Mannesstolz

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Nun suchte er, mit seinem letzten Pornogeld auf dem Konto, wie er schmunzelt gesagt hatte, eine Stellung in Deutschland. Das Honorar für den Bildband war ihm sehr gelegen gekommen und die schöne Photographin lag ihm auch − sehr sogar. Silke war Profi, aber sie war auch eine Frau, eine sehr sinnliche. Und bei einem Shooting an einem einsamen Strandabschnitt bei Graal-Müritz, der Assistent war für den Tag schon entlassen, da hatte sie plötzlich die Kamera aus der Hand gelegt und den Mann in die Hand genommen, der mit einem grinsenden „Na endlich!” voll darauf eingestiegen war. Sie hatten sich über die Blaue Stunde hinaus geliebt. Die Luft war herrlich, der Sand war warm, sein Körper war so herrlich warm, ihr Schoß war warm wie nie, und sie brannte in seinem Feuer. Sie genoß es unendlich, eine Frau zu sein.

Zwei Jahre war das so gegangen. Er hatte ihr Angebot angenommen und war in ihr schönes Fachwerkhaus bei Neustadt gezogen. Außer gelegentlichen Artikelveröffentlichungen gegen Honorar fand er keine für ihn passende Anstellung. Beim Jobcenter war er rundweg abgewiesen worden, da er mit einer erfolgreichen Photographin zusammenlebe, die könne ihn ja wohl unterstützen, hatte man ihm seelenlos entgegengehalten. Mit einem ebenso deutlichen wie amerikanischen „Fuck you!” war er aus diesem Selbstzweckverein hinausgestürmt. Er sei überqualifiziert, man wisse nicht, was man mit ihm anfangen solle, hatte der in seinen Augen ebenso ungebildete wie inkompetente Fallmanager gemeint. Der Kerl sah auch schon dumm aus. Hauptsache, der selbst hatte sein Gehalt aus Steuergeldern. Nie wieder würde er dort hingehen, worin Silke ihn bestärkte. Sie machte für Florian von Pichler einen erotischen Kalender mit Manuel, der sich sehr gut verkaufte und gutes Geld brachte. Und der Bildband ging im Internethandel mit über 20.000 Exemplaren weg. Zum Teufel mit dem Jobcenter. Keine Ahnung und 1,50-€-Sklavenarbeit. Mehr hatten die nicht zu bieten. Zeigte sie ihm aber die neuesten Abrechnungen des Verlages, da war ihr Manuel sehr zufrieden und tagelang ein besonders fleißiger Liebhaber. Sie mochte Florian von Pichler sehr. Er war immer liebenswürdig, verstand etwas vom Geschäft und seine Schecks waren stets ein wundervoller Anblick − und gedeckt!

Dann kam der Tag, an dem Manuel extrem aufgekratzt war. Er hatte von einer Forschungseinrichtung, wo man seine Artikel und Aufsätze kannte, die Einladung bekommen, an einem Langzeitprojekt in der Südsee mitzuwirken, das er einfach nicht ablehnen konnte. Vier Wochen hatten sie danach noch, und sie liebten sich, als würden sie sich nie wieder sehen und die größtmögliche Menge an schönen Erinnerungen aufhäufen wollen, um das ertragen zu können.

Erst waren seine handgeschriebenen Briefe noch lang, sehnsuchtsvoll und berstend vor Begeisterung über seine Forschungsarbeit. Dann kamen plötzlich nur noch kurze E-Mails und auch die versiegten allmählich. Ihr Kopfkino spielte ihr klischeehafte Szenen vor. Wunderschöne Inselmädchen, die lasziv vor ihm tanzten, als einzige Kleidung ihre extrem langen Haare, die ihre straffen Brüste bedeckten und die unvermeidlichen Baströcke, die sie für einen solch schönen Mann nur allzu gern würden fallen lassen. Für einen langen Nagel taten diese Mädchen alles. „Bounty” und Co. ließen grüßen. Was konnte sie vom anderen Ende der Welt dem entgegensetzen? Nichts! Ein fürchterliches Nichts! Einmal jedoch tröstete sie sich mit einem hübschen männlichen Model.

Henrik war 19 Jahre, und alles an ihm war groß: sein Körper, sein „Mannesstolz“, seine sexuelle Leistungsfähigkeit, seine Überheblichkeit, seine Dummheit. Seine Physis hatte sie genossen, das ja, aber danach war ihr schal zumute. Als er dann morgens ein Frühstück serviert haben wollte, warf sie ihn kurzerhand hinaus. Nackt stand er vor ihrem Haus, sammelte die ihm nachgeworfenen Klamotten auf, machte ein Gesicht als wolle er sagen, wie sie es denn hat wagen können, Dschungelboy II vor die Tür zu setzen. Sie hörte dann nur ein „Blöde Ziege!” und sah ihn die Landstraße entlanglaufen, vergeblich den Daumen ausstreckend. Dschungelboy II! Kaum mehr als III. Er war nur drittklassig, aber seine Photos verkauften sich gut.

Ein halbes Jahr später bekam sie die Nachricht, daß ihr Manuel bei einem schweren Hurrikan vor seinem Haus von einer entwurzelten Palme erschlagen worden war. Danach verließ sie ihr Haus für Monate nicht mehr. Lebensmittel ließ sie sich bringen. Geld hatte sie genug im Haus, zahlte stumm an der Tür und zog sich wieder zurück in ihr Schneckenhaus.

Nun hatte Florian von Pichler wieder etwas für sie. Einige Rettungsschwimmer. Auf die war sie gespannt. Ihre Lebensgeister kamen zurück.

Man verabredete sich im „Seedeich” in Grömitz. Eine gediegene Atmosphäre für ein erstes Kennenlernen fand sie immer schon wichtig. Sie brachte ihren neuen Assistenten mit, der selbst kurz vorm Photographenmeister stand. Jan, ein netter Kerl. 26, sportlicher Typ, groß, blond, ohne Freundin. Als Mann wirkte er nicht auf sie. Es wäre ihr auch egal gewesen, wenn er schwul gewesen wäre. Er war eine verläßliche Hilfe.

Sie saßen bei einem guten Mineralwasser. Vor der Arbeit, schon gar nicht an heißen Tagen, versagte sie sich und nun auch Jan jeden Alkohol. Sonst gern ein Bier, aber nicht vor der Arbeit.

Als erster kam ein großer, stattlicher Schwarzhaariger herein, der sich fröhlich mit „Hi! Ich bin Malte” vorstellte. Na, das war mal ein Anblick. Der Typ gefiel ihr gleich. Sie konnte es auf Anhieb nicht erwarten, ihn „ohne” zu sehen. Es kam dann noch ein Hannes Süderend, ein gutaussehender, großer Dunkelblonder und eine richtige Schönheit, die sich als Inga Rasmus vorstellte. Sie bestellte für alle ein Wasser und erklärte ihnen, worum es ihr ging. Nach einer halben Stunde schlug sie vor, ob sie nicht zu Probeaufnahmen nach Lensterstrand gehen sollten, womit alle einverstanden waren.

Dort angekommen, fiel es den drei Rettungsschwimmern nicht schwer, sich auszuziehen. Ob man sich dort sonnte oder nun photographiert wurde − egal. Silke betrachtete ihre neuen Models sehr eingehend. Bis auf ein paar blasse Sommersprossen zeigten alle eine makellose Haut und Blinddarmnarben mußte sie auch nicht abdecken. Die jungen Männer lümmelten sich in den Sand und sahen zu, wie Silke Inga abtupfte und ihr ein leichtes Makeup auftrug. Eine Visagistin hatte sie nicht dabei, das konnte sie selbst. Jan legte die Kameras zurecht und entfaltete den Goldspiegel zum Ausleuchten. Inga gefiel Silke sehr, sie sah sich gern schöne Frauen an, aber sie stand nicht auf sie, was sie manchmal bedauerte. Inga stellte sich beim Posing sehr gut an. Fünf Filme machte sie erst einmal voll, da war sie trotz ihres Alters vom alten Schlag. Sie mußte Negative haben. Dann ließ sie sich eine Digitalkamera geben und schoß auch damit über 100 Aufnahmen. Das mußte erst einmal reichen. Immerhin konnte sie Inga damit gleich zeigen, wie photogen sie war, was diese sichtlich freute. Malte und Hannes sahen sich die Bilder auch an und Hannes meinte schmunzelnd, er habe ja schon immer gewußt, was für ein Knaller sie sei. Dafür erhielt er einen sanften Rippenstoß. Er spielte auf extrem getroffen, was Silke gleich ansagen ließ, daß sie keine Lust habe, blaue Flecken wegschminken zu müssen. Raufen sollten sie nach der Arbeit. Inga gab selbstbewußt zurück, die Jungs bräuchten das einmal am Tag. Silke dachte sich, die beiden brauchen mindestens einmal am Tag etwas ganz anderes, sagte aber nichts mehr.

Hannes und Malte nahm Silke anschließend nacheinander einzeln auf. Hannes verzog erst ein wenig das Gesicht, denn geschminkt zu werden, wenn auch nur leicht, damit er nicht glänzte wie ein Speckschwarte, war ihm ungewohnt − Weiberkram. Er machte es dann sehr gut, gab den Aufnahmen durch sein frech-schönes Lächeln eine besondere Note − und er sah schon klasse aus, wie Silke sich dachte. Gesagt hat sie nichts.

Malte machte das Schminken gar nichts aus. Sein Gesichtsausdruck ließ Silke gleich annehmen „Der denkt nur daran, wie er mich rumkriegen kann”. Damit lag sie ganz richtig, und wenn sie ehrlich zu sich selbst war: diesen Typen wollte sie in Aktion erleben. Manuel war tot. Der lebte!

Am Abend konnte sie sich an den Bildern nicht sattsehen. In ihrer Dunkelkammer hatte sie sich gleich an die Arbeit gemacht. Von einigen Aufnahmen fertigte sie die für sie größtmöglichen Abzüge. Nach der Entwicklungsarbeit ging sie erst einmal duschen. Es war immer noch sehr warm und sie zog sich nicht wieder an. Silke lief gern nackt in ihrem Haus herum. Nach dem Trocknen arrangierte sie die Großabzüge in ihrem weitläufigen Wohnbereich am Boden, setzte sich rittlings auf einen Stuhl, legte ihren Kopf auf die verschränkten Arme und genoß den Anblick dieses ungewöhnlichen Exemplares Mann.

Es folgten weitere Shootings. Silke kannte einsame Stellen rund um die Seen der Holsteinischen Seenplatte und auf der anderen Seite wußte sie, wo man ungestört in den Dünen seine Aufnahmen schießen konnte. An einem Tag mit schönem Wellengang gelangen wundervolle Aufnahmen in der Brandung. Inga riß es einmal um, als eine Welle sie so heftig traf, daß es kein Halten mehr gab, aber der Schnappschuß von ihrem Aufschrei brachte alle später sehr zum Lachen. Mit dem Titel „Lebensfreude im Norden” konnte Silke gerade dieses Bild bald danach sehr gut verkaufen. Der gute Florian von Pichler hatte kein Exklusivrecht auf alle Aufnahmen gebucht. Pech für ihn.

Und dann kam der Abend − dieser besondere Abend. Sie hatte lange in der Dunkelkammer gearbeitet, sich nach einer schönen Dusche gesehnt und wollte sich bei einem guten Imbiß einen tränenreichen Liebesfilmabend machen. Ihr war danach. DVDs hatte sie genug. Während sie, sich abtrocknend, vom Bad in die Küche ging, hörte sie einen Sportwagen vor ihrem Haus halten. Sie wand sich das große Handtuch um die Hüften und ging nach vorn, um aus dem großen Fensterbereich nachzusehen, wer denn jetzt noch kam. Daß ihre Brüste nicht bedeckt waren, störte sie nicht. Wem das nicht paßte, der sollte nicht hinsehen. Ganz schön dumm, wer das verpaßte.

 

Silke staunte nicht schlecht, als sie Malte aussteigen sah, der so selbstverständlich aufs Haus zuging, als sei er schon tausendmal gekommen. Sie öffnete ihm die Tür, ehe er klingeln konnte. Malte machte ein überraschtes Gesicht, dann setzte er ein für sie unwiderstehliches Lächeln auf. Sie ging einige Schritte zurück, er kam herein, ohne abzuwarten, ob er auch wirklich hineingebeten würde, warf die Tür ins Schloß ohne sich umzudrehen. Sie wich weiter zurück. Er kam ihr etwas schneller nach, holte sie ein, zog sie an sich, und dann vergaß sie jeden Kuß, den sie je geküßt hatte. Minute um Minute, und alles in ihr rief immer lauter, er möge ja nicht aufhören. Das Handtuch fiel zu Boden. Diese Wärme. Sie drückte sich an ihn, wollte jetzt schon spüren, daß er sie wollte, so wie sie ihn wollte. Dann setzte er ab. Warum setzte er ab? Setzte er ab, weil er … Sie versuchte ihre Gedanken zu sortieren, hoffte … Silke sah wie durch einen Schleier seinen suchenden Blick. Sie deutete nur mit dem Zeigefinger zur Treppe. Malte nahm sie auf den Arm und trug sie in ihr Schlafzimmer, daß er mit schlafwandlerischer Sicherheit fand. Sie hätte ihm so gern erklärt, daß die männlichen Akte an der Wand von der großartigen englischen Malerin Lorna May Wadsworth stammten, aber dazu kam sie nicht mehr.

*

Malvoisin wählt die Nummer, die Christian ihm aufnotiert hat, wartet, und dann …

„Ah, buon giorno. Voglio parlare con la principessa di Varese. − A telefono? Che gioia di Lei udire! − Ho bisogna una informazione di Lei dalle Sua fidanzato il conte Christian von Nordenkamp. − Chi son? Son il commissario von Malvoisin dalla polizia giudiziaria tedesca di Lübeck. − Ach, wie angenehm, Sie sprechen deutsch, Prinzessin. − Ihre Frau Mama (er betont das zweite -a) stammt aus Südtirol! Und schon wächst man mit zwei schönen Sprachen auf. − Prinzessin, ich ermittle in einem Tötungsdelikt … − Nein, machen Sie sich keine Sorgen, Ihrem Verlobten ist nichts passiert. Ein Kamerad von ihm ist ums Leben gekommen und wir müssen diverse Alibis überprüfen. − Wir verdächtigen den Grafen Christian nicht, aber wir müssen dennoch von jedem wissen, wo er zur Tatzeit war. − Richtig. Wann hatten Sie zuletzt Kontakt mit Ihrem Verlobten? − So, gestern abend, und wann da? Bitte erinnern Sie sich genau! − Kurz nach 22 Uhr, und wie lange? − Gut zehn Minuten. Danke, Prinzessin. Es war mir ein Vergnügen, haben Sie vielen Dank und Auf Wiederhören!” Er legt auf, macht sich Notizen.

Malvoisin wählt die Dienstnummer von General Hartmann bei SACEUR an. Er wartet einen Augenblick, dann meldet sich ein Sergeant Major O’Reilly in breitestem texanischem Idiom, seinem irischen Namen zum Trotz. Malvoisin schaltet sein Englisch auf amerikanischen Akzent um.

„This is Commander von Malvoisin speaking, German Police. Is Major General Heinrich Hartmann around? − Don‘t care for my last name (der Amerikaner hatte den Namen als Mällweusinn wiederholt), just connect me with the General. − It‘s police stuff, none o’ your business, Sarge. − Just do what I asked ye to do. − Wanna lose your stripes? Put the General on and make it hasty!”

Malvoisins Laune hat einen energischen Pegel erreicht. Er ist kurz davor, die Geduld zu verlieren. Dieser texanische Hauptfeldwebel scheint ihm als Büroleiter eine echte Fehlbesetzung zu sein. Wahrscheinlich 30 Auszeichnungen auf der Brust, jede Menge Auslandsstreifen auf dem linken Uniformärmel, in Galauniform aufgeputzter als jeder deutsche General, und intelligent wie sein Gottseidank pensionierter Oberbefehlshaber im Oval Office. Versteht nichts, was nicht englisch klingt und verwechselt Austria mit Australia. Wenn der Kerl wenigstens aus Louisiana stammte, dann wären ihm französische Namen geläufig − vermutlich. Drei Sprachen − trilingual, zwei Sprachen − bilingual und eine Sprache − Amerikaner! Diese ironische Selbsteinschätzung eines erstaunlich gebildeten 18jährigen Schülers in Richland Center, Wisconsin kommt ihm wieder in den Sinn. Der junge Amerikaner grinste dabei über das ganze Gesicht. He knew his people. 1984 war das, als Malvoisin in der A. Keith Brewer Science Library während eines US-Studienaufenthaltes einige Wochen mitgearbeitet hatte. In diese Gedanken hinein meldet sich endlich eine energische Stimme.

„ − Hauptkommissar von Malvoisin, Kripo Lübeck, Herr General. − Ja, bin ich (er wird schon wieder nach seinem Vater gefragt) − Ich ermittele in einem Tötungsdelikt. − Ein Kamerad Ihres Sohnes namens Malte Kröger. − Sie kannten ihn? − Welchen Eindruck hatten Sie von ihm? − − − Sie hielten ihn für homosexuell? Was brachte Sie zu der Annahme? − − −” Malvoisin verkneift sich jeden Kommentar, denn es war schließlich nicht der Zweck dieses Anrufes, einen 85er − Malvoisin kommt unwillkürlich die Marinespottbezeichnung für Angehörige des Heeres in den Sinn − daraufhin zu belehren, daß es den Paragraphen 175 nicht mehr gibt.

„Herr General, der Grund meines Anrufes ist folgender: Wann hatten Sie zuletzt Kontakt mit Ihrem Sohn Rudolf in Kellenhusen? − So, gestern abend per Telephon. Wann genau? − Gegen 22.30 Uhr? − Nein, Herr General, aber wir müssen trotzdem die Alibis aller Personen überprüfen, mit denen der Getötete Kontakt hatte. Danke, Herr General. Das war es erst einmal. Meine Empfehlung, Herr General. Ende.” Er legt auf.

Gegen den Mann war sein Vater ein Goldstück. In mancher Beziehung ebenso kalt, aber bedeutend wertvoller. Er ist froh, sein Büro in Lübeck wieder verlassen zu können. Nach diesem Telephonat braucht er sowieso erst einmal frische Luft.

*

Malvoisin hält in Grönwohldshorst, kurz vor der Einfahrt zum Eutiner Staatsforst, vor einem fast 100 Jahre alten roten Backsteinhaus. Er schätzt es unwillkürlich auf vielleicht 100 bis 120 Quadratmeter in der Wohnfläche. Eins dieser alten Häuser, das, wie viele in der Gegend, keinen Keller hat. Dafür stehen links angebaut zwei Garagen.

Es gehört der Witwe Hansen. Der Mann ist früh gestorben, kleine Rente. Der Sohn ist auf der anderen Seite im Friedrichskoog Krabbenfischer, bringt Frau und Kind mal gerade so durch. Die Tochter lebt geschieden in den USA und hat nicht das Geld rückzuwandern. Sie selbst muß vermieten. Malvoisin hat sich erkundigt. Er geht durch den ordentlich gehaltenen Vorgarten und klingelt. Nach wenigen Augenblicken öffnet eine kleine, etwas pummelige, schon ergraute Frau, mit einer vor dreißig Jahren sicher modernen Brille und sieht ihn mit leichtem Mißtrauen, aber keineswegs unfreundlich an. Sie trägt eine hübsch altmodische Haushaltsschürze über ihrer sicher früher einmal modernen Alltagskleidung und ihre nackten Füße stecken, der Hitze geschuldet, in Sandalen. Es sind alte Sandalen, die bessere Tage gesehen haben, und damals bestimmt 120 D-Mark gekostet haben − mindestens.

„Ja bitte, was wollen Sie denn?” Ihr Blick wirkt etwa wie „Was’s das denn für einer, mit so’m komischen Hut?”, als der ihr gänzlich Unbekannte seinen Dienstausweis zückt und sich mit „Malvoisin, Kripo Lübeck” vorstellt.

Mit einem „Ich hab’ nix angestellt und Gemüse auf’m Tisch” ist die Tür wieder zu. „Was will denn der, und was hat der für’n komischen Namen? Spricht so durch die Nase!” Die in ihrer Küchenarbeit Gestörte beschließt aber, ruhig zu bleiben.

„Wat schall dat ok, nu füünsch to warn?” murmelt sie vor sich hin.

Malvoisin ist begeistert. Ob der Steuerzahler es jemals zu schätzen wissen wird, welcher Aufwand nicht selten getrieben werden muß, um eine kleine, ein Alibi bestätigende Auskunft zu bekommen? Aber er muß ja auch Einkommenssteuer bezahlen, und nicht zu knapp, und so schätzt er sich in diesem Moment einfach mal selber und klingelt erneut.

Es dauert nicht lang und er hört hinter der Tür ein „da schall doch de Düwel …” Gleich darauf öffnet sich ruckartig die Tür und die nun mit einem beachtlichen Besen bewaffnete Witwe Hansen holt tief Luft, aber ihr gedachtes „Dem werd’ ik nu wat vertellen!” bleibt stecken.

Malvoisin hat seinen Rembrandt in der Linken und hält der kleinen Witwe mit seiner Rechten seinen Dienstausweis direkt unter die Nase und verkündet mit erhobener Stimme „Ich kann Sie auch mitnehmen nach Lübeck, Frau Hansen!”

Nee, mitnehmen lassen will sie sich ja nun gar nicht und was soll sie denn in Lübeck. Die Kirchen und das Holstentor kennt sie seit ihrer Kindheit, die werden heute auch nicht anders aussehen.

„Wat schall ik denn in Lübeck?”

Vorsichtshalber hält sie den Besen noch fest. Malvoisin atmet tief durch.

„Frau Hansen! Ich habe nur eine Frage …”

„Ja, warum sagen Sie das nicht gleich. Und zeigen Sie mir mal genau Ihren Ausweis. Ich hab’ Ihren Namen nicht verstanden. Sie sprechen dabei so komisch durch die Nase.”

Malvoisin gibt ihr seinen Ausweis, damit sie den Abstand zu ihren Augen selber ausloten kann, sonst bekommt er eine halbe Stunde lang Anweisungen, wie er ihr seinen Ausweis gefälligst hinhalten soll, damit sie ihn endlich lesen kann.

„Mallfeusin? Heißen Sie so? Und ein ‚von‘ sind Sie auch noch? Wohnen Sie denn hier in der Gegend?” Frau Hansen sieht ihn fragend an und dann wieder den Ausweis. Sie vergleicht das Photo.

„Da waren Sie aber auch noch’n büschen jünger, nech?”

Das Unternehmen „Alibi-Überprüfung” verkehrt sich ins Gegenteil. Malvoisin ist der Befragte. Als Frau Hansen seinen Dienstausweis umdreht, um auch noch die Rückseite zu studieren, reißt Malvoisin ihn wieder an sich und Frau Hansen wird wieder defensiv mit ihrem Besen. Malvoisin steckt seinen Ausweis schnell ein und holt tief Luft. Jetzt gilt es. Er bedauert, Hauke Tewes nicht bei sich zu haben. Der hätte wahrscheinlich nur gesagt: „Vertell mi dat, mien leve Fru, sünst mut ik füünsch warn!”

„Frau Hansen! Sie haben den Grafen Christian von Nordenkamp als vorübergehenden Mieter hier. Ist das richtig?”

„Wieso vorübergehend? Der nette Herr Christian geht doch nicht vorüber! Er kommt immer direkt auf’s Haus zu und geht nach oben! Der wohnt doch bei mir!”

Malvoisin will das jetzt zu Ende bringen, sonst schlägt er Wurzeln.

„Genau, und wann ist er gestern abend ins Haus gekommen?”

„Warum interessiert Sie das? Ik sluder doch nich!”

Malvoisin kämpft mit seiner Fassung. Er ist gottfroh, nicht im Ostfriesischen ermitteln zu müssen. Gegen die Schweigsamkeit dort auf dem Land ist der Karthäuserorden ein Schwätzerverein. Und die Leute können notfalls auf Friesisch umschalten, dann haben sie zwar etwas gesagt, aber kein Mensch versteht sie. Diese kleine Madame aber schafft ihn gleich.

„Frau Hansen! Ich ermittele in einem Tötungsdelikt und ich muß wissen …”

“Wat? De hat een abgemurkst? Den schmitt ik ja glieks rut!” Frau Hansen zeigt eine mehr als entschlossene Mimik. „Möörders in mien Huus, dat gifft dat nich!”

Malvoisin reißt langsam die Geduld und Frau Hansen den Besen weg. Jetzt ist sie erst einmal entwaffnet. Die Schrecksekunde nutzt er.

„Frau HAN-SEN!! Wann ist der Graf Nordenkamp gestern abend ins Haus gekommen? Er hat niemanden abgemurkst, aber er hat den Toten vom Strand …” Malvoisin ist sich sicher, daß die Dorftrommeln Grönwohldshorst längst erreicht haben “… gekannt, und wir müssen wissen, WO ER ZUR TATZEIT WAR!”

Frau Hansen sieht ihn entgeistert an. Ohne Besen wird sie sich wohl nicht gut wehren können. Und verdorich, der Mann wirkt so entschlossen. Sie spricht ganz leise.

„Dat wöör Klock teihn, as Herr Christian na Huus kööm is.”

„Also seine Angabe 22 Uhr stimmt.”

„Und ist er noch mal gegangen?

„Ne, he hett noch telephoneert un denn sien Licht utmookt. Ik bün denn ok to Bett gohn un glieks inslopen.”

Malvoisin atmet auf.

„Sehen Sie, Frau Hansen, das war’s schon. Fix bedankt un tschüs ok!”

Malvoisin macht kehrt und sieht zu, daß er wegkommt. Während er die Fahrertür seines Wagens öffnet und seinen Rembrandt auf den Beifahrersitz wirft, bemerkt er, daß Frau Hansen ihm auf den Besen gestützt nachsieht. Er hat den Eindruck, sie überlege immer noch, was das eben alles sollte.

*

Malvoisin kommt zur DLRG-Station. Er fragt einen vor dem Gebäude mit Fernglas stehenden Rettungsschwimmer:

„Wo finde ich Ihre Kollegin Inga?”

„Da vorn, auf dem Hochsitz.”

Der junge Mann deutet in dessen Richtung.

„Danke, dann weiß ich schon.”

Hannes Süderend sieht Malvoisin nach, der durch den Sand stapft, nimmt das Glas wieder hoch und sucht sein Beobachtungsfeld ab.

 

Am Hochsitz angekommen, tippt Malvoisin Inga an den großen Zeh.

Sie beugt sich leicht vor, schaut ungehalten herunter.

„He, was soll das?“

Beide sehen sich an.

„Ach, Sie sind‘s, Herr Kommissar. Sie wünschen?”

„Ich habe mit Ihnen zu reden.”

„Ich habe Wache, wie Sie wohl bemerkt haben”, kommt es etwas patzig zurück. Sie sieht wieder auf See hinaus.

„Das mag sein, aber kommen Sie bitte trotzdem herunter. Die Fahrt zum Präsidium wäre weiter!” Die „Einladung“ ins Präsidium zieht immer.

Inga verdreht die Augen, nimmt mit leichter Zornesfalte auf der Stirn das Funkgerät hoch.

„Matz, Inga hier. Komm’ bitte und vertrete mich ein paar Minuten. Der Edelcop aus Lübeck will ‘was von mir. Ende.”

Sie steigt herab. Einen Augenblick später kommt ein junger Mann aus der Station herunter. Malvoisin weiß nicht recht, ob er sich für den „Edelcop” geschmeichelt fühlen oder eher ärgern soll.

Matz mault.

„Ich bin eigentlich gar nicht mehr hier, mach’ nicht so lang!”

Malvoisin wendet sich dem „Ungnädigen“ zu.

„Sehr freundlich von Ihnen, junger Mann”, und zu Inga gewandt, „Lassen Sie uns ein paar Schritte gehen.”

Inga, in Shorts und Bikinioberteil, zieht ihre Sportjacke über, schließt sie aber nicht. Während sie sich anzieht, sieht Malvoisin ihr unwillkürlich zu und jetzt fällt ihm erst richtig auf, wie hübsch Inga ist; und sie hat eine Figur − da kann man schon nervös werden, als armer Mann, auch als verheirateter. Er kratzt sich am Kopf, genau da, wo er sich immer kratzt, wenn er nicht recht weiß, was er denken soll.

„Fertig. Wir können.”

Hätte sie das zu Langeland gesagt, der wäre auf dumme Gedanken gekommen, aber nur für einen Augenblick, denn auch dieser freche Schürzenjäger ist Profi genug, um zu wissen, wann er „dumme” Gedanken zu Ende denken darf. Malvoisin und Inga stapfen zurück auf die Promenade, lassen eine junge Mutter mit ihrem Kinderwagen vorbei und reihen sich ein in die Badegäste, die in beide Richtungen unterwegs sind, schwatzend oder eisschleckend, ihren kleinen ausbüxenden Kindern nachlaufend, auf dem Weg zum Essen oder einfach zu ihrem Strandkorb. Da flanieren die Blassen, die gerade erst angekommen sind und immer noch so wirken, als wären sie im Alltagstrott zu Hause, und die Gelassenen, die schon Sonnenbräune haben und viel ruhiger daherkommen.

Beide gehen erst wortlos nebeneinander her. Man könnte sie für ein Pärchen mit Altersunterschied halten, das sich gerade gestritten hat. Beide beobachten sich aus den Augenwinkeln. Sie kommen an kleinen Geschäften vorbei, haben aber keinen Blick für die Auslagen.

Der Lautsprecher übertönt alle Gespräche, die gesprochenen und die verschwiegenen:

„Achtung, Achtung. Werte Gäste, eine Durchsage der DLRG. Der kleine Thomas sucht seine Eltern. Er ist vier Jahre alt, nackt und trägt eine dunkelblaue Baseballkappe. Thomas kann in der DLRG-Station abgeholt werden. Der kleine Thomas, vier Jahre alt, nackt, mit dunkelblauer Baseballkappe wartet bei der DLRG auf seine Eltern.”

Der kleine Ausreißer hatte mit tränennassen Augen und Schüppchen tapfer vier Fingerchen hochgehalten, als ihn Kallweit nach seinem Alter fragte. Auf die Frage, wo denn seine Mama sei, hatte er schluchzend mit seinem Zeigefingerchen „Da!” auf den Strand gedeutet. Wie immer in solchen Fällen, sehr hilfreich.

Die Besitzerin der „Schatzkiste” steht vor ihrem Laden und sortiert neue Ansichtspostkarten ein. Sie bemerkt Malvoisin und Inga, kennt beide als Kunden.

Malvoisin hatte bei ihr einen Bernsteinanhänger für seine Frau gekauft, sich ihr als Neubürger vorgestellt und ein kunsthandwerkliches Namensschild für sein Haus beschriften lassen.

Inga erwarb jedes Jahr mindestens einen schönen Teetopf bei ihr.

Sie ist eine nette Frau mittleren Alters, die sich auch mal Zeit für einen Schwatz nimmt, wenn nicht gerade Badegäste unbedingt etwas Geld bei ihr lassen wollen. „Was haben der Kommissar und die Inga wohl miteinander zu bereden?”

Frau Klamüsian sieht den beiden nach. Ein Kunde lenkt sie ab. „Sagen Sie bitte, was kostet diese Bernsteinbrosche? Und haben Sie auch Bernsteinketten mit geschliffenen Steinen? Meine Großmutter hatte eine, noch vor dem Krieg in Königsberg gekauft, und jetzt möchte ich meiner Frau eine zum Hochzeitstag schenken. …”

Antje Klamüsian kennt das schon. Zu manchen Schmuckkäufen werden halbe Lebensgeschichten mitgeliefert, manchmal sogar sehr interessant, und sie ist die liebenswürdige Geduld in Person. Auch das gehört zu der angenehmen Ruhe, die dieses kleine Ostseebad auszeichnet.

Beide betreten gerade rechtzeitig das Ladeninnere. Zu einem der zahlreichen unterhalb der Dachkante an der Mauer klebenden Schwalbennester war gerade ein Altvogel zum Füttern seiner ständig hungrigen Jungen an- und abgeflogen. Ein Jungvogel hält anschließend seinen Achtersten aus dem Schlupfloch und scheißt im hohen Bogen auf diese Welt − mit gekonntem Schwung über das Schietbrett hinaus, das − meistens − zusätzliche Reinigungsarbeiten verhindert. Der schmierige weiße Klecks landet genau da, wo Augenblicke zuvor noch Frau Klamüsian und der Bernsteinkunde standen.

In der DLRG-Station spielt sich derweil eine herzzerreißende Wiedersehensszene ab.

Eine aufgelöste junge Mutter, vielleicht 25, mittelgroß, sehr attraktiv, schwarze Haare, mit flotter Kurzfrisur und einem Bikini, der fast schon in den Bereich der Notwendigkeit polizeilicher Erlaubnis gehört, kommt herein.

„Wo ist mein Kleiner? Wo ist mein Junge?”

Thomas entdeckt seine weinende Mutter und rennt schnurstracks auf sie zu.

„Mama!”

Sie nimmt ihn hoch und herzt und drückt ihn. Mama ist zurück, der Kleine ist sofort wieder guter Dinge und strahlt über alle Backen. Der Mutter muß Kallweit erst einmal ein Papiertaschentuch reichen. „Sein Vater ist tödlich verunglückt. Ich hab’ nur noch ihn.” Sie küßt ihren Jungen und herzt ihn. „Haben Sie vielen Dank!”

„Beruhigen Sie sich. Auch dafür sind wir da.” Kallweit gibt sich ganz väterlich. Der kleine Nackedei und seine Mutter verlassen die Rettungsstation. Sie hören nicht mehr, daß Hannes schmunzelnd zu Kallweit sagt:

„Könnt Ihr nicht mal durchgeben: Hannes, 22, ist verlorengegangen. Er ist nackt und trägt eine blaue Baseballkappe. Man kann ihn bei der DLRG abholen. Ob dann auch so eine Wahnsinnsfrau kommt?”

Kallweit sieht ihn sehr dienstlich an, was Hannes’ freches Grinsen keineswegs verschwinden läßt. „Mach’, daß Du ‘rauskommst!”

„Man könnt’s ja mal versuchen …” Mit einem breiten Lächeln sucht er das Weite.

Kallweit sieht ihm kopfschüttelnd nach, muß aber doch grinsen, worauf seine Jungs so alles kommen, und setzt sich an seinen Schreibtisch.

„Lümmel!”

Bis zum Aussichtsturm am Ende der Promenade, gegenüber dem Café Neptun, dort wo der Weg zum Leuchtturm Dahmeshöved beginnt, hat sich zwischen Malvoisin und Inga eine belanglose Plauderei entwickelt, aber dann bleibt er stehen und fragt gezielt:

„Wann haben Sie Malte denn zum ersten Mal getroffen?”

„Das war drei Jahren. Und er war auch damals schon ein Schürzenjäger, falls Sie das wissen wollen.”

„Hatte er auch ein Auge auf Sie geworfen?”

„Eines? Der hätte mich sogar durch ein Glasauge angemacht!”

„So schlimm?”

Beide gehen weiter in Richtung Leuchtturm.

„Sie sind doch selbst ein Mann. Was machen Sie denn, wenn die Hormone toben?”

„Dann freut sich meine Frau!”

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