschule in Plön, Kapitän zur See…”

Tewes geht dazwischen: „Den kennt wi.”

Malvoisin sieht ihn überrascht an.

„Hest dat vergeten? Dat is de Kaptein ut W’haven west, de een Mord op siene Fregatte hadd hett. Fief Johr is dat her, in Travemünde, as de Marine op Besoek west is. De seute Deern, de op Maat mookt hett.”

 

Tewes macht die eindeutige Handbewegung des Kragenumdrehens. Malvoisins Miene und Kopfnicken zeigen, daß er sich erinnert.

Sein Kollege hat mit diesen Ausführungen schon eine Volksrede gehalten. Der 50jährige Tewes ist von der schweigsamen Sorte. Wie groß sein Wortschatz ist, das behält er eisern für sich. Er ist glatt rasiert, hat kurzgeschnittene, dunkelblonde, glatte Haare, die an der Stirn schon im Rückzug begriffen sind. Das komme vom vielen Nachdenken, wird er manchmal vorsichtig angefrotzelt. Knapp 1,80 m groß ist er, so ganz genau weiß er das selbst nicht, trotz amtlicher Eintragung in seinem Ausweis. Es ist ihm obendrein egal. Sein Körper ist durchtrainiert, 82 kg schwer, aber dennoch mit einem leichten Bauchansatz verziert, der, wie mal seinen seltenen Ausführungen zu entnehmen war, eben zu einem Mann seines Alters gehört. Bugzier müsse sein, Bauch dürfe man ruhig sehen, alles andere sei ja nur ein Plättbrett. Woran sollte sich seine Frau denn festhalten, wenn sie kuscheln wollte? In ein Loch fassen? Das war nichts für Tewes, der wegen seiner Standardantwort auf Anweisungen, „Mook wi”, von fast allen im K1 offen, von anderen besser nur dann “Mokwi” genannt wird, wenn er es nicht hört, „sünst ward he füünsch”.

„Füünsch” sieht bei ihm dann so aus, daß er mehr als zwei bis drei Sätze sagt und dem Gefüünschten mindestens ein Jahr keinen Kööm mehr anbietet. Er denkt viel nach und wenn er es für richtig hält, teilt er die Ergebnisse auch mit. Sonst nicht. Mit „Flipcharts” und übertechnisiertem Schnickschnack kann er nicht viel anfangen. Warum all diese Anglo-Amerikanismen? Englisch ist zwar für ihn auch nur ein weiterentwickelter deutscher, genauer gesagt plattdeutscher Dialekt, aber „Dat is hier Düütschland, keen Kolonie vun de Plum-Pudding-Lüüd”, sagt er immer, wenn er dazu mal etwas sagt. Dies ach so moderne “Ich-bin-ja-so-gebildet”-Geschwafel kann er nicht ausstehen, das ist für ihn alles Tüünkram. Und warum große Papierfahnen verschwenden, wenn man etwas an der Tafel mit Kreide aufschreiben und wieder abwischen kann? Tewes hat das Schreiben noch mit einem Griffel auf einer kleinen Schiefertafel gelernt, Schreiblinien auf der einen, die Rechenkästchen auf der anderen Seite, angebunden ein Schwämmchen, das ihm die Mutter vor dem Schulgang naß machte und in den Schultornister steckte, das Pausenbrot in fettsicherem Butterpapier und einen Apfel dazulegte, und ihn mit einem Kuß auf die Stirn auf den Weg schickte. Ermittlungsergebnisse besieht er sich an der „Tafel”, wie er immer noch sagt. Und dann denkt er nach.

Eine Seele von Mensch ist er zu Hause. Seine hübsche, fleißige Frau ist ihm die genau richtige Gefährtin. Zuviel sabbelnde Männer mag sie nicht, für den Tratsch ist sie zuständig. Sie weiß alles aus dem Dorf. Tewes nennt sie seine küssende Datenbank. Seine seute Deern ist ihm alles. Nein, nicht so ganz. Die beiden haben nämlich den Kampf gegen den Bevölkerungsschwund bislang erfolgreich aufgenommen. „Suus Kinners hebbt wi”, womit das Ehepaar Tewes immer wieder Erstaunen auslöst, wenn sie es mal jemandem sagen, der das noch nicht weiß, „un Nummer söben hebbt wi jüst mookt” kommt neuerdings als Zusatzinformation. Kein Mensch kann sich erklären, woher Tewes das Temperament dafür aufgebracht hat, aber irgendwie muß es ja geklappt haben. Die Jungs haben seine Züge, die Mädchen ihre, so wie sich das gehört. Das heißt, ein Junge, der Erstgeborene, hat eher etwas von seiner Mutter, das hübsche Lachen und das Plappermaul, aber die Kraft des Vaters wird er haben, das zeigt sich jetzt schon. De groote Lütte ist gerade mal 14, aber bei seinem Thorbjörn würde das nicht mehr lange dauern, so wie der jetzt schon Holz hackt; stolz, mit nacktem Oberkörper, damit man seine wachsenden Muskeln und den rinnenden Schweiß auch ja sehen kann. Dabei sieht Hauke Tewes seinem Sohn gern zu und raucht gemütlich seine Pfeife. Thorbjörns Augen glänzen, wenn der Blick seines Vaters anerkennend auf ihm ruht, und wenn die Mädchen aus der Nachbarschaft vorbeikommen und kichernd zu tuscheln beginnen, wenn sie seine beginnende „männliche Schönheit” betrachten, na, dann legt der Junge eine Axt drauf und spaltet die Stammstücke noch schneller. De Deerns schall rohig weten wat för’n statschen Kerl he is. Und sein Vater hat bannig viel Kraft, dem muß er nacheifern. Schweigsamkeit heißt ja nicht gleich Muskelschwund. Beim Spielen mit seinen Lütten ist Hauke Tewes die liebevolle Geduld in Reinkultur. Da blüht er auf, kugelt sich am Boden herum und lacht. Und wie er lachen kann, wenn er lacht. Dabei muß er schon nichts reden. Im Dienst wird er fürs Lachen nicht bezahlt. Thema beendet.

Kallweit fährt fort: „Richtig. Mein Bruder und er sind Crewkameraden. Ging ja durch alle Medien. Großvater war übrigens ein hohes Tier, Vizeadmiral, Befehlshaber Ostseezugänge, ist aber vor zwei Jahren gestorben. Die Mutter ist Lehrerin. Nach dem Ende seiner Verpflichtung hat er in Kiel Politikwissenschaften und Geschichte studiert. Wollte in zwei Jahren fertig sein, dann zu seinem Onkel nach Berlin, der ist MdB, nebenher seinen Doktor machen und dann ganz in die Politik.”

„Sie sind aber gut informiert.”

„Auch Männer unterhalten sich hin und wieder.”

Tewes brummt leise vor sich hin.

„Un snackt to veel.”

Kallweit hat Tewes’ Gebrummel akustisch nicht verstanden.

„Bitte?”

„Nix.”

Malvoisin fährt fort. „Der Tote hat am rechten Ringfinger einen weißen Ringschatten, nur der Ring fehlte. Wissen Sie etwas davon? Verheiratet war er ja wohl nicht.”

„Oh, sein Seepferdring ist weg?“

„Seepferdring?”

„Ach, das ist ein Erkennungszeichen; die Seepferde sind so eine Art Jungmännerbund. Wir haben noch vier davon hier, allesamt Reserveseeoffiziere aus einer Crew.”

„Wo sind sie?”

„Zwei wohnen hier, einer hat sich eine Wohnung in Grönwohldshorst genommen, der andere hier nahe beim Wald, müßten eigentlich gleich kommen.”

„Könnten Sie die beiden hier im Quartier herunterholen?”

Kallweit geht zur Tür und ruft hinauf: „Jens! − Timo! Kommt mal ‘runter in mein Büro!” Er setzt sich wieder. „Ich kann es noch gar nicht fassen − Malte tot. Wie denn, ich meine, wie hat man ihn umgebracht?”

„Er wurde gehenkt und dann noch …”

„Gehenkt? Wie das denn …?”

„Na, Strick, Sie wissen doch …”, setzt Malvoisin zu einer eher ironisch gemeinten Erklärung an.

In dem Augenblick kommen zwei großgewachsene, braungebrannte junge Männer herein. Malvoisins erster Blick schätzt beide auf mindestens 1,85 m. Kallweit stellt den nur in Badehose gekleideten als Timo Claasen vor, den in Badehose und offenem kurzärmeligen Hemd als Jens Jensen. Beide haben dunkelbraune, kurzgeschorene Haare, Jens trägt einen Schnurrbart, eher ungewöhnlich für einen jungen Mann seines Alters.

Jens und Timo rufen fast gleichzeitig: „Moin, Harm!”

Timo mault.

„Was holst Du uns denn schon ‘runter, was ist denn los?”

Ihr Chef antwortet ernst.

„Jungs, es ist etwas passiert, etwas sehr schlimmes …”

Beide sehen ihn fragend an.

„Malte ist tot.”

Jens und Timo lachen laut los, wenden sich einander zu und geben sich „die Fünf”.

Jens verschluckt sich fast vor Lachen.

„Hat ihn endlich ein Frauenzimmer geschafft − Mann, was für ein geiler Tod!”

Er stützt sich lachend mit beiden Händen auf seine Knie.

Timo muß husten.

„Wo … wo ist er denn, auf welchem Lager hat es ihn denn dahingerafft? Den wecken wir schon wieder auf!”

Beide Rettungsschwimmer zeigen lachend ihre weißen Zähne.

Kallweit wird unwirsch.

„Hört auf! Malte ist umgebracht worden und …” − er deutet auf die sich erhebenden Männer − “… das sind die Kriminalbeamten, die den Fall untersuchen, Herr von Malvoisin − und das ist sein Kollege Tewes.”

Jens und Timo schauen plötzlich sehr ernst.

Jens faßt sich an den Kopf.

„Malte tot − umgebracht − wann denn, wo?”

Malvoisin nimmt die beiden jungen Männer scharf ins Auge.

„Heute nacht zwischen Mitternacht und zwei Uhr. Wo waren Sie da, meine Herren?”

Jens und Timo sehen sich an und wenden sich dann wieder Malvoisin zu.

Jens gibt sich entrüstet.

„Verdächtigen Sie etwa uns?”

„Beantworten Sie meine Frage!”

Timo gibt sich lässig.

„Wir waren beide ungefähr … “

Malvoisin unterbricht ihn.

„Nicht ungefähr, genau!”

Timo sieht Jens kurz an, wendet sich dann zurück. „Wir waren 23.20 Uhr hier, haben noch ein kleines Bier getrunken und sind dann zu Bett.”

Malvoisin sieht beide jungen Männer an.

„Haben Sie Zeugen dafür?”

Jens übernimmt.

„Nur uns selbst. Wir waren in Grömitz mit zwei Mädels unterwegs, konnten für die Nacht aber nicht bei ihnen landen und sind zurück. Harm hat bereits geschlafen.”

Kallweit bestätigt es sofort.

„Das ist richtig. Ich habe mich schon gegen ½ 11 hingelegt und war gleich weg. Habe die Jungs nicht mehr gehört.”

„Wissen Sie, wie die Mädchen heißen?”

Timo beeilt sich. Auskunft zu geben.

„Lisa und Hanna, wie weiter wissen wir nicht, aber sie wohnen im Roten Langhaus. Bleiben noch eine Woche, glaube ich. Haben ihren Strandkorb direkt an der Seebrücke.”

Malvoisin wendet sich Tewes zu.

„Du fährst mit Fritz nach Grömitz und schaust Dir die beiden Mädchen an …”

„Jou, Deerns ankieken, mook wi!” Er will gehen.

„Hiergeblieben. Wir müssen uns erst Malte Krögers Quartier ansehen.”

Er wendet sich Kallweit zu.

„Wo finden wir seine Unterkunft?”

„Hier in der Station.” Er steht auf. „Wenn ich vorgehen darf?”

„Wir bitten darum.”

Tewes und Malvoisin gehen Kallweit hinterher.

Timo und Jens bleiben zurück, sehen sich ernst an.

*

Kallweit, Malvoisin und Tewes betreten Krögers Unterkunft.

Es ist ein kleines Zimmer mit spärlicher Einrichtung. Etagenbett, Tisch, zwei Stühle, zwei Schränke. An den Wänden hängt die unvermeidliche Galerie nackter Mädchen. Auf dem Tisch liegen ein Männermagazin und ein Päckchen Spielkarten, daneben steht ein lederner Würfelbecher.

Malvoisin sieht sich um.

„Na ja, die übliche Jungmännerbude.” Dann sieht er Kallweit an. „Mit wem teilte er sich das hier?”

„Mit unserem Andreas.” Kallweit ergänzt auf Malvoisins fragende Mimik hin: „Andreas Asmussen.”

„Wo ist dieser Asmussen?”

„Hat Dienst auf dem Hochsitz. Heute abend finden Sie ihn bestimmt beim Beachvolleyball am anderen Ende des Strandes Richtung Grömitz.”

„Das obere Bett ist unberührt; hat Kröger oben geschlafen?”

„Ja, er wollte sich beim Aufstehen nicht den Kopf stoßen, und Asmussen ist nicht so groß.”

„Verstehe.” Er wendet sich Tewes zu. „Wir gehen erst mal. Du hast in Grömitz zu tun, ich muß nach Plön, es dem Vater beibringen.”

Malvoisin rüttelt an Krögers Schrank.

„Hm, verschlossen. Haben Sie einen Zweitschlüssel?”

„So weit ich weiß, nicht.”

„Auch gut. Wir besorgen uns die Durchsuchung und kommen wieder. Asmussen kann vorerst hier nicht wieder ‘rein, notfalls muß er anderswo nächtigen. Kann man das Zimmer abschließen?”

„Schlüssel steckt von innen.”

„Ah, ich sehe.”

Malvoisin tritt an die Tür, zieht den Schlüssel, geht hinaus, Tewes und Kallweit folgen ihm.

Malvoisin schließt von außen ab, steckt den Schlüssel ein.

„Mokwi, Abfahrt!”

Malvoisin macht eine hinausschickende Kopfbewegung. Tewes geht.

„Herr Kallweit, ich danke Ihnen erst einmal für Ihre Auskünfte. Halten Sie sich bitte zur Verfügung. Sollten Sie sich aus Kellenhusen − wo wohnen Sie?”

„Hier am Ort, in der Waldstraße, im alten Zollhaus.”

„Gut. Falls Sie sich länger als zum Einkaufen aus dem Ort entfernen wollen, sagen Sie bitte vorher Bescheid. Hier haben Sie meine Kontaktdaten.” Er reicht ihm seine Visitenkarte. „Und jetzt geben Sie mir bitte eine Vertretung für Ihren Herrn Asmussen mit, den jungen Mann muß ich jetzt von seinem Hochsitz herunterholen.”

Kallweit sieht Malvoisin mit Mißbilligung an, aber er fügt sich und geht in einen Nebenraum.

„Inga, kommst Du mal eben.”

„Wat is’, Harm? Ich sitze gerade über dem Monatsbericht.”

Sie sieht Kallweit fragend an, an ihm vorbei zu Malvoisin, dann wieder zu Kallweit.

 

„Inga, das ist Hauptkommissar von Malvoisin von der Kripo Lübeck. Er hat die Leitung bei der Untersuchung zu …” Kallweit senkt den Kopf, weiß nicht weiter.

Malvoisin greift ein. Inga ist inzwischen aufgestanden.

„Es ist heute morgen Ihr Kollege Malte Kröger tot hier am Strand …” Weiter kommt er nicht. Inga schlägt die Hände vors Gesicht, stößt hinter ihren Händen, so daß es gedämpft klingt, „Malte? Tot?” hervor.

„Ja, es ist so, leider.”

Kallweit tritt auf sie zu und nimmt sie in die Arme. Die junge Frau, fast noch ein Mädchen, nimmt die Hände herunter, birgt ihren Kopf an Kallweits Schulter. Malvoisin fällt auf, daß sie nicht weint. „Warum weint sie nicht? Die Weiber brechen doch sonst wegen der kleinsten Kleinigkeit in Tränen aus!”

Inga löst sich. Malvoisin betrachtet sie. Die Rettungsschwimmerin ist nach seiner Schätzung etwa 21, 22 Jahre alt, höchstens 23, hat hellbraune, gelockte, schulterlange Haare, ist etwa 1,72 m groß, wie er schätzt, hat eine schlanke, aber gut trainierte Figur, maximal 55, 56 kg, ein wenig V-Kreuz, wie sich das auch bei Schwimmerinnen nach häufigen Training bildet, und sie ist bildhübsch − mit grünen Augen. So hübsch, daß sie unter den jungen Burschen sicher für viel Unruhe sorgt. Und diese grünen Augen! Nach seinem ersten Eindruck könnte sie ohne weiteres in das Beuteschema des Malte Kröger passen, so wie er ihm bislang beschrieben wurde.

„War’s das?”

Es klingt fast kalt, wie Inga die Frage an Kallweit stellt. Malvoisins Autorität scheint sie innerhalb des Dienstgebäudes nicht zu interessieren.

„Sie fragt gar nicht wo und wann und wie es passiert ist. − Und ihre Augen haben etwas Trauriges. Sie hat bestimmt keinen Freund. Wäre sie verliebt, würden ihre Augen leuchten.”

Malvoisin erinnert sich sehr genau an die glänzenden Augen seiner Maren, als sie ihr erstes Liebesfeuer durchlebten − und an ihr Leuchten bei jeder Auffrischung. Nein, dieses Mädchen ist keinem geliebten Mann zugetan.

„Nein, geh’ bitte mit dem Herrn Kommissar zum Hochsitz und löse Andreas ab. Er hat einige Fragen zu beantworten.”

„Okay.”

Inga, die einen roten Dienstbadeanzug trägt, geht flugs zurück in den Nebenraum, holt sich eine rote Jacke, streift sie über und kommandiert: „Gehen wir.”

Kallweit und Malvoisin sehen sich an und Malvoisin wiederholt: „Gehen wir.”

*

Vor dem DLRG-Gebäude flanieren viele Urlauber in beiden Richtungen hin und her. Kinder betteln um Eis oder „Mami, krieg’ ich was Süßes? Der Bonbonladen is’ doch gleich da vorn.” „Du hattest gestern schon eine ganze Tüte Weingummi! Selber schuld, wenn schon alles weg ist.”

Das einsetzende Geplärr erinnert Malvoisin in Dankbarkeit, daß es noch ein paar Jahre dauern wird, ehe Enkelkinder ihn so angehen werden und mit Schaudern, daß die Wünsche seiner Kinder heute leicht über das Volumen von süßen Tüten hinausgewachsen sind. Dennoch muß er grinsen.

„Bleiben wir jetzt hier stehen und sehen den Gästen zu?”

Inga wirkt etwas ungehalten.

„Oh, nein. Ich wurde nur gerade an etwas erinnert. Aber sagen Sie bitte, wann haben Sie Malte Kröger zum letzten Mal gesehen, ich meine lebend?”

„Lebend? Warten Sie …” Inga überlegt kurz. „Das war gestern beim Schichtwechsel.”

Sie prüft Malvoisons Gesichtsausdruck, ob er mit der Antwort zufrieden ist, und der verbale Schuß ins Blaue kommt augenblicklich.

„Und tot?”

„Bitte?”

„Ja, tot. Tatsächlich ohne Telephonanschluß.”

„Wie kommen Sie denn darauf?”

„Ja, wie komme ich denn darauf?” Malvoisin setzt eine selbstverwunderte Mimik auf. „Sie können ihn ja gar nicht gesehen haben, tot meine ich, sonst hätten Sie es sicher gleich gemeldet, nicht?”

„Eben, hätte ich wohl.”

“Mit der Deern stimmt ‘was nicht. Die ist so gelassen.”

„Aber wollten wir nicht den Hochsitz ablösen?”

„Ich nicht, aber Sie sollen, damit ich den Hochsitz-Sitzenden etwas fragen kann. Zeigen Sie ihn mir bitte, den Hochsitz meine ich. Den, der darauf sitzt, finde ich dann schon selber.”

„Witzbold. Aber gern. Gehen können Sie allein?” Inga sieht ihn mit einem spöttischen Lächeln an. „Die Krückstockprüfung habe ich mit 40 mit Auszeichnung bestanden,” spöttelt er, „hab’ ihn heute nur vergessen. Aber vielleicht geht’s auch so.” Ehe Inga etwas sagen kann, setzt ihr Malvoisin seinen Rembrandt auf, macht einen Handstand und „läuft” auf den Händen bis zur Promenadenkante, macht einen Überschlag in den Sand und dort einen eleganten Spagat. Hinter ihm wird von erstaunt stehen gebliebenen Urlaubern applaudiert.

Ein Vater ermahnt seinen kleinen Sohn: „Siehst Du, das schafft man, wenn man regelmäßig trainiert.” „Kann das bis nach den Ferien warten?”

Malvoisin steht auf, klopft sich den Sand ab und fragt die verdutzt dreinschauende Inga mit der Vorbemerkung: „Prima, es geht noch. − Wo ist denn nun der junge Mann?” Er nimmt ihr seinen Hut wieder ab und setzt ihn auf.

„Äh, ja, da vorn.”

Sie zeigt die Richtung an, kann noch immer nicht glauben, was sie da gerade gesehen hat und stapft durch den Sand weiter.

Am Hochsitz faßt Inga einem jungen Rettungsschwimmer an die nackten Füße, um auf sich aufmerksam zu machen: ihr Kollege hat etwas mit dem Fernglas fixiert und zum Funk gegriffen: „Sven, bist Du mit dem Boot gerade in der Nähe? − Höhe Wachtturm Südstrand? Dann gib Gas! An der weißen Boje kämpft einer − Danke. Verstanden.” Er sieht herunter. „Inga, hast Du nicht mitbekommen? Notfall, ins Wasser mit Dir. Weiße Boje geradeaus.” Inga will gerade ihre Jacke abwerfen und losrennen, als zwei junge Männer in DLRG-Badehosen mit Rettungsmitteln am Hochsitz vorbeistürmen und ins Wasser hechten. Gerade als die Hochsitzwache etwas sagen will, stutzt sie wieder, springt vom Sitz herunter, wirft die Jacke ab und stürmt ihrerseits ins Wasser. Inga und Malvoisin verfolgen den Einsatz aufmerksam. Im Hintergrund hat das DLRG-Boot den gemeldeten Notfall erreicht, auch die beiden Rettungsschwimmer sind kurz vor ihm. Derweil kommt der junge Mann mit einem kleinen nackten Jungen, vielleicht fünf Jahre alt, auf dem Arm aus dem Wasser. Der Lütte war von einer kleinen Welle umgeworfen worden, die der Rest der Wasserteilung eines weit draußen vorbeifahrenden Fährschiffes war; es hatte ihn über eine für ihn zu tiefe Stelle getrieben, wobei er etwas Seewasser geschluckt und sich im übrigen nur erschrocken hatte. Als er seine aufgeregt herbeieilende Mutter sieht, steht er weinend da und streckt ihr seine Ärmchen entgegen. „Oh mein Kleiner, ich hab’ Dir doch gesagt, daß Du nicht so weit hineingehen sollst, wenn ich nicht bei Dir bin.”

Sie nimmt das heulende Elend auf den Arm, geht tröstend mit ihm weg und vergißt ganz, sich bei dem Rettungsschwimmer zu bedanken. Der geht tropfnaß auf Inga und Malvoisin zu.

„Tschuldigung, was wolltest Du?” Er schüttelt seine blonde Mähne aus. Malvoisin kneift ein Auge, hat etwas Ostsee abbekommen.

„Ich? Gar nichts.” Inga deutet auf Malvoisin. „Der Herr Kommissar von … Wie noch mal?” „Malvoisin, Kripo Lübeck.”

Inga verzieht sich auf den Hochsitz, nachdem sie ihre Jacke wieder übergezogen hat. Die Sonne brennt ganz ordentlich.

„Kripo?”

Der junge, etwa 20jährige Retter holt tief Luft. Für einen kurzen Augenblick kommen seine wohlgeformte Brustmuskulatur und sein Waschbrettbauch besonders gut zur Geltung. Er atmet aus und stemmt die Arme in die Seiten. „Womit kann ich Ihnen helfen?”

„Sie kennen einen Malte Kröger?”

„Ja, sicher, mein Stubengenosse, hier im Quartier. Was ist mit ihm?”

Der junge Mann sieht Malvoisin in einer Mischung aus Überraschung und kritischer Prüfung an. „Kripo? Hat er ‘was ausgefressen? Wo ist er?”

Der junge Mann schaut um sich, als erwarte er, den Angesprochenen im Strandgewusel zu entdecken.

Malvoisin faßt sein Gegenüber ernsten Gesichtes fest in den Blick.

„Er ist tot. Heute morgen im Strandabschnitt Horch nahe der Brücke in einem Strandkorb aufgefunden.” Es geht wie ein Schlag durch den Körper des Blonden. Der junge Mann zeigt ungläubiges Entsetzen. Er hatte den Auftrieb am Morgen nicht mitbekommen.

„Nein, das muß ein Irrtum sein. Malte kann nicht tot sein.” Er schwankt, fängt sich, rudert abwehrend mit den Armen. „Nein, Malte doch nicht. Er ist doch kerngesund und kräftig. Das kann nicht sein.”