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Inselhüpfen nach Norden

Etappe: Von Inverness, Alba 57° Nord 04° West (GMT+1) nach Seydisfjörður, Ísland 65° Nord 14° West (GMT+0): 1.710 km – Total 4.470 km

Seydisfjörður, 5. September 2002

Dass in Großbritannien bei den Insulanern nicht alles so abläuft wie bei uns, habe ich mittlerweile besonders beim Bahn fahren bemerkt. So auch die Ankunft in Inverness: Wir sind zunächst im halben Bogen am Bahnhof vorbei gefahren, ehe der Zug mitten im Nichts anhielt und rückwärts in den Sackbahnhof schließlich einparkte. Zum Glück wollte der Lokführer nicht noch Wenden in drei Zügen üben. Da ich Nessie nicht durch Lärm erschrecken wollte, begab ich mit dem Velo auf die Suche nach dem unbekannten Wesen. Leider sind anscheinend manche Zweiräder mindestens so alt wie die Sage um Nessie, denn kurz hinter Inverness stellte ich fest, dass mein Sattel für meine Körpergröße viel zu niedrig eingestellt war. Daher versuchte ich ihn etwas weiter oben zu fixieren. Das Resultat war eine gebrochene Schraube, die sicherlich noch nie richtig festgedreht wurde. Nun hatte ich »endlich« meine erste Panne auf der Reise. Dummerweise befand ich mich am Loch Ness und keine Menschenseele oder auch nur Nessie war da, um mir zu helfen. Zum Glück hatte dieses Rad einen Gepäckträger mit Schrauben und Muttern. Schnell wurde die Schraube, mit der der Gepäckträger am Rahmen befestigt war, zur Sattelschraube umgerüstet. Ein kleiner Ast diente fortan als Gepäckträger-Halterung. Der Eigentümer dieses Schrottrads freute sich später über meinen Einfallsreichtum, und ich war froh, dass ich meine Kaution ohne Probleme wiederbekam. Vor lauter Schrauben hatte ich Nessie natürlich verpasst.

Bisher konnte ich mich über die britischen Bahnen tatsächlich nicht negativ auslassen. 15 Bahnfahrten liefen ohne größere Probleme ab, und trotz Streiks in Manchester kam ich immer an meinem Zielpunkt ohne Zwischenfälle an. Am letzten Tag meiner Bahnreise allerdings musste der Zug wirklich halbwegs pünktlich sein, damit ich mein Schiff auf die Orkneyinseln nicht verpasste. Daher war ich etwas enttäuscht über Scot rail, dass der Zug bereits morgens um sieben Uhr angeblich zehn Minuten Verspätung hatte. Aus diesen zehn Minuten wurden schließlich 30 Minuten Verzögerung. Dann ging es endlich auf der nördlichsten Bahnstrecke Großbritanniens von Inverness in Richtung Thurso. Noch war alles nicht so schlimm, da ich bei pünktlicher Abfahrt 75 Minuten Aufenthalt in Thurso gehabt hätte, bevor das Schiff losfahren sollte. Allerdings hatte ich meine Kalkulation leider ohne Scot rail gemacht. Nach einer Stunde Fahrt blieb der Zug für etwa 20 Minuten in einem kleinen Bahnhof stehen: Die Strecke war eingleisig und der Gegenzug musste abgewartet werden. Danach rollte ich wieder im Zuckeltempo durch die Highlands. Mittlerweile war das romantische Tuckern durch die schöne Landschaft ein nervenaufreibender Umstand, schließlich sah ich so langsam mein Schiffchen in Gedanken davonfahren. Aber vielleicht klappte es ja doch noch, so hoffte ich.

Bald darauf hielten wir in einem weiteren Bahnhof. Nun wurde die Zugfahrt endgültig zu einem Erlebnis der besonderen Art. Der Zug fuhr abwechselnd vor und zurück. Ich stellte mir die Frage, wie es dem Lokführer möglich war, zu erkennen, was rund 200 Meter hinter ihm geschah, während er mit seinem Bähnchen permanent das Gleis hinauf- und hinabfuhr. »Zum Glück« wurden wir Fahrgäste irgendwann aufgeklärt, dass wir eine Panne hatten. Ach nee. Leider gab es Probleme mit den Funksignalen, die ständig auf Rot standen, obwohl kein Zug kam. Der Gegenzug machte schließlich diesen Schienenwalzer ebenso auf dem Nachbargleis.

Nach einer weiteren dreiviertel Stunde war schließlich dieser bizarre Tanz zu Ende, da die Signalstörung anscheinend behoben war. Nachdem ich relativ lange wegen meines Anschlusses verzweifelt gewesen war, befand ich mich mittlerweile im Zustand der völligen Gleichgültigkeit. Ich dachte nur noch an ein banales Umtaufen von Scot rail in »Schrottrail« und genoss den Kaffee auf Kosten des Hauses. Plötzlich meinte der Schaffner, das Schiff würde warten. Ich war diese Art der Vertröstung von der Airline-Branche gewohnt und gab keinen Cent auf diese Aussage. Mich ärgerte eigentlich nur der Umstand, sechs Stunden im Fährhafen von Thurso bei mittlerweile einsetzendem Regen verbringen zu müssen und die eventuell anfallende Umbuchungsgebühr. Mitten in den Highlands hielt nun der Zug plötzlich an, und der Schaffner meinte, wir Fährpassagiere sollten aussteigen. Ein Direkt-Transfer-Bus würde uns zur Fähre bringen. Zunächst fuhr dieser über Feldwege zur nahe gelegenen Straße, denn der Zug hielt tatsächlich mitten auf dem Feld an einem Ausweichbahnhof. Leider wartete die Fähre natürlich nicht, aber wenigstens musste ich keine Umbuchungsgebühr zahlen. So schlug ich mich sechs Stunden im Fährterminal und im Lidl von Thurso herum und kaufte noch einmal gutes deutsches Pils, um den strömenden Regen und das Grau in Grau, in das die Landschaft eingehüllt war, zu ertragen.

Abschließend kann ich sagen, dass die Insulaner oder auch Briten genannt, tatsächlich nette, vielleicht etwas schüchterne Wesen sind, bei denen es sich aber durchaus gut leben lässt. Das einzig Befremdende an den Insulanern ist das Faible für alles Militaristische. Sehe ich gewöhnlich in anderen Ländern Warnschilder, die vor Kühen, Kängurus oder Schafen warnen, so sah ich in Großbritannien oft das Schild »Tank crossing.«{18} Statt Cola trinkt der Brite auch gerne einmal eine Bomba Limonade im Handgranaten-Format. Der Clou dabei ist der Kronenkorken, der wie bei einer Handgranate abgerissen werden kann. Außerdem begegnete ich vielen Fallschirmspringern, Militärhubschraubern und Tieffliegern, die vielleicht bereits für den Irakeinsatz trainieren mussten. Ansonsten stellt man sich sogar auf der Insel langsam auf Europa ein. Euro wurden zum Teil als Zahlungsmittel akzeptiert. Vollkommen verwirrend waren jedoch die Maßeinheiten, die benutzt wurden. Meist fand ich Schilder in Meilen, oft in Yards und manchmal in Metern. Die dreisteste Preisstrategie leisteten sich die Supermärkte, in denen Tomaten zum Pfund-Preis vergleichsweise günstiger angeboten wurden als nebenan der Tomatenhaufen zum Kilo-Preis. Diese Aktion haben wir der EU zu verdanken, die den Insulanern auferlegt, endlich Kilo statt »pounds«{19} zu benutzen. Bei den Geschwindigkeitsangaben und dem Linksverkehr besteht hingegen eine unbefristete Ausnahmeregelung.

Schließlich kam ich auf den Orkneyinseln an. Sie liegen etwa 15 Kilometer nördlich der schottischen Küste und sind historisch sehr bedeutsam. Das Dorf Skara Brae ist mit seinen 5000 Jahre alten Häusern das älteste Europas. Ein kleiner geschichtlicher Überblick verhilft dem Leser vielleicht das Alter dieser Steinhütten einzuschätzen:

1905 Gründung des 1. FSV Mainz 05

1776 Unabhängigkeitserklärung der USA

1400 Höhepunkt des Inka-Reichs

1095 Erster Kreuzzug

476 Der Fall Roms

0 Jesu Geburt

12 v. Chr. Gründung von Mainz

220 v. Chr. Errichtung der chinesischen Mauer

962 v. Chr. Bau des Tempel des Salomon

2100 v. Chr. Bau von Stonehenge

2500 v. Chr. Bau der Pyramiden von Giseh

3100 v. Chr. Errichtung der Häuser von Skara Brae auf den Orkneyinseln

Die Häuser waren bis zum Ende des 19. Jh. im Sand verschüttet, ehe ein gewaltiger Sturm die Mauern freilegte. Diese Rundbauten besaßen ein Tunnelsystem mit Zugang zum Nachbarhaus. Da es auf den Orkneyinseln keine Bäume gibt, waren die Bewohner darauf angewiesen, alles aus Stein zu errichten. Mauern, Betten, Küchenschrank, Feuerstelle – alles war noch relativ gut erhalten und deutlich zu erkennen. Lediglich die Dächer bestanden, unseren Ökohäusern ähnelnd, aus einer Art Torf-Wiesen-Dach. Daher waren die Häuser von Skara Brae nur noch in der »Kabrio-Version« zu bestaunen. Aber trotzdem konnte ich mir das Leben mit den ebenfalls noch vorhandenen Küchenutensilien sehr gut vorstellen. Dass die Durchgänge und die Betten lediglich etwas über einen Meter hoch beziehungsweise lang sind, wäre für uns etwas gewöhnungsbedürftig, falls wir in den Hütten einmal eine Wohngemeinschaft gründen müssten.

Aber die Orkneyinseln haben nicht nur Prähistorisches zu bieten, sondern auch etwas für durstige Kehlen. In der Highland Park Brennerei wird sehr guter Whisky hergestellt. Es handelt sich bei dem Wort Whisky nicht um einen Rechtschreibfehler. Die geizigen Schotten haben das »e« einfach weggelassen. Dafür investieren sie sehr viel Arbeit in ihren Whisky, dessen Basis Gerste ist. Beim Mälzen wird diese zunächst in Wasser eingelegt, damit Enzyme entstehen, die Zucker bilden. Die Gerste wird anschließend über einem Torffeuer getrocknet, da es auf den baumlosen Orkneyinseln kein Brennholz zum Feuer machen gibt. Dabei entsteht der einzigartige rauchige Geschmack des Whiskys. Danach wird der so entstandene »Malt«{20} gemahlen, mit heißem Wasser vermischt und über ein paar Stunden im Maischbottich ruhen gelassen. Als im 2. Weltkrieg die Whiskyproduktion auf den Orkneyinseln eingestellt war, wurde der Bottich als Schwimmbecken für die britischen Soldaten genutzt. Daher ist dieser Geschmack des Whiskys wahrscheinlich tatsächlich einzigartig. Danach werden die Feststoffe aus dem Maischbottich herausgefiltert. Der flüssige Teil wird zur Gärung in einen Tank geschüttet, die Feststoffe hingegen an die Rinder und Schafe verfüttert. Daher fand ich nur glückliche Viecher auf den Orkneyinseln – Cheers! Der schwach alkoholische Trunk mit etwa sieben Prozent Alkohol wird anschließend zweimal in Kupferkesseln gebrannt, im Gegensatz zum irischen Whiskey, der dreimal gebrannt wird. Danach wird die hochprozentige, farblose Flüssigkeit, die ca. 70 Prozent Alkohol enthält, in alten Bourbon- und Sherry-Fässern mindestens drei Jahre lang eingekellert. Während dieser Zeit bekommt der Whisky schließlich seine schöne, bräunliche Farbe. Der fertige Whisky wird anschließend 12 bis 18 Jahre lang gelagert.

 

Abends stand ich plötzlich vor einer katholischen Kirche, bei der gerade der Gottesdienst anfing. Also entschied ich mich spontan, wieder einmal eine Messe zu besuchen. Der Pfarrer kündigte seinen acht Schäfchen eine Karaoke-Messfeier an. Von einem CD-Player wurden die Musikstücke abgespielt, und wir mussten, so gut es ging, mit Hilfe des Gesangbuchs mitsingen. Ansonsten lief das Amt wie bei uns ab, sodass ich halbwegs mitbekam, was gerade vorne am Altar passierte. Schließlich hieß es Abschied nehmen von den Orkneyinseln und mit dem Schiff setzte ich in sechs Stunden auf die Shetlandinseln über. Die Schiffspassage war äußerst langweilig, da es an Bord praktisch keine jungen Reisenden gab, sodass ich mir aus Langeweile im Fernsehen zum ersten Mal ein Formel-1-Rennen anguckte und »Schumi« natürlich wieder gewann.

Regen, Wind, Kälte und viele Schafe waren für mich die ersten Eindrücke dieser Inselgruppe, die im 15. Jh. als Mitgift einer dänischen Prinzessin an Schottland und die Krone fiel. Der skandinavische Einfluss war überall an den Straßennamen zu erkennen, wie beispielsweise an der King Hakon Street. Nirgends wehte die schottische Fahne, sondern die der Shetlands: weißes Kreuz auf blauem Grund. Glücklicherweise wurde das Wetter besser und ich traf auch noch auf fotogenere Wesen als die Schafe, die bei meinem Anblick permanent die Flucht ergriffen, bei Autos aber ruhig weitergrasten. Die blonde Mähne wehte im Wind, der dunkle Teint glänzte im Sonnenschein und das Gesicht war immer auf die Kamera fixiert. Nein, ich habe im Nordatlantik keine Supermodels abgelichtet, sondern die berühmten Vierbeiner, mit demselben Namen wie die Inselgruppe. Die Ponys waren gut drauf und neugierig, wer da auf ihrer Weide vorbeischaute. Leider waren sie die einzigen Tiere, die so zutraulich waren. Die angeblichen Vogelkolonien waren bis auf die Möwen leider aufgelöst, oder die Vögel waren schlauer als ich und haben die Reise nach Süden bereits begonnen, wohingegen für mich die Reise immer weiter nach Norden führte. Auf den Shetlands läuft das Alltagsleben etwas anders ab als bei uns. In den Bussen werden Lebensmittelpakete überall mit hingenommen und an die Bewohner in den entlegenen Dörfern ausgeliefert. Aus Mangel an ebenen Stellen wurde der Flughafen quer über die Insel angelegt, sodass Autos und Fußgänger wie bei einem Bahnübergang an den Leuchtzeichen warten müssen, falls ein Flieger startet beziehungsweise landet.

Um zwei Uhr nachts ging ich auf die große Überfahrt auf die Färöer. Ich war von der Auslastung des Schiffes überrascht, bekam ich doch auf diesem Riesendampfer, der bis zu 1.000 Leute transportieren konnte, eine 6-Bett-Kabine für mich alleine. So schlief ich bei gemütlichem Hin-und-her-Schwanken endlich um halb drei nachts ein. Nach 13 Stunden Fahrt erreichten wir Thorshavn, die Hauptstadt der Färöer, wo ich einen kleinen Stadtbummel machen konnte. Die alten, kleinen, schwarzen Holzhäuser aus dem 16. Jh. mit ihren knallroten Türen und Fensterläden haben mir besonders gefallen. Die Dächer sind nicht mit Ziegeln sondern mit dichtem Gras versehen. In Thorshavn konnte ich mich auch wieder »sicher« fühlen, herrscht doch auf den Färöer Rechtsverkehr, und die Chance, Opfer eines Unfalls zu werden, sollte doch geringer werden. Die Färöer verabschiedeten sich auf der Weiterfahrt, so wie ich sie auf einer früheren Reise kennen gelernt habe: mit einem wunderschönen Theaterstück von der Natur komponiert. Die lang gezogenen Bergrücken der Inseln Kalsoy, Kunoy und Borðoy dienten als Kulisse. Das glatt daliegende Meer war das Parkett und die Hauptdarsteller waren Wolken und die untergehende Sonne. Sie präsentierten permanent neue Szenen. Auf dem Sonnendeck der Norröna, meinem betagten Schiff, konnte ich dieses Schauspiel richtig genießen, ehe es in Richtung Nordwesten nach Island ging.

Bei der dortigen Ankunft wurde ich vom Wetter nicht enttäuscht: Sturm, Nebel und Platzregen. Alle, die je dort waren, haben mich vor dem Wetter gewarnt, und sie hatten leider alle Recht. Ich war gespannt, wie lange ich dieses Wetter aushalten würde. Auf jeden Fall musste ich vom Osten Islands irgendwie in Richtung Reykjavik gelangen, um meine Reise fortzusetzen. Ob ich bis dahin festgefroren oder mit Moos überwachsen war, blieb abzuwarten.

Unterwegs in Snæland

Etappe: Von Seydisfjörður, Ísland 65° Nord 14° West (GMT+0) nach Akureyri, Ísland 66° Nord 18° West (GMT+0): 598 km – Total 5.068 km

Akureyri, 12. September 2002

Glücklicherweise ist der erste Eindruck, den ich von einem Land gewinne, nicht immer der entscheidende. Dies trifft auf Island ganz besonders zu, denn mittlerweile hatte ich mich gut eingelebt, kein Moos angesetzt und mich mit »Light Beer«{21} angefreundet.

Den ersten Bewohnern dieser Insel, die diese damals Snæland{22} nannten, war ich bereits seit den Shetlandinseln und den Färöer auf den Spuren. Das Jahr 874 wurde in den Geschichtsbüchern und Sagen als das Jahr der ersten permanenten Besiedlung der Insel festgehalten. Vorher kamen nur irische Mönche, um als Einsiedler auf Island zu leben. Diese sorgten (un)natürlicherweise für keine Nachkommen. Wikinger, die zu Hause in Norwegen ihren heidnischen Kulten nicht mehr nachgehen durften, flohen erst in Richtung Schottland, um sich mit Frauen »einzudecken«, ehe sie der Zufall wegen schlechter Winde nicht auf die Färöer, sondern nach Snæland brachte. Einige Jahre später wurde die Insel von einem anderen Wikinger wegen vorbeiziehender Eisberge in Ísland{23} umbenannt. Da die Wikinger von der Monarchie in Norwegen genug hatten, gründeten sie im Jahr 930 eine Art Nationalversammlung, den Alþing, in dem einmal jährlich alles Wichtige für das Land entschieden wurde. Das Isländische entwickelte sich aus dem Norwegischen, das zu dieser Zeit gesprochen wurde. Die Sprache ist eine der schwierigeren, alleine schon wegen der vielen fremdartigen Buchstaben. »ð« wird wie »th« im englischen »them« gesprochen; »þ« ist auch ein »th«, welches wie im englischen »thin« ausgesprochen wird, wohingegen »æ« wie »ei« und »ll« wie »ddl« klingt. Dazu kommt der Umstand, dass Substantive wie im Lateinischen dekliniert werden. Für Busfahrpläne wird bei Ortsnamen der Dativ benutzt, der beispielsweise für die Stadt Höfn »Havnar« lautet. Darauf musste ich erst einmal kommen. Für die Zahl eins existiert sogar der Plural, um z. B. die Formulierung »ein paar Schuhe« auszudrücken. Isländer haben ein ähnliches sprachliches Faible wie die Franzosen, die auch für neue Begriffe Sprachschöpfung betreiben. Das isländische Wort für Computer wurde z. B. aus »tala« und »völva«{24} gebildet und heißt »tölva«.

So war ich glücklich, dass Isländer ein Einsehen haben und immer sehr gut Englisch sprechen können. Ansonsten hätte ich vor einem riesigen Problem gestanden. Ein Problem, mich richtig für Island im wahrsten Sinne des Wortes zu erwärmen, stellte aber der erste Tag dar. Für Wettergurus hier die Wetterdaten von Seydisfjörður am 5. September um zwölf Uhr mittags: 051200 09020G30KT 1000 +RA OVC030 03/01 Q990{25} oder auf Deutsch: Sauwetter.

Am nächsten Tag sah es nicht besser aus, und was das Sehen betraf, sah ich dank der niedrig hängenden Wolken, die wie Watte alles zudeckten, sowieso nichts. Die Busfahrt mit zwei Passagieren an Bord ins 20 Kilometer entfernte nächste Dorf zeigte bereits, dass es auf Island tatsächlich schön sein konnte, falls ich etwas sehen würde: alle paar Meter hörte ich einen plätschernden Bach oder einen rauschenden Wasserfall, bei dem das Wasser aufgrund der niedrig hängenden Wolkendecke scheinbar direkt aus dem Himmel zu stürzen schien. Nach 20 Minuten Fahrt war ich im nächsten Dorf angelangt und hatte dank der »attraktiven« Busverbindungen nun fünf Stunden Aufenthalt bis zur Weiterfahrt. Auf Island existieren Busse lediglich, um Touristen durch die Gegend zu karren. Einheimische nutzen diese von Zeit zu Zeit aufkreuzenden Vehikel so gut wie nie. Ein Isländer sagte, dass ein Auto für Isländer wie eine zweite Jacke sei, die man anzieht, sobald man das Haus verlässt. Bei dem Wetter und den Verbindungen konnte ich das mit der Zeit durchaus verstehen.

Am Myvatn{26} angekommen, besserte sich das Wetter plötzlich innerhalb weniger Stunden. Die Sonne, die ich bereits mit den Franzosen bei deren wieder einmal ausgerufenen Generalstreik verbrüdert sah, schob nun auf einmal Überstunden, schien sie doch nunmehr jeden Tag länger, als es die Gewerkschaften je erlauben würden, also mehr als zehn Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche.

Plattentektonisch betrachtet schrieb ich dieses Kapitel bereits aus Nordamerika, denn in Island reiben sich die eurasische und die nordamerikanische Platte aneinander. Das Resultat ist am Myvatn zu bewundern: Vulkane, Lava-Felder und sehr bizarre Landschaften. Die Lava-Felder sehen einmal aus, wie die abgefrästen Teerplatten des sich im Ausbau befindlichen Mainzer Rings{27}, ein anderes Mal so runzelig wie Elefantenhaut und einmal so unregelmäßig, klumpig wie die Oberfläche eines Krümelkuchens. Bei den Verschiebungen der Felder während eines der häufigen Erdbeben entstanden Spalten, die etwa einen Meter breit und bis zu 20 Meter tief sind. Trotz des guten Wetters war es meist schon sehr kalt. Bei der Besteigung eines Vulkans hatte ich nun auch den ersten Schnee für diesen rein theoretisch noch existierenden Sommer, eher bereits Spätherbst zu nennen. Aber die Landschaft glänzte dafür bei diesem Wetter in herrlichen Farben: pechschwarz die oft bis an den Horizont reichenden Lava-Felder, weißgelb die Schwefelablagerungen, aus denen es oft rauchte und spuckte, hellbraun die Berge, saftig-grün die Wiesen und türkis das Wasser in den Maaren der Vulkane. Das gelb gefärbte Laub der Birken und das sich langsam rostrot färbende Heidekraut ließen den Herbst bereits erahnen. Wälder existieren wegen des Windes und der alles abknabbernden Schafe in Island kaum. Die Bäume sehen auch eher wie große Büsche aus. Eine isländische Weisheit besagt: »Verirrst du dich in einem isländischen Wald, steh’ einfach auf.«

Die Schafe waren mir wirklich unsympathisch. Ich verallgemeinere ungern, doch diese Viecher waren bescheuert. Vor mir rannten sie auch in Island weg, aber auf den Staubstrassen ließen sie sich vom vorbeifahrenden Bus panieren und grasten in aller Ruhe weiter. Leider konnte ich mich nicht so einfach ernähren und war doch auf einige sehr teure Nahrungsmittel angewiesen. Aber die isländische Landwirtschaft ist auch nicht zu beneiden. Am Myvatn versuchte man Kartoffeln anzubauen. Beim Ernten erhielt man schließlich die Kartoffeln in gedünstetem Zustand aus der Erde, wegen des heißen Grundwassers direkt unter der Oberfläche. Mit dem Wasser war es auch so eine Sache. Warmes Wasser kam fast kochend aus dem Hahn, da es sicher direkt am nächsten Geysir abgezapft wurde. Dafür stank es nach faulen Eiern, und das Duschen mit dem penetranten Geruch in der Nase bereitete folglich kein Vergnügen.

Für die manchmal eher unangenehmen Bedingungen in Island wurde ich aber nachts bei klarem Himmel entschädigt. Wie in einem Science-Fiction-Film leuchtete plötzlich ein Teil des Himmels grünlich weiß. Wie ein Vorhang bewegte sich dieses Licht am Firmament nach allen Seiten hinunter, und es stellte sich eine wirklich gespenstische Stimmung ein. Verantwortlich für diese Nordlichter sind Ströme geladener Partikel, so genannte »Sonnenwinde«, die durch das Magnetfeld der Erde zu den magnetischen Polen geleitet beziehungsweise von diesen angezogen werden. Das Zusammentreffen mit Elektronen von Stickstoff- und Sauerstoffatomen in der etwa 160 Kilometer hohen Atmosphärenschicht setzt Energien frei, die das Nordlicht entstehen lassen. Ich konnte nachts in aller Ruhe auf der Hauptstrasse liegen und dieses Schauspiel genießen, ohne überfahren zu werden, denn nach Sonnenuntergang passierte in Islands Hinterland überhaupt nichts mehr. So waren diese Abende mit einem langsam gefrierenden Leicht-Bier einmal ein anderes Freizeitvergnügen, als in der Kneipe zu sitzen und Bierchen zu zischen.

 

An einem der folgenden Tage erreichte ich den wahrscheinlich nördlichsten Punkt meiner Reise, die Insel Grimsey, die genau auf dem Polarkreis (66 Grad Nord 18 Grad West) liegt. Mit einer kleinen Fähre fuhr ich durch einen Fjord hinaus ins arktische Meer. Das Beladen der Fähre war besonders eindrucksvoll. Ein Pferdekarren mit zwei Vierbeinern und zwei Autos wurden mit einem Kran vom Kai auf die Ladefläche gehievt. Dies war Millimeterarbeit, die aber gut ausging. Danach tuckerten wir hinaus ins Polarmeer immer weiter nach Norden. Auf Grimsey leben 98 Leute, die vielleicht aufgrund der abgeschiedenen Lage etwas befremdlich auf mich als Mitteleuropäer wirkten. Das sagenhafte Straßennetz von ca. einem Kilometer nutzten etwa 40 Autos. Mit riesigen Jeeps wurde aus Langeweile das gesamte Straßennetz hoch und runter gedonnert, sodass mir die Ohren dröhnten. Dass die vielen Vögel, die dort ebenfalls leben, noch nicht geflüchtet sind, grenzt an ein Wunder. Grimsey sieht etwa wie ein Geodreieck aus. Der Südwesten ist flach. Innerhalb eines Kilometers steigt die Insel auf ca. 130 Meter an. Eine Steilküste bildet das abrupte Ende der Insel. Diese ist die Heimat für tausende Vögel, die dort ideale Voraussetzungen für die Errichtung von Etagenwohnungen finden. Leider waren die meisten Bewohner aus ihrer Sommerresidenz bereits ausgezogen, sodass ich die dort im Sommer lebenden Papageientaucher nicht mehr sehen konnte.