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Christoph Kessel

Nächster Halt:

Darjeeling-Hauptbahnhof

Eine Weltreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln

Christoph Kessel »Nächster Halt: Darjeeling-Hauptbahnhof,

Eine Weltreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln«

Texte: © Copyright by Christoph Kessel

Satz: Christoph Kessel

Photos: Christoph Kessel

Karte: Helmut Zeuner

Verlag: Christoph Kessel

ck-africa@web.de

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN 3-86582-257-6

Inhalt

Auf geht’s Mainzer auf geht’s!

Drei Länder auf einer Insel

Inselhüpfen nach Norden

Unterwegs in Snæland

Europa ade – Willkommen in der »Neuen Welt«

Neu gefundenes Land und ein bisschen Europa in Amerika

Auf durch Amerika – ohne Auto

Der »Dog« und seine Tücken

Fans und Football

Abschied von Freunden

Goldener Herbst im sonnigen Westen

¡Hola! – Ankunft in Lateinamerika

Tequila und Wendekreise

Endlich wieder ein Zuhause

Sohlenschnitzen und Hausaufgaben

Immer wieder Palenque!

Reggae, Rum und Rasta

Die sichere Vulkanbesteigung

Weihnachten am Strand

Fiesta Columbiana

Eingeschmiert, angeschmiert, aber nicht abgeschmiert

Pinguine in der Wüste und Schneeberge vor dem Fenster

Prima Klima in Lima?

Inseln, biologisch abbaubar

Land der unbegrenzten Hochebene

Abnehmen einmal anders

Kreuzfahrt ans Ende der Welt

Mitten im Nichts

Polyglottes Inselhüpfen

Kaffee trinken, E-Mail schreiben und Schwätzchen halten

Das gespaltene Land

Der Treffpunkt

Blasmusik im Outback

Grenzen und ihre Hürden

»Hello Mister!«

Ostermarsch durch den »Jurasic Park«

Fan Akquisition für Mainz 05

Babylonisches Religionsgewirr

»Selamat Tinggal« Südhalbkugel

Unfreiwilliges Abenteuer

Leben im Jahr 2546

Reise in die Vergangenheit

Rückkehr zur Meinungsfreiheit

Erholung am Dach der Welt

Das »Aschram« von Varanasi

Vom Chai zum Scheich

Unterwegs auf der »Achse des Bösen«

Ansichten über den großen »Satan«

Abschied von der Abstinenz

Merhaba Europa – Güle güle Asia

Von den Türken nach Siebenbürgen

Rückkehr ins Euro-Land

Mainz bleibt meins

Nachbetrachtung

Auf geht’s Mainzer auf geht’s!

Etappe: Von Mainz, Deutschland 50° Nord, 08° Ost (GMT+2) nach Bangor, Cymra 53° Nord 05° West (GMT+1): 1.800 km – Total 1.800 km

Bangor, 24. August 2002

Sieben Uhr morgens an einem sonnigen Tag im August 2002 am Mainzer Hauptbahnhof: Schlaftrunken warteten einige Menschen auf den Zug, der pünktlich auftaucht, um alle Fahrgäste rechtzeitig zur Arbeit zu bringen. Alle? Nein, denn natürlich ist der Begriff Arbeit für mich nun ein Jahr lang zu einem Fremdwort geworden. Schließlich habe ich mir doch in den Kopf gesetzt, einmal um unseren Planeten zu fahren – mit öffentlichen Verkehrsmitteln und möglichst ohne Flugzeug. Schnell noch ein letzter Gruß aus dem Fenster in Richtung meiner Heimatstadt, bevor ich mit dem Regional Express auf die große Reise nach Saarbrücken startete. Ein wenig mulmig wurde es mir nun doch auf dieser ruhigen, angenehmen Bahnfahrt. Wie wird das Reisen in Lateinamerika, in der Südsee oder in Asien funktionieren? Werde ich überall in der Lage sein, mich zu verständigen? Wie komme ich von Australien wieder nach Hause? Schließlich hatte ich nur Flugtickets für die Atlantik- und Pazifiküberquerung in der Tasche? Ich verließ mich schließlich auf mein gutes Gefühl, das ich von früheren Reisen her bereits kannte, und das mir sagte, dass es immer irgendwie weiter geht.

Ausgeruht in der saarländischen Landeshauptstadt angekommen, wurde ich mit den Tücken der Bahnprivatisierung konfrontiert. Eigentlich wollte ich nur schnell noch einmal auf Toilette gehen, doch ich nun musste unter den folgenden »Menüs« wählen: Toilette 30 Cent, Pipibox 20 Cent, Händewaschen zehn Cent. Leider gab es kein »Super-Sparmenü«, sodass ich nochmals 30 Cent für Pipi plus Hände waschen inklusive Seife und Trocknen investieren musste. Anschließend war Schluss mit Deutschland, und das nächste Land stellte sich auch gleich richtig vor.

Trotz weggefallener Grenzkontrollen behandelten die französischen Polizisten jeden Passagier des Eurocity nach Metz so, als handelte es sich um Osama Bin Ladin persönlich. Ein Afrikaner hatte keinen Personalausweis oder Pass griffbereit. Daraufhin startete das große Theater, das für Frankreich so typisch ist und nach dem Drehbuch »Viel Lärm um nichts« abläuft. Der Afrikaner wurde in immer lauterem Ton aufgefordert, seinen Pass zu zeigen. Dieser lehnte dies mit Verweis auf das Schengener Abkommen ab. Also erschien ein zweiter Polizist, sowie wenig später der SNCF{1}-Beamte und jeder schrie fortan so gut wie er konnte. Die Polizei wollte den Pass, der Bahnbeamte bestand auf Pünktlichkeit, der Afrikaner auf die persönliche Freiheit. Schließlich übergab er ein Papier, das die Gemüter zunächst aber nicht beruhigte. Der Beamte sowie die Polizisten zogen sich allerdings nun zu Beratungen zurück, und der Zug fuhr endlich weiter. Ab und zu kam der Beamte noch einmal vorbei und meckerte den Afrikaner wegen der Verspätung an. Schließlich gab man ihm aber das Papier zurück, und es herrschte wieder Ruhe: wie gesagt, viel Lärm um nichts. Im Bahnhof von Châlons-en-Champagne hatte ich fast eine Stunde Aufenthalt und wollte mich vom Geschrei im Zug mit einem angenehmen ruhigen Picknick auf dem Bahnsteig erholen. Leider hatte ich die Rechnung ohne den »DJ« am Ansagepult gemacht. Kurz nachdem ich aus der Bahn ausgestiegen war, sollte ein anderer Zug auf Gleis 1 ohne Halt durch den Bahnhof rollen. Diese Ansage wurde zur Dauerbeschallung, da sie mindestens fünf Mal wiederholt wurde. Nachdem der Zug mit etwa 10 km/h am Gleis vorbeigerauscht war, wurde sie, um ganz sicher zu sein, dass jeder es kapiert hatte, eine weiteres Mal abgespielt. Anschließend wurde sie auf Gleis 2, auf dem ich mich gerade befand, ebenfalls wiederholt. Danach musste verkündet werden, dass nun der Regionalzug aus Verdun ankommt, später musste jeder Bescheid wissen, dass mein Zug nach Reims ca. fünf Minuten Verspätung hatte. Kurz bevor der Zug einrollte, wurde über dieses »Ereignis« ebenfalls informiert. Langsam wurde ich fast taub, doch mit Oropax war ich gegen die Krachmacher der SNCF gewappnet.

In Reims beendete ich meinen ersten Reisetag in der Champagne ohne Gehörschaden aber dafür mit einer Führung durch die Keller des Gesöffs, das den selben Namen trägt, wie diese Region. Ich lernte, dass bei der Produktion von Champagner Sirup beigemischt wird. Je nachdem wie viel Sirup die Produzenten hineinkippen, heißt der Stoff »Sec« oder »Demi-sec«. Bei der Führung durch den Keller entgingen wir nur knapp einer Katastrophe, da natürlich Touristen alles begrapschen möchten, so auch die horizontal liegenden Flaschen, in denen es gerade gärte. Zum Glück wurde gerade noch darauf hingewiesen, die Flaschen nicht zu berühren. Schließlich können diese bereits durch geringste Erschütterungen explodieren. Zum Abschluss erhielt ich eine Kostprobe. Ein Glas Champagner zum Start einer Weltreise ist sicherlich der Situation angemessen, seitdem ich aber die Sache mit dem Sirup erfahren habe, denke ich zu wissen, warum ich von diesem Gesöff immer einen »dicken Schädel« bekomme. Deshalb war mir von da an der gute alte Gerstensaft natürlich noch sympathischer.

Am nächsten Tag stand lediglich die kurze Fahrt mit der Bahn durch endlose Weinberge in der Champagne nach Paris auf meinem Fahrplan. Statt des touristischen Besuchprogramms schaute ich bei Peter, einen Mainzer Freund, der dort studierte, vorbei. Es war ein schönes Gefühl, noch einmal jemanden aus der Heimat zu sehen, ehe es nun auf unbestimmte Zeit hieß, auf alles Vertraute und Gewohnte zu verzichten. Die nächste Etappe führte in die Bretagne, genauer gesagt nach St. Malo. Anders als in den meisten Ländern mit Eisenbahnnetz kommt man in der Grande Nation{2} mit dem TGV{3} tatsächlich wesentlich schneller als mit dem Bus oder dem Auto voran. So befand ich mich nach knapp zwei Stunden Reise 400 Kilometer weiter westlich auf dem Globus, und ich konnte die graue Granitfestung von St. Malo bei relativ gutem Wetter besichtigen. Überhaupt habe ich bisher mit dem Wetter viel Glück gehabt. Ich war schon gespannt, wie dies in Großbritannien sein würde.

Da ich mich nicht dazu durchringen konnte, vom kulinarischen Paradies Frankreich direkt ins »Land von Fish and Chips« zu fahren, nahm ich zunächst die Fähre von St. Malo aus zur Kanalinsel Guernsey. Diese gehört zwar seit 1066 zum Vereinigten Königreich, aber sie bietet laut Reiseführer doch noch viele französische Einflüsse – hoffentlich auch kulinarischer Art. Guernsey, wie auch ihre Nachbarinsel Jersey, ist weder Teil der EU noch zählt sie zu Großbritannien. Vielmehr können die Kanalinseln in fast allen Belangen selbstständig entscheiden. Staatsoberhaupt ist die britische Königin. Dank dieser Autonomie hat man eigenes Geld und eigene Briefmarken. Glücklicherweise akzeptiert man dort auch das britische Pfund, in »Mainland«{4} jedoch werden Geldscheine der Kanalinseln nicht akzeptiert. Aufgrund des warmen Golfstroms wachsen auf Guernsey die unterschiedlichsten Palmenarten und Blumen, sodass die Insel wie ein großer Garten auf mich wirkte, in dem es sich wunderbar Rad fahren, oder malen wie Renoir beziehungsweise dichten wie Victor Hugo lässt. Mir fiel die Hilfsbereitschaft und der höfliche Umgang der Menschen miteinander auf. Ich schaute beispielsweise nur etwas unbeholfen auf den Fahrplan – sofort sprang mir jemand zur Seite und fragte, ob ich Hilfe bräuchte. Abends blieb mir aus finanziellen Gründen schließlich leider doch nur die Möglichkeit, Fish and Chips zu essen, da die ansonsten angebotenen Köstlichkeiten meinen finanziellen Rahmen total gesprengt hätten. So sprengte ich mir nun stattdessen fast meinen Magen, da dieser mit Fett, Fett und nochmals Fett bombardiert wurde.

 

Danach konnte mich in Mainland kulinarisch nichts mehr schockieren. Ich fühlte mich daher nun bereit, die Insel an derselben Stelle bei den Kreidefelsen von Poole zu betreten, an der Lord Baden Powell{5} sein erstes Pfadfinderlager veranstaltet hatte. Von Poole aus reiste ich weiter nach Salisbury, im Südwesten Englands gelegen. Bereits auf dieser ersten Fahrt wurde ich positiv überrascht. Die Bahn, die als so schlecht gilt, war pünktlich. Nur was den Komfort anbetraf, war sie unterstes deutsches S-Bahn-Niveau. Danach die nächste Überraschung: blauer Himmel, Sonnenschein und wunderschöne Parklandschaften, die bei diesem Sonnenschein so richtig strahlten. In Salisbury angekommen, gab es wieder eine Überraschung. Die Stadt, wie nun viele, die ich mittlerweile bereist habe, ähnelt einem Freilichtmuseum, da sie von beiden Weltkriegen verschont geblieben war. Das Kulinarische bot eine weitere Überraschung. Da ich in Hostels selbst kochen konnte, machte ich um das fette eklige Essen einen großen Bogen. Dank Lidl, Safeway und Tesco{6} lebte ich relativ gut, gesund und günstig.

Der Grund für meinen Besuch von Salisbury lag allerdings nicht an den Supermarktketten, sondern an einem Steinhaufen, der etwa 5000 Jahre zuvor dort errichtet worden war. Glücklicherweise machte ich eine Fahrradtour, um nach Stonehenge zu gelangen, denn leider war diese berühmte Attraktion nicht wirklich attraktiv. An grünen Wiesen vorbeiradelnd, die jeden Fußballer ans Paradies erinnern würden, wenn er normalerweise die Äcker der Bundesliga gewohnt ist, entdeckte ich plötzlich eine riesige Herde Touristen hinter einer Kuppe, die über die Straße pilgerte. Dann erst sah ich den Grund, warum sich diese Herde formiert hatte. Einige bis zu 50 Tonnen schwere Steinbrocken waren so angelegt worden, dass man zur Winter- und Sommersonnenwende den Sonnenauf- beziehungsweise -untergang zwischen den Steinen sehen kann. Viel mehr ist über Stonehenge leider nicht bekannt, bis auf die Tatsache, dass ca. 600 Leute notwendig waren, solche Felsbrocken über weite Strecken zu schleppen. Diese stammen von einem etwa 30 Kilometer entfernten Berg. Die Fahrradtour durch die südenglische Landschaft war aber auch so wunderschön, da ich dabei die Engländer bei ihrer Lieblingsbeschäftigung beobachten konnte: dem Rasen mähen. Anders als in Deutschland wird in England nicht das Auto aufgemotzt und poliert, sondern der Rasenmäher, den es natürlich in den tollsten Tuningvarianten mit fettem Spoiler gab.

Eine anderes Hobby der Engländer ist das »Queuing«{7}. Bevor das Postamt öffnete, standen die Menschen bereits in Reih und Glied in einer Schlange, die bis um die Ecke des Gebäudes reichte. Nach dem Öffnen wurde nicht gedrängelt, sondern im Marschschritt an die Abzäunungen für die »offizielle« Schlange getreten. Diese Sitte ist fair und sollte bei uns mit etwas weniger Passion auch beim Anstehen für Karten des 1. FSV Mainz 05{8} eingeführt werden.

Von Salisbury fuhr ich weiter nach Bath, das für seinen georgianischen Baustil bekannt ist, und von der UNESCO zum Welt-Kulturerbe erklärt wurde. Dieser Stil ist, um es banal auszudrücken, folgendermaßen zu beschreiben: kleine Reihenhäuser mit unzähligen Schornsteinen, gebaut im 18. Jh., die aneinander gedrängt aus 50 Häusern oder mehr bestehen. Vom Bürgersteig gelangt der Besucher über eine Brücke zum eigentlichen Haus. Unter der Brücke befindet sich eine weitere winzige Wohnung, die dazu noch eine Kellerterrasse besitzt. Vom Bürgersteig aus kann man als Fußgänger in bester »Big-Brother-Manier« direkt auf die Terrasse gaffen.

Bath verließ ich anschließend mit dem Zug weiter in Richtung Wales. Dieses Mal gab es die erste Verspätung, da eine der wenigen in Großbritannien noch verbliebenen Rinder nun auch wahnsinnig geworden war und unbedingt auf den Gleisen weiden wollte. Überhaupt lief das Zug fahren auf der Insel etwas anders ab als im Land der Deutschen Bahn AG. Die Bahnsteige waren manchmal viel zu kurz für den Zug, sodass nur aus einem Wagen ausgestiegen werden konnte. Dieser wurde unmittelbar vor der Ankunft vom Schaffner verraten. Anschließend zog eine Karawane durch den Zug und die Fastnacht{9} erhielt im nicht karnevalistischen Britannien in Form einer Polonaise Einzug in den Alltag. Den Rest der Zeit unternahm der Schaffner nicht viel, da die Kontrolle von Fahrscheinen eher nicht zu seinem Tätigkeitsprofil zu gehören schien. Dafür schaffte es der »Catering Manager« mit seinen Chips so viel Müll zu produzieren, dass ein weiterer Manager, der Umweltbeauftragte, oder altdeutsch »Müllmann«, den Kram, den sein Kollege gerade verkauft hatte, wieder einsammeln durfte. Draußen vor den Zügen arbeiten noch weitere Manager: die Bahnsteigmanager, die sich mittels Pfeifen peu à peu verständigen, ehe der Zug losfahren darf.

Drei Länder auf einer Insel

Etappe: Von Bangor, Cymra 53° Nord 05° West (GMT+1) nach Inverness, Alba 57° Nord 04° West (GMT+1): 960 km – Total 2.760 km

Inverness, 29. August 2002

Nachdem ich Wales erreicht hatte, kam ich mir wie in einem anderen Land vor. Sämtliche Schilder waren zunächst in Walisisch verfasst. Die englische Version folgte meist, aber nicht immer. Offiziell ist Wales ein Fürstentum wie Monaco oder Liechtenstein. Erster Mann beziehungsweise erste Frau im Staat ist seit 1302 der Prince of Wales, also seit 1969 nun Prinz Charles. Dass ein Engländer Staatsoberhaupt ihres weitgehend autonomen Landes ist, passt vielen Walisern gar nicht in den Kram. Aber seit 1999 haben sie ein eigenes Parlament mit einigen Entscheidungsbefugnissen.

Für mich war der Unterschied zu England, was den Alkohol anbetraf, nicht groß, da auch hier der Stoff weitgehend unbezahlbar war. Das hatte aber auch etwas Positives. Da in Wales Ortsnamen oft besonders lang und zudem schwer auszusprechen sind, ist folgende Situation dann doch eher unwahrscheinlich. Falls man wieder einmal ein paar Ale zuviel getankt hat und dem Taxifahrer seinen Heimatort mitteilen will, bevor man total weggetreten ist, und ausgerechnet in Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch lebt, bliebe man am Ende sicherlich auf der Straße liegen. Der Name ins Deutsche übersetzt bedeutet etwa: Sankt Maria Kirche in der Umgebung der weißen Hasel nahe an einer Stromschnelle und die Kirche des heiligen Tysilio nahe der roten Höhle. Außer diesem ungewöhnlichen Namen und den entsprechend langen Schildern, beispielsweise des ortsansässigen Volvo-Autohauses, habe ich dort nichts besonderes entdecken können.

In Wales hat mich vor allem die unberührte Natur mit dem höchsten Berg des Landes in ihren Bann gezogen. Obwohl der Snowdon mit etwas über 1.000 Metern sehr niedrig ist, erinnerte mich die Gegend eher an die Alpenregionen ab Höhen um die 3.000 Meter. Die Baumgrenze liegt tatsächlich auch bei lediglich 250 Metern. Bevor der Leser sich über meine kleine Maulwurfshügel-Expedition lustig macht, möchte ich doch mitteilen, dass an diesem Berg für die erste gelungene Mt. Everest Expedition 1957 trainiert wurde, und dieser »Hügel« alles andere als ein Kinderspiel ist. Da der Snowdon jeden Berg Englands überragt, sind die Waliser natürlich besonders stolz auf diese Erhebung. Der Nationalstolz drückt sich auch auf den Kfz-Kennzeichen aus. Statt wie bei uns ein »D« auf dem Grund der Europafahne, sitzt bei vielen walisischen Nummernschildern links oben in der Ecke die Europafahne, darunter die walisische Flagge mit dem roten Drachen und ganz unten die Abkürzung »CYM« für Cymra{10}.

Nationalsport ist nicht Fußball sondern Rugby, das sich vom Fußball angeblich folgendermaßen unterscheidet. Fußball ist ein Gentleman-Sport, der von Hooligans gespielt wird, Rugby ist ein Hooligan-Sport, der von Gentlemen gespielt wird. Tatsächlich wurde Rugby 1821 im Ort Rugby von einem Engländer erfunden, der während eines Fußballspiels plötzlich den Ball unter den Arm nahm und damit abhaute, ehe die Meute hinterher rannte.

Was die Menschen im Allgemeinen anbetrifft, musste ich meine Bilder von Engländern, die hauptsächlich durch englische Hooligans geprägt wurden, revidieren. Durch das permanente Bahn fahren traf ich Menschen aller Schichten im Zug an. Am besten erkannte ich dies, wie auch in Deutschland, an den Zeitungen, die der jeweilige Passagier las. Es besteht anscheinend tatsächlich ein Zusammenhang zwischen Chips essenden, Weißwurst hautfarbenen, knallroten glatzkopfartigen Wesen und der »Sun« oder dem »Daily Star«,{11} die von dieser Gattung hauptsächlich gelesen wird. Der »Observer«{12} hingegen wird meist von Typen mit Oberlippenbart, Schlapphut und Trenchcoat studiert. Trotzdem sind beide Gattungen äußerst höfliche Wesen, die nicht das Geringste mit den im Fernsehen gezeigten Bilder von englischen Hooligans zu tun haben. Ich bekam sogar die »Sun« von einer Passagierin als Leseprobe geschenkt. Das berühmte amerikanische »F-Wort« mit vier Buchstaben habe ich nie zu hören bekommen.

Wales verließ ich mit dem Zug in Richtung Fußballmekka Manchester. In der englischen Industriemetropole liefen die Mädchen wie in Brasilien mit Fußballtrikots durch die Gegend. Nummer 7, das Trikot von David Beckham, war eindeutig der Renner. In Deutschland ist dies eher ein nicht vorstellbarer Anblick – die Fans vom 1. FSV Mainz 05 einmal ausgenommen. Aber bis auf das Fußball spielen bekam Man U{13} aber auch gar nichts hin. Da die Bahn in Großbritannien mittlerweile privatisiert ist, zuckeln ein Dutzend Unternehmen quer über die Insel, ohne zu wissen, was das andere Unternehmen gerade macht, das heißt fahren oder nicht macht, also streiken. Mein Anschlusszug nach Newcastle existierte gar nicht auf der Anzeigetafel im Bahnhof von Manchester. So musste ich wieder an der Lieblingsbeschäftigung der Engländer teilnehmen, dem »Queuing« am Info-Schalter. Anscheinend warteten mehrere Passagiere auf den Geisterzug, ähnlich den Touristen in Schottland auf »Nessie«, dem Monster von Loch Ness. Dass der Zug wegen eines Streiks ausfiel, musste ich schon selbst herausfinden.

Ich hatte Glück und hatte nur einen Umweg von etwa zwei Stunden in Kauf zu nehmen, um schließlich nach Durham bei Newcastle zu gelangen. Seit dem 11. September 2001 existiert in England ein so genannter »Anti-Terror-Plan«. Diesen lernte ich nun in der englischen Provinz kennen, denn ich wollte mir nicht mit meinem 20-Kilo-Rucksack auf dem Rücken die schöne Stadt anschauen. Daher beschloss ich, ein Schließfach im Bahnhof zu nutzen. Dass dies ein potenzieller terroristischer Akt sein kann, war mir »natürlich« bewusst. Daher stand zunächst wieder »Queuing« am Ticketschalter auf dem Programm, um eine Fahrkarte für das Schließfach zu erhaschen. Danach musste ich einen der pfeifenden Stationsmanager finden, der mir das Schließfach öffnen und das Ticket entwerten konnte. Bevor ich endlich den Rucksack einschließen lassen durfte, musste eine physische Untersuchung des Gepäcks erfolgen, also einen Reißverschluss zum Öffnen antippen. Das war es dann auch schon. Der Sinn dieser Aktion blieb mir im wahrsten Sinne des Wortes schleierhaft.

Am folgenden Tag ließ ich England endgültig hinter mir. Ich fuhr am Hadrianswall entlang weiter nach Norden. Um mit Kaiser Hadrians Worten zu sprechen, gelangte ich damit ins »Land der Barbaren«. Er ließ diesen Wall ca. 140 n. Chr. errichten, um sich und das römische Reich von den nördlich lebenden Wesen im wahrsten Sinne des Wortes abzuschotten. Denn diese »Barbaren«, heute unter dem Namen Schotten bekannt, hauten den Römern damals ziemlich oft eins auf den Helm.

 

Als erstes fiel mir auf der Fahrt durch Schottland das veränderte Licht auf. Die Farben im Norden Europas sind wesentlich intensiver als bei uns oder auch nur südlich des Hadrianswalls. Wenn die Sonne scheint, sieht alles phantastisch aus, wie auf künstlich aufgehellten Postkarten. Erstes Ziel in Schottland, das die Einheimischen Alba nennen, war die Hauptstadt Edinburgh, welche sich gerade voll und ganz im Festivalfieber befand. Das beste an den vielen verschiedenen Festivals waren die kostenlosen Freiluft-Konzerte in der Altstadt, der so genannten »Royal Mile«. Die beste Stimmung kam natürlich bei schottischen Gruppen auf. Einige »Connor Mc Lords«, alias Highlander droschen ununterbrochen auf riesige Trommeln ein, während ein Dudelsack-Spieler die eher melodischen Töne anschlug. Dass die Jungs alle im Kilt auftraten war selbstverständlich. Schotten sind angeblich geizige Leute und daher sparen Kilt-Träger natürlich an Unterwäsche. Nach meiner »repräsentativen« Umfrage unter dem weiblichen Geschlecht waren diese Kilt-Träger natürlich »très, très sexy«. Ich habe allerdings nur Französinnen in meinem Hostel fragen können.

Was den Walisern das Rugby, den Engländern der Fußball, ist den Schotten das Golf spielen. Diesen Sport exportieren die Bewohner seit dem 15. Jh. in die weite Welt. In Edinburgh ist Golf spielen im wahrsten Sinne des Wortes Volkssport, kann man doch einfach in den Park gehen und kostenlos seine Bälle um sich schlagen, da dieser gleichzeitig Golfplatz ist. Sprachlich betrachtet stellt Schottland im Gegensatz zu Wales überhaupt kein Problem dar. Alles ist in Englisch verfasst. Lediglich in den »Highlands«{14} fand ich überhaupt die Landessprache Gälisch in schriftlicher Form. Dass die Schotten auch bei der Entwicklung ihrer Sprache geizig waren, zeigt die Anzahl der Buchstaben im Alphabet. Es sind tatsächlich nur 18.

Von den so genannten »Lowlands«{15} um Edinburgh rollte ich anschließend sehr gemächlich ratternd und polternd mit etwa 40 km/h mit Scot rail{16} den Highlands entgegen. Hinter Glasgow der erste Höhepunkt dieser wunderschönen Bahnfahrt nach Fort William: Loch Lomond im ersten Sonnenschein, mit den hoch aufragenden Bergen, den grünen von Moos bewachsenen Hängen und den sich z. T. in klarem Wasser spiegelnden Landschaften, war traumhaft schön. Mit zunehmender Entfernung von Glasgow änderte sich die Natur. Heidelandschaften und Hochmoore bis an den Horizont zogen nun an meinen Augen vorbei. Die Sonne hatte sich leider längst schon wieder verabschiedet und nun wurde die Landschaft mit einer niedrig hängenden Wolkendecke wie mit Watte überzogen. Dieses ziemlich herbe Bild änderte sich plötzlich erneut, als es die Sonne doch wieder schaffte, die Wolken zu verdrängen. Nun strahlte die Landschaft abermals in diesem einzigartigen Licht.

Am nächsten Tag hatte ich leider nicht mehr soviel Glück mit dem Wetter. Dabei hätte ich es bei der Besteigung des höchsten Bergs der Insel, dem 1.344 Meter hohen Ben Nevis wirklich gebrauchen können. Jetzt wird der Leser wieder lächeln, schließlich sind 1.344 Meter neuerlich etwas für Weicheier. Aber die Tatsache, dass ich auf Meereshöhe startete, um den Berg zu besteigen, wird das Schmunzeln hoffentlich beenden. Letztendlich war der Aufstieg einfacher als der Abstieg, denn in den Highlands fand ich leider keine Toilette und keine hohen, schützenden Büsche. Daher versuchte ich abseits des Weges mein Glück in einer Mulde. Im nächsten Augenblick bildete ich wortwörtlich ein gleichschenkeliges Dreieck mit einer Basis, in Form eines immer mehr nachgebenden Moorbodens. Mein linkes Bein war bis zum Oberschenkel im Moor versunken. Ich war daher froh, am folgenden Tag wiederum relativ schlechtes Wetter zu haben, um einmal einen Waschtag für die Klamotten einzulegen. Die Isle of Skye{17} machte ihrem Namen alle Ehre und lag völlig Wolken verhangen da.