Mannesstolz

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Nebenan im Dachgeschoß lassen sich zwei durch das Gewitter nicht stören. Ganz im Gegenteil. Die natürliche Begleitmusik ihrer Leidenschaft heizt sie nur weiter an.

Es blitzt und kracht.

Christian würde selbst Artilleriefeuer nicht wirklich wahrgenommen haben. Er schenkt Biene sein Feuer, und sie genießt es, zu brennen. Erotisches Feuer, tut gut und weckt alle Lebensgeister.

Martin von Malvoisin sitzt halb aufrecht im Bett und studiert seine eigenen Aufzeichnungen zum Fall Malte Kröger. Staatsanwalt von Nystad hatte ihm freie Hand gelassen, dabei kurz auf seinen überladenen Schreibtisch gezeigt. „Machen Sie, lieber Malvoisin, machen Sie. Der Fall ist bei Ihnen und Ihren Leuten in den besten Händen”, hatte er gesagt und ihn damit kurz und bündig hinauskomplimentiert. Das bedeutete, er wollte erst wieder bei Abschluß des Falles etwas davon hören.

„Warum wird jemand so umständlich ausgeschaltet, so melodramatisch”, murmelt er vor sich hin. „Warum am Strand und nicht in einem Haus oder im Wald. Und dann diese irrsinnige Verstümmelung.”

Er kann sich einfach nicht erklären, was das sollte. In Gedanken geht er sein persönliches Fallarchiv durch. Er kann sich an nichts ähnliches erinnern, keinen Phallusklau. Bis jetzt hatte er nur von einer Person gehört, die für eine Tötung ein Motiv haben konnte, nämlich die Rettungsschwimmerin Inga. Aber für die Ausführung der Tat ist sie bei allem Training zu klein, hatte ja nicht einmal ihre Vergewaltigung verhindern können. Und der Penis muß nach dem Tod abgetrennt worden sein, sonst wäre der Blutverlust größer gewesen. Das Schreien eines lebend Entmannten hätte man nachts durch den ganzen Ort gehört. Einen Knebel hatte man ihm nicht verpaßt. Inga scheidet für ihn als hart Tatverdächtige aus. Immerhin könnte sie noch als Mittäterin in Frage kommen.

„Aber woher kommen die Holzsplitter im Fuß? Warum hat er sie sich nicht herausgezogen? Alles so rätselhaft.”

Maren kommt vom Bad.

Es blitzt und kracht.

Malvoisin sieht auf und nimmt seine Frau gerade noch eingehüllt in das bläulich-grelle Licht des starken Blitzes war. Bei dem lauten Donner zuckt sie ein wenig zusammen und schlüpft nackt unter die dünne Sommerdecke.

„Was murmelst Du da von Holzsplittern?“

Er läßt seine Notizen sinken.

„Nicht so wichtig.“

Sie kuschelt sich an Martin heran, läßt ihre linke Hand über seinen Bauch gleiten.

„Sagen Sie, gnädige Frau, haben Sie heute abend noch etwas vor?”

Malvoisin sieht seine Frau verschmitzt an. Maren setzt das unschuldigste Gesicht auf.

„Wie kommen Sie darauf, mein gnädiger Herr?” „Weil Sie gerade die Hand an dem Hebel haben, der mich in Gang setzt.”

„Oh, habe ich das?” Maren hebt die Sommerdecke hoch. „Tatsächlich, alles funktionstüchtig.” Sie läßt das dünne Oberbett wieder niedersinken. „Kommen Sie immer so schnell auf Touren?”

Maren zeigt ein vielversprechendes Lächeln, genau jenes Lächeln, das einem Mann alles erlaubt. Malvoisin wirft seine Aufzeichnungen mit einem jungenhaften Grienen nach rechts weg in die Luft, die Blätter wedeln langsam zu Boden.

„Wenn der richtige Maschinist kommt, schon.”

„Na, dann volle Fahrt voraus!”

„Dreißig Knoten?”

„Dreißig Knoten!”

Maren verschwindet unter der Sommerdecke und Martin schließt die Augen.

Es blitzt und kracht.

Thor schwingt den Hammer.

In einem Büro sitzt ein grauhaariger Mann an seinem Schreibtisch und betrachtet eine größere Auswahl an Photographien. Er weiß noch nicht genau, ob er sie für zwei Kalender oder zwei Bildbände verwenden soll oder beides. Seit seine geliebte Frau ihn verlassen mußte, macht es ihm noch weniger etwas aus, bis spät in den Abend oder gar die Nacht durchzuarbeiten. Es ist dann wenigstens ruhig, kein Telephon, kein Fax, niemand will etwas von ihm. Nur das starke Gewitter ist arg laut. Doch er vermag so etwas schnell auszublenden.

Es blitzt und kracht.

Das Fenster neben seinem Schreibtisch fliegt durch einen Windstoß auf, der gleich auch noch einige der Bildabzüge zu Boden weht. Der Grauhaarige steht auf, schließt das Fenster und hebt die Photos wieder auf.

Es blitzt und kracht.

Sein Blick fällt in dem für Sekundenbruchteile bläulich-grell-erleuchteten Raum unter all den Aktaufnahmen bildschöner Mädchen und gutgewachsener, zum Teil sogar hübscher junger Männer, die ihm seine Photographin gebracht hat, auf eine seiner Schätzung nach etwa 21/22jährige, bildhübsch, mit hellbraunen, gelockten, schulterlangen Haaren und strahlenden, katzengrünen Augen. Nur seine Professionalität verhindert, daß er sich augenblicklich in diese junge Frau verliebt. Er ist es natürlich, aber er würde es niemals zugeben. Er dreht eine Aufnahme um. „Richtig. − Inga!“

In diesem „Inga!“ liegt die ganze Sehnsucht eines einsamen Männerherzens nach einem lieben weiblichen Wesen. Nicht, daß er seine geliebte Frau vergessen hätte, ganz gewiß nicht, aber sie war zu den Engeln gegangen, dieser Engel war noch auf Erden. Neben ihren Bildern hebt er die Aufnahmen eines großgewachsenen Schwarzhaarigen auf. Er wünscht sich unwillkürlich, selbst noch einmal so auszusehen.

„Der hat Zukunft”, murmelt er vor sich hin.

Es blitzt und kracht.

„Von dem lasse ich Silke noch eine Extrastrecke machen. Wer ist denn das überhaupt?” Der Grauhaarige dreht einen Abzug um.

„Ach, der ist das. Von dem hat Silke doch so geschwärmt. Wie ich sie kenne, hat sie ihn ausprobiert. Kann man verstehen.”

Es blitzt und kracht.

In einem kleinen roten Backsteinhaus in der Denkmalstraße nähern sich zwei Liebende dem Höhepunkt.

Es blitzt und kracht.

Das bläulich-grelle Blitzlicht bedeckt für Bruchteile einer Sekunde zwei miteinander verschmolzene, verschwitzte Körper in heftiger Bewegung. Erotisches Feuer der anderen Art.

Es kracht und blitzt.

Im Aufbäumen und lauten Stöhnen ist mit heller Stimme ein vernehmliches „MALTE!” zu hören − und es klatscht eine Ohrfeige.

Ein zweifacher Blitz und Doppeldonnerschlag zuckt und kracht.

Die Elemente sind in Bewegung. Das Unwetter steht mitten über dem wie ausgestorben daliegenden kleinen Ostseebad.

In all dem Leuchten der Blitze und dem Krachen des Donners, in der schwülen Luft, die sich einfach nicht abkühlen will, da der Regen noch nicht eingesetzt hat, ist es zu einem zweiten Sturm gekommen. Ganz klein, aber nicht minder heftig, in einem Strandkorb vor dem Tanzschuppen. Ein junges Pärchen hat das Gewitter, das es aneinandergekuschelt beobachten wollte, plötzlich nicht mehr interessiert. Kleidungsstücke liegen vor dem Korb im Sand und es ist im Korb höchst lebendig geworden. Sie hätten es nicht mehr bis zu ihrem Quartier im Schützenweg geschafft, das war einfach zu weit, selbst 100 Meter wären für sie zu weit gewesen. Es mußte jetzt sein, genau in diesem Strandkorb, inmitten von Thors donnernder Himmelsfahrt. Und wenn der halbe Strand zugesehen hätte! Jetzt, genau jetzt wollte Meitje ihren Christoph haben − und wie sie ihn hatte. Der ganze Strandkorb bebte und wackelte, aber Kellenhusener Strandkörbe stehen fest.

Es blitzt und kracht.

Egon-Karl und Emilie Friederike aus Wattenscheid formulieren in ihrer Kellerwohnung im Drosselgang insgeheim bereits an ihren Geschichten für das Kaffeekränzchen, den „Frisör” und den Kegelklub „Kumpel Anton”, den Fluchtkoffer und das Fenster fest im Blick.

Es blitzt und kracht.

Der Regen setzt ein. Der, der erst nicht kommen wollte, rauscht nun umso heftiger. Die Wattenscheider gäben jetzt gar ihr WAT-Autokennzeichen für zwei Rettungswesten.

Und am standhaften Strandkorb nehmen Meitje und Christoph begeistert eine Himmelsdusche.

*

2. Tag

Die Vormittagssonne erwärmt den Ort, die Herzen, den Strand, dessen Sand vom Gewitter der Nacht noch etwas feucht ist, und anderes mehr. Malvoisin hatte nach der durchliebten Nacht etwas verschlafen. Seine Maren lag in seinen Armen; was konnte da schöner sein, als zu verschlafen. Bei den Kollegen in Lübeck sagte er per Handy an, daß er später käme, Notizen studiere und Befragungen vor Ort durchzuführen habe. Langeland erinnerte ihn aber dringend an die anstehende Detaildurchsuchung des Zimmers von Malte Kröger in Plön.

Er konnte es sich nicht verkneifen, „spitz” anzumerken, daß auch erotische Helden zum Dienst erscheinen müßten, was ihm allerdings ein unwirsches Knurren von Malvoisin eintrug. Die kleine Retourkutsche für die Sticheleien seines Freund-Kollegen mußte sein. Das erweiterte Frühstück mit Maren war für Malvoisin damit gestrichen.

Er hatte sich ein schönes Frühstück mit seinem geliebten Weib vorgestellt. Ihr aufregend kurzes wie einschulterfreies, fast durchscheinendes weißes Hemd war dazu geeignet, das gemütlichste Frühstück im Garten sowie jeden Dienstplan zu vergessen und „Liebesnacht Teil 2” aufs Programm zu setzen. Aber der Dienstplan bestand nun einmal, und er hatte ein Tötungsdelikt vor der Brust.

Maren hatte Hunger, und er sah ihr so gern zu, wenn sie die frischen Brötchen aufschnitt, mit „guter Butter”, wie er immer noch sagte, und mit Pflaumenkonfitüre bestrich. Dazu war er nach dem Duschen pflichtschuldigst und eilig zur Bäckerei Hook an der Ecke Theodor-Storm-Weg/Am Ring gelaufen, obwohl man dort wegen der Badegäste oft 30 Minuten warten mußte, während ständig „zehn Hookies, fünf Normale” usw. gerufen wurde. Vier Bedienungen kommen dort während der Saison bis 10 Uhr morgens kaum zum Luftholen. Er wollte keine Sonderrechte aufbauen und an der Warteschlange vorbeilaufen, so wie er es mal über Katja Mann gelesen hatte, die mit einem deutlichen „Ich bin Frau Thomas Mann!” grundsätzlich an jeder Warteschlange vorbeigegangen sein soll. Aber diesmal rief er vorher an und bekam seine Brötchentüte rechts vom Verkaufstresen durchgereicht. Es hat auch Vorteile, ein „Herr Kriminal” zu sein.

 

*

Malvoisin und Langeland hatten sich in Neustadt getroffen und waren von dort nach Plön herüber. Dort erreichen sie kurz nach 9 Uhr das Haus Kröger, um, wie angemeldet, Maltes Zimmer zu durchsuchen.

Malvoisin klingelt.

„Hoffentlich fällt Frau Kröger nicht wieder in Ohnmacht.“

Es öffnet eine elegant ganz in Schwarz gekleidete Dame. Die Männer zeigen ihre Dienstausweise vor.

„Sie wünschen?”

„Guten Morgen, Madame, Kripo Lübeck. Malvoisin mein Name, das ist mein Kollege Langeland. Frau Kröger?

„Ja.“

„Wir untersuchen den Tod Ihres Sohnes Malte. Ich darf Ihnen unser Beileid aussprechen, und es ist nicht dienstlich gemeint.”

„Ich danke Ihnen. Mein Mann ist im Dienst. Er hat mich informiert, daß mit Ihrem Besuch, sagen wir, ab 8.30 Uhr, zu rechnen ist.”

Sie sieht mit vorwurfsvoller Miene bewußt deutlich auf die schmale goldene Armbanduhr an ihrem linken Handgelenk.

Malvoisin und Langeland räuspern sich etwas verlegen im Duett. Selten ist ihnen so elegant Unpünktlichkeit vorgehalten worden. Malvoisin überspielt es.

„Wir haben eine Durchsuchungserlaubnis für das Zimmer Ihres Sohnes, gnädige Frau, dürfen wir nähertreten?” Er zeigt das Dokument vor.

„Wenn es der Aufklärung dient, bitte meine Herren.”

Frau Krögers Ton wirkt reserviert. Sie tritt ins Haus zurück und macht den Weg frei, Malvoisin und Langeland treten ein.

Frau Kröger schließt die Tür. „Ich darf vorgehen.” Malvoisin und Langeland folgen ihr.

Frau Kröger bleibt vor der versiegelten Tür stehen, an der das große vergoldete Seepferd angebracht ist.

Die Dame des Hauses verschränkt ihre Arme, umfaßt dabei ihre Ellenbogen.

„Meine Herren, dies ist der Privatbereich meines Sohnes. Ich erwarte, daß Sie die gebotene Pietät beachten. Mich wollen Sie bitte entschuldigen. Ich habe noch nicht die Kraft, mich in diesem Raum aufzuhalten. Im übrigen ist meine Schwägerin zu Besuch.” Frau Kröger geht ohne weitere Umstände weg.

Malvoisin und Langeland sehen sich leise durchatmend an, Malvoisin durchtrennt das Siegel mittels eines Taschenmessers, beide, Malvoisin zuerst, treten in das Zimmer ein, verharren kurz, sehen sich um. Für Malvoisin ist es die zweite Inaugenscheinnahme, aber er sieht nicht weniger genau hin, als wäre er zum ersten Mal da.

Langeland läßt seinen Blick schweifen, steuert auf die Photowand zu.

„Ganz schöne Abschußsammlung.”

„Na, das war ja klar, daß Du Dir gleich die Mädchen ansiehst!” Malvoisin schüttelt den Kopf, grient aber in sich hinein.

Langeland betrachtet ungerührt weiter die Galerie. „Sei sicher, daß ich mir auch die Jungs ansehe, aber die Mädchen sind schöner.”

Als DIN A 4-Abzüge hängen dabei auch Uniformportraits von Kapitän Kröger und einem Vizeadmiral. Es ist der von Harm Kallweit erwähnte Großvater des Toten. Malvoisin hatte sich nach der ersten Besichtigung in einem alten Bundeswehr-Handbuch versichert, Meeno Kröger, einen früheren Befehlshaber der Ostseezugänge, richtig erkannt zu haben. Er war als Kapitänleutnant mit Ritterkreuz aus dem letzten Krieg gekommen. Er klärt Langeland kurz auf, ehe er die Portraits der jungen Leute näher betrachtet.

„Fritz, da haben wir aber einige interessante Aufnahmen oder was denkst Du?”

„Der Junge scheint tatsächlich eine Menge Mädels gekannt zu haben, die meisten Marinekameraden dürften weniger bedeutsam sein, aber hier, dieses Mädchen …” er nimmt die Aufnahmen von der Wand „,… sieh mal. Da sieht Malte noch jünger aus, vielleicht gerade mal ums Abitur herum.”

„Und hier die Herren Nordenkamp und Claasen, die haben sie auch gut gekannt, so vertraut, wie sie da mit ihr stehen. Und wer ist das wohl?” Er dreht das Bild um. „Sie heißt Hanna. Haben wir sie schon mal gesehen?”

Langeland schüttelt den Kopf. „Nein, sicher nicht, sie wäre mir, äh, uns ganz bestimmt aufgefallen.”

Malvoisin grinst, weiß er doch nur zu gut über die Eroberungsgalerie seines Freund-Kollegen Bescheid.

„Und hier, Kröger mit Hartmann …” Langeland nimmt das Bild ab und dreht es um “…, im letzten Jahr aufgenommen.”

„Stehen auf den anderen Bildern Jahresangaben?”

Langeland sieht nach.

„Hier, mit der Schönen, das ist vor sieben Jahren gemacht worden, das mit Nordenkamp und Claasen auch.”

Langeland überlegt. „Da stellt sich die Frage, ob die drei jungen Burschen sich damals auch schon gekannt haben.”

„Und der hübsche junge Seekadett hier?”, fragt sich Malvoisin. „Wer mag das sein?“

Er nimmt das Bild von der Wand, dreht es um.

„F. M. Ü. − Hm, kein Datum von Hand, nur das Entwicklungsdatum 09.2005 und die Ziffer eins“, murmelt er vor sich hin, ehe er das Photo auf den Schreibtisch legt.

Malvoisin wendet sich dem Kleiderschrank zu und öffnet ihn: Er sieht sauber aufgehängte zivile und Marinehemden, abgelegte Uniformen niederer Dienstgrade, zwei blaue und zwei weiße Offiziersuniformen, zwei weiße Offiziersmützen, eine Kopfbedeckung zur Wäsche achtern. Unten am Boden stehen mehrere Paar schwarze Schuhe. „Komm mal her und sieh Dir das an!”

Langeland kommt herum und macht ein überraschtes Gesicht.

„Na, was haben wir denn da?”

Er betrachtet eine große Ganzkörpernacktaufnahme von Rudolf Hartmann an der Innenseite der linken Tür.

Malvoisin stellt bestätigend fest: „Der junge Mann hatte wohl tatsächlich für beide Seiten etwas übrig!”

Langeland kratzt sich am Hinterkopf. „Das sieht ganz danach aus.” Er nimmt das Bild ab und rollt es ein. Malvoisin schließt die Tür. „Laß uns mal im Schreibtisch nachsehen, ob etwas von Interesse zu finden ist.”

Er zieht die große Schublade auf, schaut kurz den Inhalt durch, schiebt sie wieder zu, öffnet ein Seitenfach, hockt sich hin, faßt nach hinten durch und holt ein Bündel Briefe heraus.

„Schau mal, scheint romantisch gewesen zu sein, hat Briefe aufgehoben; die nehmen wir mal mit. Da hast Du ‘was zum Lesen!” Er grient Langeland an. „Apropos lesen, …” Malvoisin wendet sich zur Bücherwand. „… was hat unser Leutnant denn an Lektüre gehabt?”

Er geht näher heran, betrachtet genau die Buchrücken.

„Hm, eine ganze Reihe Klassiker. Melville, Conrad, sogar im englischen Original. Ha, sogar die Hornblower-Geschichten hat er!” Er schaut weiter. „Kaiserliche Marine, Erster Weltkrieg, Kriegsmarine, Bundesmarine, Ranglisten. Na, das ist wohl die übliche Fachliteratur zur Marinegeschichte.”

Langeland überlegt laut.

„Ob er wohl Tagebuch geführt hat?”

Malvoisin findet die Idee gar nicht schlecht. Längst nicht jeder Zeitgenosse verbreitet sein Privatleben in den diversen zweifelhaften sozialen Netzwerken, die ihre armen Opfer im Internet wie eine Krake vielarmig umfassen und sich an ihnen festsaugen, um alles aus ihnen herauszuquetschen. Privatsphäre ist dazu da, um Werbung an ihr zu platzieren − und Werbung bringt Geld, viel Geld. Das einzig soziale an diesen sozialen Netzwerken ist das Egosoziale der Betreiber, die sich damit eine Gelddruckmaschine geschaffen haben. Malvoisin ist so stolz auf seine Kinder, die auf diesen Schwachsinn nicht hereingefallen sind und ihren Freundes- und Bekanntenkreis vor Ort pflegen, statt irgendwelchen ihnen völlig unbekannten Netzmenschen auf den Leim zu gehen.

„Kann schon sein. Schau mal im Schreibtisch nach.”

Langeland sucht kurz und hat ein paar Kladden in der Hand.

„Sieh an, da haben wir es schon. Ganz altmodisch mit der Hand geschrieben. Ungewöhnlich. Heute haut doch jeder seine Aufzeichnungen in den Computer.”

Er blättert.

„Letzter Eintrag am Wochenende vor seinem Tod.” Langeland liest kurz, murmelt unverständlich vor sich hin. „Interessant.” Er spricht wieder in normaler Lautstärke. „Das nehmen wir auch mit. Und wie steht es mit dem PC?”

„Nehmen wir mit.”

Frau Kröger steht plötzlich in der Tür.

„Meine Herren, sind Sie fertig mit Ihrer Besichtung?”

Malvoisin dreht sich um.

„Das sind wir für heute in der Tat, Madame. Wir müssen einige Dinge mitnehmen, auch den Computer.”

„Aber Sie bringen doch alles wieder her?”

Die Hausherrin hat eine kritische Mimik aufgesetzt.

Malvoisin beruhigt sie.

„Sie erhalten nach der Auswertung alles zurück. Übrigens …” Er zeigt Frau Kröger ein Bild. “… Wissen Sie, wer dieses junge Mädchen ist?”

Frau Kröger, die im Türrahmen stehengeblieben ist, wirkt wieder ruhiger, zeigt aber auch an, daß sie das Gehen beider wünscht. Als Malvoisin ihr das Photo hinhält, sieht sie es sich genau an, überlegt kurz:

„Das war eine Schulliebe meines Sohnes, Hanna hieß sie, Hanna Claasen, wenn ich mich recht erinnere. Warum?”

„Hieß?”

„Oder heißt, ich habe seit Jahren nichts von oder über sie gehört. Sie muß jetzt etwa 23 oder 24 sein.”

„Auf welchem Gymnasium waren Malte und Hanna zusammen?”

„Mein Sohn ging auf ein Schloßinternat in Bayern. Ich schreibe Ihnen hier den Namen und die Adresse auf. Die Rufnummer weiß ich nicht mehr.”

Frau Kröger notiert den Kontakt auf einem kleinen Notizblock auf einem Flurtischchen und reicht Malvoisin den Zettel, der ihn kurz betrachtet und einsteckt.

„Das finden wir heraus, vielen Dank für diese Information. Wir dürfen uns verabschieden und bitten das Eindringen in die Privatsphäre Ihres Sohnes zu entschuldigen, aber das mußte sein. Bitte verändern Sie nichts, für den Fall, daß wir noch einmal kommen müssen.”

„Ich danke für Ihr Feingefühl. Das Zimmer meines Sohnes betrete ich nicht. Ich sagte es schon, es geht noch nicht.”

Malvoisin ist erleichtert, gehen zu können. „Wir dürfen uns verabschieden.” Er wendet sich zum gehen. „Und machen Sie sich keine Mühe, wir finden allein hinaus. Danke, Madame.”

Langeland verneigt sich leicht. „Auf Wiedersehen.”

„Guten Tag, meine Herren.”

Sie wendet sich ab und geht weg. Die beiden Männer verlassen zügig das Haus.

Malvoisin empfindet Frau Kröger als etwas kühl, obwohl ihm bewußt ist, daß eine trauernde Mutter kaum zu überschwenglicher Herzlichkeit neigen dürfte. Sie hat nicht geweint.

„Sie hat nicht geweint.“

„Ist Dir aufgefallen, Martin, daß Frau Kröger nicht geweint hat?“

„Beherrschung, Fritz. Pure Beherrschung.“

„Oder Kaltherzigkeit?”

Am Wagen angekommen stehen die Kollegen auf jeder Seite am Schlag und sehen sich über das Dach hinweg an.

„Weißt Du nicht, wer sie ist?”

„Frau Kröger?”

„Ja, und wie weiter?”

„Keine Ahnung. Sag Du’s mir.”

„Sie ist eine Rostow.” Malvoisin ergänzt auf Langelands fragenden Blick hin. „Prinzessin Rostow.”

„Hört man gar nicht. Woher …?”

„Geschlechterbuch, und Gegenprobe im Adelshandbuch. Sie ist die Enkelin des letzten Fürsten Rostow. Riesiger Grundbesitz in Russisch-Karelien. Mit der Oktoberrevolution alles verloren.” „Ah ja.”

Langeland gibt sich völlig unbeeindruckt und Malvoisin versucht es gar nicht weiter. Er ist sich sicher, daß Mokwi sich nicht einmal geräuspert hätte.

Langelands Mitleid mit Russen, die die Finnen in Karelien unterdrückten, hält sich in Grenzen. Daß die letzte Zarinmutter vor ihrer Vermählung mit Zar Alexander III. noch Prinzessin Dagmar von Dänemark hieß und die Tochter von König Christian IX. war, änderte daran auch nichts.

Während er den Wagen öffnet, denkt Malvoisin schon weiter.

„Finde mal heraus, wer heute der Internatsleiter ist. Ruf ihn an und laß Dir die Namen und Adressen von allen Jahrgangsangehörigen von Malte Kröger und dieser Hanna Claasen geben.“

„Ob da eine Verbindung zwischen dieser Hanna und Timo Claasen besteht?“ sinniert Langeland. „Claasen? Vielleicht eine Schwester, oder so”, murmelt Malvoisin. „Oder eine zufällige Namensgleichheit. Ist im Norden nicht so selten. Wie Huber in Bayern.”

Sie verstauen die vorläufig beschlagnahmten Gegenstände und steigen ein.

„Heute noch!“ schnarrt Malvoisin die Namensbetrachtung für den Moment beiseite.

„Ich liebe es, wenn Du auf Sklaventreiber machst!“ Malvoisin wirft ihm schweigend einen zurechtweisenden Blick zu. Er dreht die Zündung. „Ich mein’ ja nur.”

 

Malvoisin zieht die rechte Augenbraue hoch, legt den ersten Gang ein und gibt Gas.

„Hätte ich ihm gesagt, fahr nach Bayern und befrage die hübschesten Klassenkameradinnen von Kröger, wäre er schon längst weg, der Schwerenöter.”

Er schaltet in den zweiten.

„Hoffentlich geben die Tagebücher etwas her.”

Er schaltet in den dritten.

„Martin ist plötzlich so still. − Na ja, ich darf jetzt Namenslisten schreiben und er liest Tagebücher. Aber vielleicht sind es auch nur Namenslisten. 1. Juli: Sandra, 2. Juli: Sandra 2x, 3. Juli: morgens Sandra, nachmittags Andreas.”

Langeland muß grinsen. Auch Sexprotze sind irgendwann einmal nur noch langweilig.

*

Malvoisin erreicht ein Haus in seiner nächsten Nachbarschaft, fährt mit seinem Wagen bis vor die Garage, steigt aus, geht zur Haustür und klingelt. Niemand öffnet. Er wendet sich zum Gartentörchen und ruft auf das Grundstück.

„Onkel Flo, bist Du im Garten?” und geht hinein.

„Onkel Flo-ho!”

Er geht ums Haus zur Hauptterrasse. Dort sitzt ein grauhaariger Mann mit ebenso grauem Bart. Auf dem Tisch liegen Photos, daneben eine Halbglas-Brille. Der Mann betrachtet mit einer Augenlupe ein DIN A4-großes Photo ohne aufzublicken:

„Ich versuche nun seit über 40 Jahren, seitdem Du angefangen hast, zu sprechen, Dir beizubringen, daß Du mich nicht Flo nennen sollst …“ Florian von Pichler lächelt, legt Augenlupe und Photo auf den Tisch. „… aber ich werde wohl 100 sein und Du auch schon ein Graukopf, und Du läßt es noch immer nicht, Du Lorbaß!” Pichler steht auf.

„Moin, Onkel Flo!”

„Moin, moin, mein’ Jung’! Er legt ihm die rechte Hand auf die Schulter. „Wie schön, Dich zu sehen!” Die Männer küssen sich vertraut auf die Wangen. Ehe Malvoisin weiter etwas sagen kann erlebt er eine Überraschung, als sein Onkel sich wieder an den Tisch setzt.

„Ich habe Photos von ihm …”

„Von wem hast Du Photos?”

„Na, von ihm − Malte Kröger. Seinetwegen bist Du doch hier, oder?”

Malvoisin ist baff.

„Woher weißt Du das denn schon wieder?”

Sein Onkel lächelt vielsagend.

„Es gibt so viele Vögelchen, die einem etwas zuzwitschern. Es waren schon zwei Möwen hier, un wat de mi nich allens vertellt hebben!”

„Wer war hier…?”

„De Lüüd sludert!”

„Onkel! Wer?” Malvoisins Ton wird energisch.

Sein Onkel ignoriert die Frage.

„Sett di man dol, mien Jung!”

Malvoisin weiß, daß mit seinem Onkel nicht zu reden ist, wenn der nicht will − und setzt sich.

„Kiek Di dat an. Is dat nich’n statschen Kerl west?”

Pichler hält seinem Neffen einige große Abzüge hin, die den nackten Malte Kröger zeigen.

„Florian, wo hast Du diese Aufnahmen her?”

„Na, werden wir nun dienstlich? Du weißt, das zieht bei mir nicht!”

„Onkel Flo, laß’ Dir doch nicht alles aus der Nase ziehn!”

„Erstens hast Du nichts an meiner Nase zu grabbeln, und zweitens möchtest Du Dich vielleicht erinnern, daß ich beruflich Photos auf den Tisch bekomme. Und den Jungen habe ich zusammen mit anderen für einen der neuen Kalender photographieren lassen. Ein Naturtalent. Selten, so ‘was. − Er ist wirklich tot?” Pichler setzt seine Augengläser auf.

„Ja, leider.”

„Weißt Du schon, wer es war?” Er wartet die Antwort seines Neffen nicht ab. „Na ja, den Vertrag hat er unterschrieben.” Pichler überlegt kurz. „Hast Du die Anschrift seiner Familie?”

„Warum?”

„Anweisung des Honorars, was sonst!” Pichler wirft die Photos auf den Tisch und sieht seinen Neffen über den Brillenrand mit abschließender Mimik an.

*

Florian von Pichler hatte Silke Burmester zu sich gebeten. Sie war eine ausgezeichnete Photographin, hatte einige erfolgreiche Reisebildbände gestaltet, auch Bücher zu Schleswig-Holstein photographisch ausgestattet und sogar einmal die Ministerpräsidentin eine Woche lang begleiten dürfen, wobei eine interessante Serie entstanden war. Seit drei Jahren aber hatte sie sich auf Aktphotographie geradezu gestürzt. Silke hatte damals einen unverschämt schönen Freund, den sie während einer Reportage über einen „Mister Fitness”-Wettbewerb kennengelernt hatte.

Ein Meeresbiologe, 27 Jahre alt, 1,85 m groß, 78 kg, dunkelbraune Haare, braune Augen und einen durchtrainierten, exzellent definierten Körper. Und er hatte auch sonst „Hier!” gerufen, als es um die Verteilung männlicher Schönheit gegangen war. Das war im Posing-Slip sehr gut zu erkennen.

Sie selbst war eine Schönheit: Rückenlange, hellbraune Haare, braune Augen, 1,74 m groß, 57 kg, dabei keine dürre Hippe, sondern alles genau da, wo es auch nach ihrer Meinung hingehörte. Ihre Brüste waren ein Meisterwerk der Natur. Auch ihre Mutter konnte sich mit 50 Jahren am Strand im Bikini noch aufsehenerregenderweise blicken lassen, sehr zum Stolz ihres Vaters, der in ihre Mutter immer noch ganz vernarrt war − und dies nicht nur wegen ihrer körperlichen Vorzüge. Und wenn ihre Mutter im Haus morgens nackt herumlief und sie auf Besuch war, da hatte sie sie immer wieder fast ein wenig neidisch beobachtet, denn es war alles straff und glatt und der Busen fest wie bei einem jungen Mädchen. „Kein Wunder, daß Papa so verrückt nach ihr ist”, dachte sie jedes Mal, „auch nach 29 Ehejahren und vier Kindern.”

Sie hatte noch eine jüngere, ebenso hübsche Schwester, die bereits geheiratet hatte und ihr erstes Kind erwartete, und zwei gut gelungene Brüder, wie sie großzügig zugab.

Und nun war sie diesem Manuel Anderson begegnet. Sie fand sofort, daß er unter den anderen jungen Männern extrem hervorstach, von denen einige, wie sie sehr wohl bemerkte, umwerfend aussahen, zwei, drei waren sogar richtig süße Kerle − und dann auch prompt den 1. Platz belegte. Die Reportage war fertig, und sie hatte es geschafft, sich mit ihm zu verabreden. Dabei kam heraus, daß er in Kalifornien studiert hatte, durch seine lange Abwesenheit der Wehrpflicht in Deutschland elegant entkommen war und zu dem ungemein prickelnden Thema „Das Paarungsverhalten der Humboldt-Kalmare” promoviert hatte. Ein so schöner Mann mit Doktortitel. Silke hatte es nicht fassen können. Sein strahlendes Lächeln machte ihn sofort zum Gewinner für sie, der Rest an ihm natürlich auch. Ob es für solch ein Lächeln in Kalifornien extra Kurse gab? Als er ihr dann beim 2. Rendezvous erzählte, daß er in Berkeley bei einem ähnlichen Wettbewerb einmal den 3. Platz gemacht hatte und bei einer reinen Mister-Wahl sogar den 2ten, und das angesichts der auch in den USA bestaunten Tatsache, daß in Kalifornien extrem viele schöne Männer herumlaufen, die keineswegs alle schwul sind, fand sie ihn immer interessanter. Und auf die Frage, wie er denn das hohe Studiengeld aufgebracht habe, ob seine Eltern so reich seien, hatte er unumwunden zugegeben, daß er bei einigen, wie er aber betonte, sehr guten erotischen Produktionen mitgemacht habe, nachdem ihn ein Headhunter am Strand von Carmel angesprochen hatte und unbedingt haben wollte. Er hatte gut verhandelt und für eine angenehme Arbeit sehr viel Geld bekommen.

Er hatte zwischenzeitlich bei einem Begleitservice gearbeitet, aber die Flucht ergriffen, seit ihn eine 50jährige Millionärswitwe in San Francisco nach dem Opernbesuch nicht nur fürs Bett haben wollte, was er ganz angenehm gefunden hatte, sondern partout heiraten wollte. Eine Woche Verdi, Rossini und Wagner hatte er noch unterhaltend gefunden und Mrs. Van Doorn zahlte gut, aber eine Woche Unersättlichkeit − auch seine Potenz kannte Grenzen. So hatte er Reißaus genommen und sich und „ihn” in der Wochenendhütte eines Freundes am Mount Ritter erholt. Ganze vier Wochen hatte er sich versteckt. Silke war erst sprachlos, zeigte aber das breiteste Grinsen ihres Lebens und dann fand sie diesen Manuel Anderson, Dr. Manuel Anderson, einfach nur noch scharf.

Sie hatte keine Probleme, ihn für einen Aktbildband zu gewinnen. Sein Posing war gekonnt, er war extrem photogen, kam wunderbar ‘rüber. Sie kutschierte ihn von einer einsamen Location zur nächsten.

Er hatte seine Stellung in Berkeley aufgegeben. Das Bush-Land war ihm plötzlich zuwider geworden. Er liebte Kalifornien, sicher auch die dortigen Strandschönheiten, trotz mancher menschlicher Oberflächlichkeiten, zumal einige Strandhasen nicht einmal Wasser kochen konnten, aber dieser Chauvinismus, der sich plötzlich extrem breitgemacht hatte, das war ihm zuviel geworden. Sein aus Texas stammender Professor entpuppte sich als geradezu radikaler Bush-Anhänger und das ließ sich mit seinem Denken als Wissenschaftler irgendwann nicht mehr vereinbaren. Er wartete nur noch darauf, daß auch sein Chef die Evolutionsgeschichte anzweifeln oder gar heftig bestreiten würde, aber das hatte er dann doch nicht mehr abwarten wollen und war gegangen.