Mannesstolz

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Drumherum laufen Strandgäste, als wäre nichts besonderes passiert. Eine junge Frau kommt aus dem Wasser, geht zu einem Strandkorb gleich neben den beiden und entledigt sich ihres nassen Bikinis. Trocknet sich ab und schert sich den Teufel ob ihrer Nacktheit, einer beachtlichen Nacktheit, wie Malvoisin augenwinkelbeobachtend feststellt, aber im Moment interessiert ihn mehr das Verhalten des ohne Zweifel geschockten jungen Rettungs-schwimmers. Doch es folgt sogleich die nächste kleine Ablenkung.

Zwei etwa zehnjährige Jungs laufen selbstbeschäftigt zwischen ihnen durch. Der eine mit Badehose und einer weiteren in der Hand, der andere nackt und lamentierend.

„Hej, Du Blödmann! Gib meine Badehose her.” „Hol sie doch, hol sie doch. Alle könn’ Dein’ Pimmel sehn.”

Er dreht sich hämisch grinsend nach seinem Verfolger um, stolpert, fällt hin und der nackte Junge stürzt sich auf ihn. Eine wilde Rauferei beginnt. Niemand nimmt Notiz, bis auf zwei kichernde Mädchen, die die Köpfe zusammenstecken und sich dann ausschütten wollen vor Lachen. Malvoisin hat die beiden Raufbolde zusätzlich im Blickfeld.

Der junge Rettungsschwimmer sinkt fassungslos auf die Knie und hämmert mit den Fäusten in den Sand.

Die Rauferei ist beendet, der nackte Junge hat dem Hosenräuber die Badeshorts wieder entrungen und schleudert dem am Boden liegenden, schwer atmenden Unterlegenen eine Handvoll Sand ins Gesicht.

„Da! Du Wichser!”

Der Unterlegende versucht, sich aufzurichten, wischt sich den Sand aus den Augen und spuckt aus. Der nackte Junge steht auf. Und wie es so geht − seine Erregung ist zu sehen: er hat für sein Alter einen enormen Ständer. Wutentbrannt will er mit hochrotem Kopf so an Malvoisin vorbei, der ihn kurzerhand am Arm festhält.

„Hallo, hallo, junger Mann! So kannst Du hier aber nicht ’rumlaufen. Was sollen denn die Mädchen denken?”

„Laß mich los, das ist mir scheißegal.”

Er tritt Malvoisin vors Schienbein, was den nicht beeindruckt.

„Anziehen.”

Der scharfe Ton läßt ihn Malvoisin trotzig ansehen, aber gehorchen, und mit ausgebeulten Shorts stürmt der Junge davon.

„Wat dat nich all gifft.”

Jetzt reibt er sich doch das getroffene Schienbein. Dem kleinen Rauhbein konnte er natürlich nicht zeigen, daß der Tritt mit nacktem Fuß sehr wohl wehzutun begann.

Kopfschüttelnd wendet sich Malvoisin wieder dem erschütterten Rettungsschwimmer zu.

Im Hintergrund lachen die beiden etwa 12jährigen Mädchen immer noch. Eine meint: „Aber süß ist der schon.” Und sie werfen sich mit einem neuen Lachanfall in den Strandkorb zurück.

„Malte war doch nicht krank. Oder? Heimlich, oder so?”

Der junge Mann sieht Malvoisin verzweifelt an. „Nein, ich vermute nicht. Wir wissen noch nichts genaues, aber Kraft und Training nützen oft nicht viel, wenn man getötet wird.”

„Wa …!?”

Der Blonde erstarrt.

„Getötet, Malte? Warum denn? Wer?”

Der junge Mann ist völlig durcheinander.

„Kommen Sie mal mit. Wir setzen uns hinten an einer ruhigen Stelle gegen den Deich …”

Malvoisin schiebt den Blonden mit sanftem Druck in Richtung Promenade.

„Wie heißen Sie übrigens?”

Er hat es zwar schon von Harm Kallweit gehört, will aber die Bestätigung haben.

Der Blonde sieht Malvoisin mit leerem Blick an. „Asmussen. Andreas Asmussen.”

*

Tewes und Langeland kommen in Grömitz auf die Promenade. Sie bleiben stehen, blicken sich um. Vor ihnen pulsiert das Strandleben. Beide Männer orientieren sich direkt vor der langen Seebrücke, fassen gleichzeitig etwas mit ihren Blicken auf und betreten den Strand.

Wie aus dem Nichts kommt ein übereifriger Kontrolleur und hält sie an. Ein kleiner dicker Mann, nicht einmal 1,70 m hoch, dafür mit hoher Stirn und einem Blick, der ihn besonders wichtig erscheinen lassen soll. Das braucht er auch, wenn er durch die Strandkorbreihen wuselt und die Schuhpaare an den Körben zählt. Kein Kurtaxpflichtiger ist ihm je entgangen.

„Darf ich um Ihre Ostseecard bitten!”

Langeland hält ihm seinen Dienstausweis unter die Nase: „Dauerkurkarte!”

Der Kontrolleur reagiert verdutzt.

„Oh, is’ ‘was passiert?”

„Noch nicht, wird aber gleich!”

Langeland sieht ihn in einer Mischung aus streng und amüsiert an.

„Oh.”

Langeland und Tewes gehen weiter. Der Kontrolleur wendet sich einem Strandkorb zu, sieht sich aber nochmals um, als könne er den Höhepunkt seines Tages noch nicht ganz verarbeiten.

„War das Dein Bruder?”

„Wieso?” Tewes‘ Mimik zeigt keinerlei Bewegung. Dafür grinst Langeland umso breiter.

„Der hat einen ähnlich sprudelnden Wortschatz wie Du!” Tewes hält eine Antwort nicht für nötig.

Beide gehen auf einen Strandkorb zu vor dem zwei junge Bikinischönheiten in der Sonne liegen.

Tewes und Langeland bleiben, die Sonne im Rücken, vor den Mädchen stehen, werfen ihre Schatten auf sie.

Die Schwarzkurzhaarige legt eine Hand über die Augen.

„He, was soll das?”

Ihre blondlanghaarige Freundin richtet sich leicht auf, stützt sich auf Ellenbogen und Unterarme, schaut die Männer kritisch prüfend an.

Langeland scannt die beiden Schönheiten augenblicklich ein. Darin ist er geübt, geradezu ein Spezialist. Die Mädchen sind jede etwa 22 Jahre alt, zwischen 1,72 und 1,75 m groß, zwischen 56 und 58 kg leicht, haben beide eine wunderschöne, makellose Haut; die zahlreichen Sommersprossen auf den Schultern und unter den Augen der Blonden, die trotz ihrer Sonnenbräune zu erkennen sind, empfindet er als süße Attraktion. Wie braun beide bereits sind, sieht er an den ganz schmalen weißen Hauträndern an den Bikinioberteilen, als sich beide Mädchen bewegen. Die Blonde hat eine sehr süße Büste, gerade richtig für seinen Geschmack als Mann, die Schwarze hat etwas mehr zu bieten, wenn sie es denn böte. Als Polizist interessiert es ihn nicht, aber als Mann stellt er zufrieden fest, daß der Unfug der Piercings bei diesen beiden Schönheiten zu keiner Beeinträchtigung geführt hat, denn sie haben beide keine Ringe oder ähnliche Verunstaltungen in ihren atemberaubend schönen Bauchnabeln. Langelang bedauert sehr, dienstlich vor diesen Evatöchtern zu stehen. Beide haben sehr schöne Ohrläppchen, ungestochen, einfach nur natürlich schön; die dazugehörigen süßen Ohren nähme er zu gern als Ausgangsort einer erotischen Expedition über diese weibliche Landschaft, aber er ist ja dienstlich da. Und diese herrlichen Beine! Welch vortreffliche Endpunkte seiner Betrachtung, und gleich doppelt vorhanden. Eine glückliche Stunde − optisch allemal. Er weiß gar nicht, wie er sich losreißen soll. Verweigert sich jeden Gedanken daran, wie es wäre, sich wenigstens bei einem dieser göttlichen Wesen zum Paradies vorschmusen zu dürfen − und dann denkt er ihn doch, diesen Gedanken, der ihn von aller Dienstbeflissenheit abhalten könnte. Oh, wie beneidet er für einen kurzen Augenblick seinen Kollegen Hauke Tewes, diesen altgedienten Ehekrüppel, der sich tatsächlich seit 15 Jahren mit nur einer Frau zufriedengibt. Der sieht diese weiblichen Schätze ganz sicher nicht mehr. Für den sind das nur zu befragende Personen, jede für sich ein Neutrum. Der kleine Neidanfall weicht tiefem Bedauern. Oh, heiliger Ehestand!

„Sind Sie Lisa und Hanna?”

Die Langhaarige ist reserviert und mißtrauisch. „Wer will das wissen?”

Langeland beugt sich vor und zeigt seinen Dienstausweis.

„Mein Name ist Langeland, das ist mein Kollege Tewes, Kripo Lübeck.”

Die Kurzhaarige wirkt plötzlich ängstlich.

„Haben wir falsch geparkt?”

„Vielleicht, aber da kämen die blauen Kollegen. Von uns bekommen Sie Besuch, wenn das Auto weg ist ...”

Die Langhaarige springt auf, die Kurzhaarige erhebt sich etwas langsamer.

„Was, mein Auto ist gestohlen?”

Langeland beschwichtigt sofort.

„Nein, nein, keine Sorge.”

Die Langhaarige setzt sich in den Strandkorb, während die Kurzhaarige in kessem Ton nachfaßt. „Würden Sie vielleicht etwas weniger kryptisch reden?” Dabei verschränkt sie mit verstimmter Mimik die Arme.

„Wir sind von der Mordkommission.”

Die Kurzhaarige lacht auf, wendet sich zur der Langhaarigen. „Sag’ mal, Lisa, wann haben wir unseren letzten Kerl umgebracht?”

„Im Bett?”

Die Kurzhaarige grinst breit.

„Wo sonst!”

Lisa verkündet selbstbewußten Tones:

„Herr Langeland, wir sind Sonnenanbeterinnen, keine Gottesanbeterinnen, die ihre Männchen fressen!”

Die Kurzhaarige ergänzt:

„So viele gute Typen gibt es nicht. Die paar pflegt man, aber frau bringt sie nicht um!”

„Das ist gut zu hören, Mädels, aber das wollten wir eigentlich nicht wissen.”

Langeland wendet sich der Langhaarigen zu.

„Sie heißen also Lisa − und weiter?”

„Lisa Neumann, aus Lübeck. Möchten Sie meinen Ausweis sehen?”

„Gute Idee! Und Sie?” Er wendet sich an die Kurzhaarige.

„Hanna Thorstensen, auch Lübeck.”

Sie faßt in ihre Badetasche, zückt den Ausweis, hält ihn Langeland hin, der erst ihn, dann den von Lisa betrachtet, dann zurückgibt und lächelt. Er findet seine persönlichen Scan-Ergebnisse fast auf den Punkt bestätigt. Bei den Körpergewichten ist er sich auch ohne Nachwiegen sicher. Die jungen Frauen sehen sich fragenden Blickes und achselzuckend an, verstehen nicht, warum der Kriminale beim Betrachten ihrer Ausweise so blöde grinst, wie sie unabhängig voneinander denken.

„Sie kennen zwei Rettungsschwimmer, die in Kellenhusen Dienst tun?”

 

Hanna wird patzig.

„Was gehen Sie unsere Männerbekanntschaften an?”

Tewes ermahnt sie.

„Vertell em dat, mien Deern, sünst ward he füünsch!”

Lisa springt ein.

„Wir kennen zwei Typen aus Kellenhusen, sind aber keine Einheimischen, glaube ich.”

Hanna bekennt, „Wenn Sie Timo und Jens meinen, ja, die beiden kennen wir.”

„Geht doch. − Waren beide gestern mit Ihnen zusammen?”

Beide Mädchen nicken bejahend.

„Wann sind die beiden gegangen?”

Die Freundinnen sehen sich an, wenden dann beide den Blick zu den Männern zurück, und Hanna antwortet mit Teilecho.

„Wann sind die beiden gegangen? Das muß so gegen 22.30 Uhr gewesen sein, vielleicht etwas später. Wir lagen jedenfalls um 23.15 Uhr in den Betten, hatten beide keine Meinung mehr.”

Lisa bestätigt es.

„Ja, das kommt hin. Die beiden hatten sich Hoffnungen auf mehr gemacht, aber gleich am ersten Abend mögen wir mehr als Flirten auch im Urlaub nicht. Da sind sie abgezogen. Und wissen Sie, wir mögen es nicht, wenn junge Burschen meinen, jedes Mädchen wollte bei einer ausgebeulten Badehose gleich nachsehen, ob es echt oder eine Prothese ist.”

Die Wortwahl, Lisas kesser Gesichtsausdruck − Langeland muß sich beherrschen, nicht laut aufzulachen, senkt seinen Kopf, um sein Grinsen zu verbergen. Tewes bleibt äußerlich ungerührt.

Hanna bohrt nun selbst.

„Herr Langeland. Auch auf die Gefahr für neugierig gehalten zu werden, wozu müssen Sie wissen, wann die Jungs mit uns zusammen waren?”

„Wir ermitteln in einem Tötungsdelikt, und die beiden gehören zum Kreis der Verdächtigen.”

Die jungen Frauen sehen sich erschrocken an.

„Meine Damen, ich muß Sie bitten, heute nachmittag in der Polizeistation Grömitz Ihre Aussagen zu Protokoll zu geben.”

Hanna mault.

„Waaas, jetzt im Urlaub?”

„Mädchen, der Tod macht keinen Urlaub! Bis zur Gildestraße ist es von hier nicht weit. Hausnummer eins, wenn ich mich richtig erinnere.”

Er sieht Tewes an. Der nickt.

„Jou.”

„Und Sie verlassen ansonsten Grömitz nicht ohne unsere Erlaubnis. Moin!”

Die Männer stapfen davon. Die Mädchen sehen sich mit verzogenen Mienen an.

*

Malvoisin und Andreas Asmussen haben sich an einem ruhigen Abschnitt des Landesdeiches niedergelassen. Der Blonde hockt zusammen-gekauert im Gras, hat die Beine angezogen, auf den Knien die Arme verschränkt und seine Stirn darauf abgelegt. Er ist stumm.

Malvoisin sieht ihn, aller Professionalität zum Trotz, mitfühlend an. Ihm fällt jetzt der markante Ohrring auf, den Andreas rechts trägt: offenbar aus Gold, an die Rundung ist ein die Schwingen ausbreitender Adler angeschmiedet, der einen Fisch in seinen Fängen hält.

„Geht’s wieder? Können Sie mir ein paar Fragen beantworten?”

Andreas sieht auf. Aus seinen wassergefüllten Augen laufen zwei dicke Tränen die Wangen herunter. Sie tropfen auf seine Badehose ab, die schon fast wieder trocken ist und bilden zwei unter anderen Umständen peinliche Flecken. Aber die Sonne ist heiß und gnädig.

„Wann haben Sie Ihren Stubenkameraden zum letzten Mal gesehen, und wo?”

Andreas überlegt kurz.

„Das war unter der Dusche, nach Dienstschluß.”

Malte stand unter dem starken Wasserstrahl, den er sich, die Hände flach gegen die krankenhausweißen Kacheln des Duschraumes gelegt, auf den Rücken prasseln ließ. Er war bereits braungebrannt, nutzte er doch jede Gelegenheit, sich der Sonne auszusetzen. Andere Männer hätten jetzt eine „weiße Hose” an, aber die Haut seiner Lenden war hellbraun. Er sonnte sich auf dem elterlichen Grundstück immer „ohne” und hielt sich während des DLRG-Dienstes in seinen freien Stunden fast immer am Lensterstrand auf, am FKK-Strand genau gesagt, wo er es liebte, mit seinen optischen männlichen Qualitäten aufzufallen. Malte hatte ruhend einen Mannesstolz von sagenhaften 19 Zentimetern vorzuweisen, was ihm in Lenste gar das Angebot eines Headhunters der Porno-Industrie eingebracht hatte. Von 3.000 €uro Tagesgage war da zu hören und bei gleichbleibend guter Figur könne er 20 Jahre dick im Geschäft sein. Er sollte aber fast nur in Schwulenfilmen mitmachen, und das lehnte er dann doch ab, obwohl, die Versuchung war für ihn groß, auch des Geldes wegen. Es war keineswegs so, daß er es nicht liebte, sich gut gebaute Typen anzusehen und beim „Schwänzevergleichen”, wie er es nannte, sich immer wieder zu freuen, daß er nie etwas wirklich vergleichbares entdeckte, aber „Arbeit” ganz ohne Mädchen wäre ihm zu öde gewesen. Dickbäuchige Typen interessierten ihn nicht, die mit kleinen roten Pavianärschen für ihn am Strand und in der Sauna nur peinlich wirkten. Schlanken Burschen sah er sehr wohl nach; aber sein Beuteblick traf unter all den Hausfrauen, die er eher geringschätzig betrachtete, manch ein schönes Mädchen, manch attraktive junge Frau − und er war erfolgreich. Malte hatte durchaus etwas von einem eitlen Pfau, gepaart mit Arroganz, denn er war sich seiner Wirkung bewußt. Gerade diese gewisse Arroganz wirkte auf manche weibliche Wesen seltsam magisch anziehend − und nicht nur bei weiblichen. In seiner Schulzeit hatte ihm seine „Größe” allerdings teils bösartigsten Neid eingebracht. Eselsschwanz, Pferdepimmel − und was ihn die anderen Jungs nicht alles geheißen hatten. Der pure Neid, aber eben auch die volle Ablehnung. Er war anders, paßte nicht ins gewohnte Schema. Und das erste Mädchen, mit dem er mit 15 Jahren schlafen wollte, war ängstlich weggelaufen, als er mit der vollen Erektion vor ihm stand. Nur sein damals einziger treuer Freund, der Malte hieß, wie er selbst, hatte keinen bösen Spott für ihn, denn er hatte ein ähnlich großes „Problem”. Daß sie beide erwachsen über 1,90 m groß werden würden, hatte man ihnen schon mit 14 gesagt. Kennengelernt hatten sie sich mit 11 Jahren, beim Wechsel auf das Barlach-Gymnasium in Kiel. Ihr erster Klassenlehrer hatte sie in die letzte Reihe gesetzt, da sie schon recht groß für ihr Alter waren und den kleineren Schülern die Sicht nach vorn nicht verstellen sollten. Eine dumme Entscheidung; man hätte sie ebenso vorn an eine der Ecken setzen können, aber die beiden fühlten sich „hinten” ganz wohl. Und als die Pubertät auch bei ihnen die Macht übernahm, konnten sie ungestört unter dem Tisch den jeweils anderen stimulieren, denn es machte ihnen bald Spaß, herauszubekommen, wie schnell der andere durch Hosereiben „groß” wurde. Geschickterweise machten sie das aber erst, wenn mindestens einer von ihnen bereits an die Tafel gerufen oder etwas abgefragt worden war; in ihrer Klasse war es noch üblich, bei einer Lehreransprache aufzustehen. Einmal war es aber schiefgegangen und Malte II, sie wurden zur Unterscheidung Malte I und Malte II gerufen, hatte Pech, mußte an einer Landkarte etwas zeigen, dabei „zeigte” er, gekleidet in eine enge, aber dehnbare Leinenhose, mehr als ihm damals lieb war − und das Gelächter der Klasse war niederschmetternd. Auch Malte II, ein hübscher blonder Junge mit stahlblauen Augen, sportlich und ein freundlich-lieber Typ, hatte kein Glück bei den Mädchen, obwohl ihm schon mal eine nachsah, aber vor beiden Maltes hatten in einer Beziehung alle Angst, denn ihre verstörende „Größe“ war natürlich durch den Sporthallentratsch und den Schwimmunterricht bekannt. Da sie aber endlich wissen wollten, wie es ist, wenn man es nicht selber macht, kam was kommen mußte und sie entjungferten sich auf ihre Weise gemeinsam. Da waren sie 16 und fanden es irgendwie obercool und einfach geil. Und danach trieben sie es miteinander, so oft sie nur konnten, fragten sich aber immer wieder, wie es wohl mit einem Mädchen sei, denn im Internet sahen sie sich zur „Vorbildung”, wie sie es nannten, gemeinsam einschlägige Pornos an. Dann kam die Trennung. Malte I’ Eltern hatten seine Verlegung auf ein renommiertes Internat in Bayern beschlossen und es hieß, Abschied zu nehmen. Sie schickten sich noch ein Jahr E-Mails und SMesse, aber dann kam der Entfernungseffekt: aus den Augen, aus dem Sinn. Malte lernte in Bayern seine erste Freundin kennen. Sie verließ ihn, als sie bemerkte, daß er bemerkte, daß die Mädchen nun doch auf ihn flogen, was Malte weidlich ausnutzte, da er einiges nachzuholen hatte, wie er meinte. Dann kam seine erste große Liebe, die bei ihm blieb.

„Woran denkst Du gerade?”

Malte zuckte zusammen und sah sich um. Neben ihm hatte Andreas unbemerkt die Dusche angestellt und drehte sich mit erhobenen Armen unter dem erfrischenden Brausestrahl.

„Woran soll ich denken?”

„Na, darum!”

Andreas zeigte durch Kopfnicken die Blickrichtung an: Maltes Erregung war nicht zu übersehen. Andreas’ Mimik ließ seine Bewunderung erkennen. „Spannendes Kopfkino?”

„Kann man sagen.”

„Muß ein tolles Mädchen sein.”

„Warum ein Mädchen?”

„Na, ein Typ wie Du …”

„Ja und? Du bist auch ein geiler Typ, aber mit einem Mädchen habe ich Dich noch nie gesehen, wenn man von der Süßen in Deinem Spind absieht.” „Laß sie aus dem Spiel!”

„Ah, sind wir da empfindlich?”

Andreas drehte sich weg und gab keine Antwort.

„Und was haben Sie danach gemacht?”

„Na, es war Feierabend.”

Andreas sieht Malvoisin mit einem „Was-willst-du-eigentlich-von-mir-Blick” an.

„Waren Sie allein oder sind Sie noch fortgegangen?”

„Ich habe einen Kumpel besucht.”

„Und wer ist das?”

„Rudolf Hartmann.”

„Und wo finden wir den?”

„Wir haben heute gemeinsam Wache auf dem Turm am Südstrand.”

„Wie lange waren Sie bei ihm, und wo?”

Andreas „sucht” kurz.

„In seinem Quartier in der Denkmalstraße. So etwa bis 22 Uhr. Dann bin ich zurück und hier in meine Koje gekrochen.”

„Wissen Sie, wo Malte Kröger gestern abend war?” „Nein. Ich habe die Dusche vor ihm verlassen. Wir haben uns noch gegenseitig den Rücken abgeschrubbt, und dann bin ich los. Malte setzt sich meist noch an den Boden und läßt sich beprasseln.” „Tja, Herr Asmussen, dann danke ich Ihnen für Ihre Kooperation trotz Ihrer emotionalen Angegriffenheit.”

Malvoisin erhebt sich und reicht Andreas die Hand, zieht ihn gleichzeitig hoch. Er begleitet ihn zurück zur DLRG-Station.

„Ihre Stube hier in der Station können Sie vorerst nicht benutzen. Wir müssen sie uns noch genau ansehen, die Spurensicherung muß hinein. Können Sie so lange bei Ihrem Kumpel unterkommen?” Andreas sieht Malvoisin erstaunt an.

„Aber ich habe doch all meine Sachen hier.”

„Na ja, nackt sind Sie ja nicht und in Badehose und DLRG-Jacke kann man auch mal durch den Ort laufen, nicht? Und vielleicht können Sie etwas mitnehmen, wenn wir gemeinsam die Besichtigung durchführen. Halten Sie sich bitte bereit. Den Ort dürfen Sie vorerst nicht verlassen. Und jetzt ruhen Sie sich am besten erst einmal aus. Ich rede mit Ihrem Chef. Moin.”

Andreas setzt sich auf eine Bank vor der Station, lehnt sich an die Wand und schließt die Augen. Eine ältere Dame kommt auf ihn zu.

„Hallo, junger Mann, sagen Sie mal …”

Er reagiert nicht. Sie tippt ihn an. Andreas öffnet die Augen.

„Junger Mann, können Sie mir die Luft- und Wassertemperaturen sagen? Wissen Sie, ich habe meine Brille vergessen, ich kleines Schusselchen, und ich möchte mich nicht erschrecken, wenn ich mich in die wilde See stürze.”

Die Vorstellung, die weißhaarige Dame „in die wilde See” stürmen zu sehen, bei Windstille und völlig glatter Oberfläche, entlockt Andreas ein erstes Schmunzeln nach den schrecklichen Nachrichten. „26 Grad Luft und 19 Grad Wasser, gnädige Frau, viel Vergnügen.”

Er setzt sich wieder.

„Oh, das ist ja wundervoll. Dann will ich mal gleich los.”

Sie wendet sich ihm nochmals zu.

„Wissen Sie, seit mein lieber Mann mich samt seiner Leidenschaftlichkeit verlassen hat, sind die Wellen das einzig Wilde, das mich noch umspült. Ein altes Mädchen wie ich muß nehmen, was es kriegen kann. Und im Training muß ich auch bleiben. Schließlich war ich 1943 die letzte Westpreußen-Meisterin im Fünf-Kilometer-Schwimmen. Ich bin zwar erst 92, aber man darf sich nicht aufgeben. Meine liebe Mama …” sie betont das zweite -a, „… war noch mit 104 nicht aus dem Wasser zu kriegen. Trainieren Sie auch jeden Tag, junger Mann?”

Schlagfertig antwortet Andreas:

„Aber selbstverständlich. Man muß doch mit Vorbildern wie Ihnen mithalten können.”

Die alte Dame strahlt ihn an.

„Das ist die richtige Einstellung, junger Mann, weiter so, und vielen Dank für Ihre freundliche Auskunft.”

 

Damit segelt sie davon, und Andreas ist sich sicher, eines der letzten Sportoriginale kennengelernt zu haben. Wenigstens hat er für einige Augenblicke den Schreck um Maltes Tod vergessen.

*

Malvoisin fährt an der Wache der Marineunteroffizierschule in Plön vor. Ein Bootsmann, dekoriert mit der Schützenschnur in Gold und dem Militärleistungsabzeichen in Silber kommt heraus. Er tritt an Malvoisins Auto heran, legt die Hand an die Schirmmütze, Malvoisin läßt das Fenster herunter.

„Guten Morgen! Ihren Ausweis bitte …”

„Guten Morgen… “ Er hält ihm den Dienstausweis hin. „Melden Sie mich bitte bei Ihrem Kommandeur an.”

Der Bootsmann verzieht keine Miene. „Fahren Sie …”

„Danke, Herr Bootsmann. Ich kenne mich hier aus.“ Der Bootsmann salutiert. Malvoisin fährt weiter. Der Bootsmann telephoniert in der Wachstube: „Vorzimmer Kommandeur! Wache. …”

Vor der Kommandantur stellt Malvoisin den Wagen ab. Ein junger Leutnant zur See kommt gerade aus dem Gebäude.

„Hier dürfen Sie nicht stehenbleiben!”

„Ich darf, Herr Leutnant, ich darf.”

Malvoisin schließt sein Fahrzeug ab, lächelt den Leutnant an und betritt zielstrebig das Gebäude.

Der verblüffte junge Mann sieht ihm nach und überlegt, ob das gerade vielleicht ein Admiral in Zivil gewesen sein könnte.

Malvoisin strebt dem Kommandeursbereich zu. Dabei kommt er an der Photogalerie der bisherigen Kommandeure vorbei. Vor einem Bild bleibt er kurz stehen.

„Moin Großpapa. Da bin ich mal wieder. Lang ist’s her. − Schön war’s immer bei Dir. − Und heute habe ich schlechte Nachrichten für Deinen Nachfolger. Üble Sache. − Übrigens, Deiner Schwester Priscilla geht es blendend. Aber das weißt Du sicher. Sie hat dieses Jahr wieder eine Weltreise auf der ‚Deutschland’ gemacht. 94 ist sie gerade geworden und ein Armutsfaktor für ihren Hausarzt. Und vermutlich hat sie wieder mal auf der Brücke nachgefragt, ob man nicht mal in Richtung der-und-der Insel den Kurs ändern könnte, weil sie dort noch nicht gewesen sei. Du weißt ja, der alte Kaptein Harmsen, der bei Dir als junger Kerl Ordonnanzoffizier war, der hat das tatsächlich auf einem anderen Dampfer mal gemacht, damals in den Fünfzigern, als Originale noch gefragt waren. Aber ganz so alt war Hein Harmsen damals noch nicht, und Tante Prissy war schon immer unwiderstehlich. Harmsen ist jetzt 102 und läuft in Övelgönne noch ganz munter herum. Er steckt sich jeden Tag seinen Kurs ab und den segelt er dann entlang, wenn ok op sien Fööt. Und den Deerns plinkert er immer noch zu. Denk mal an, und die plinkern sogar zurück. Dann setzt er sich auf die Kaimauer und singt ‚Das wäre noch mal ’was …’, und er hat jedes Mal begeisterte Zuhörer, vor allem, wenn er sein tampenstarkes Seemannsgarn vertellt. Du kanntest ihn ja gut. − Ach, und Maren ist mir die gute Frau geworden, wie Du es gesagt hast. Und wir haben drei wunderschöne Kinder: Christian, Karin und Tessa, aber das weißt Du sicher auch. − Ik harr nu wat to doon, Großpapa, da is mi bannig bang för. Kiek mol wedder in, wenn ok jüst in’n Geist. Weeßt, wi hebbt ’n scheunet Huus in Kellenhusen, wo wi fröher jümmers Urlaub mookt hebben. Un giff Großmama ’n Seuten. − Denn atschüs, Großpapa.”

Malvoisin berührt das erste Bild in der Galerie und zwei Tränen kullern seine Wangen herunter. Ein Obermaat kommt vorbei und besieht sich verwundert den Zivilisten, der die Galerie der Kommandeure betrachtet und plötzlich ein Taschentuch zieht, um sich das Gesicht abzuwischen und zu schnäuzen.

Malvoisin geht weiter und kommt zum Kommandeursbüro. Er tritt in das Vorzimmer ein. Eine ältere Sekretärin empfängt ihn.

„Zu wem möchten Sie bitte?”

„Guten Morgen. Malvoisin, Kripo Lübeck. “

Er zückt wieder seinen Dienstausweis, den die Sekretärin ungläubig betrachtet.

„Kriminalpolizei?”

Sie weiß nicht, worüber sie sich mehr wundern soll: das die Kripo im Haus ist oder über diesen Hut, den der Kriminale gerade abgenommen hat und in der linken Hand hält.

„Ja, so nennt sich meine Truppe.”

„Ach, richtig. Sie hat die Wache ja eben angekündigt. Aber der Kommandeur hat gleich einen Termin. Ich weiß nicht …”

„Richtig, mit mir, Würden Sie mich bitte anmelden!”

Er sieht sie auffordernd an. Die Sekretärin klopft kurz, tritt beim Kommandeur ein und meldet leicht verwirrt:

„Verzeihung, Herr Kapitän, da ist ein Herr von der Kriminalpolizei …”

„Kripo?”

Der Kommandeur sieht auf seine Armbanduhr.

„Na gut, ich lasse bitten.”

Die Sekretärin tritt zur Seite und gibt den Weg frei. Malvoisin tritt ein.

Der Kommandeur steht an seinem Schreibtisch, neben ihm erwartet ein Kapitänleutnant seine Anweisungen.

„Herr von Felsenstein, die Herren Lehrgruppenkommandeure zur Besprechung erst in einer halben Stunde.”

„Jawohl, Herr Kapitän!” Der Kaleu tritt ab.

„Kapitän zur See Kröger −” Er reicht Malvoisin die Hand. „Kripo? Hat einer meiner Männer etwas ausgefressen?”

Malvoisin mustert sein Gegenüber mit schnellem Blick.

Vor ihm steht ein etwa 50jähriger, drahtiger Mann, sicher 1,80 m groß. Er schätzt ihn auf das Idealgewicht seiner Größe von 80 Kilogramm. Kröger hat ein sympathisches Gesicht, marineüblich glattrasiert. Darin energische Züge, die keinen Widerspruch dulden. Seine vollen schwarzen Haare mit deutlich grauen Schläfen machen ihn neben seiner Gesamterscheinung zu einem attraktiven Mann. Er trägt den blauen Dienstanzug mit den vier goldenen Ärmelstreifen seines militärischen Ranges. Malvoisin registriert mit Kennerschaft das Einzelkämpferabzeichen an der rechten Uniformseite, an der linken das Militärleistungsabzeichen in Gold, das Kreuz der Ehrenritter des Johanniterordens, an der Ordensspange das Bundesverdienstkreuz I. Klasse, Bundesverdienstkreuz am Bande, den Verdienstorden des Landes Berlin, das Ehrenkreuz der Bundeswehr in Gold, das Deutsche Sportabzeichen in Silber, das Offizierkreuz der Französischen Ehrenlegion, die Königlich Großbritannische Victoria-Medaille, das Ritterkreuz des Königlich Norwegischen Olav-Ordens, das Hollandmarschabzeichen und darüber in goldener Stickerei das Tätigkeitsabzeichen des seefahrenden Personals.

„Malvoisin, Mordkommission Lübeck −” er hält Kröger den Dienstausweis hin.

„Mordkommission? Das hatten wir hier noch nicht. Aber nehmen Sie doch bitte Platz.”

Der Kommandeur weist einladend auf einen Sessel. Beide setzen sich. Der Kapitän sieht seinen unerwarteten Besuch fragend an.

„Malvoisin? Sind Sie der Sohn von Friedrich Malvoisin?”

„Ja, ich kann es nicht leugnen.”

Ein schwaches Lächeln huscht über Malvoisins Gesicht.

„Ich dachte es mir doch gleich. Die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Wie geht es dem Herrn Admiral?”

„Ich denke gut.”

Kröger bemerkt, daß sein Gegenüber das Thema nicht sonderlich angenehm ist und setzt es nicht fort.

„Sieh an, sieh an. Das ist der Sohn von ‚Friedrich dem Großen’!”

Mit einem auffordernden Blick zeigt er, daß Malvoisin mit dem Grund seines Kommens herausrücken soll. Der ist dankbar, vom Vater-Thema weg zu sein.

„Herr Kapitän, kennen Sie einen jungen Mann namens Malte Kröger?”

„Mein Ältester. Was ist mit ihm?”

„Ich habe schlechte Nachrichten.”

Er räuspert sich. Todesbote war er noch nie gern, aber er hat es immer so damit gehalten, solche Schockmeldungen schnell herauszulassen, und so macht er es auch jetzt.

„Ihr Sohn ist tot.”

Malvoisin mustert sein Gegenüber.

„Wie, tot?”

Der Kapitän zieht seine Stirn kraus.

„Ihr Sohn wurde heute morgen ermordet am Strand von Kellenhusen gefunden.”

Kröger schließt kurz die Augen.

„Was ist passiert, wo ist mein Sohn? Was erzählt der da?”

„Ihr Sohn wurde in einem Strandkorb in der Nähe der Seebrücke mit einem Strick um den Hals gefunden. Er wurde gehenkt.”

Kröger wirkt gefaßt, lehnt sich zurück, verschränkt den linken Arm, stützt den rechten darauf und stützt seinen leicht gesenkten Kopf mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger.

„Hat man den Täter schon?”

„Nein, aber da ist noch etwas…”