Nächster Halt: Darjeeling-Hauptbahnhof

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Nachts erreichten wir Buffalo, New York. In mir keimte wieder Hoffnung auf, etwas zu essen zu bekommen. Doch natürlich waren alle Restaurants um diese Zeit geschlossen. Aus einem Loch in der Wand verkaufte jemand noch Cheeseburger à la Mikrowelle. Damit wenigstens etwas zu schmecken war, wurde der Plastik-Burger dermaßen mit Ketchup und Senf vollgeladen, dass meine Hose auch noch reichlich mitessen durfte. Jetzt war ich am erwarteten kulinarischen Supergau angelangt. Erst um drei Uhr morgens, bei der Ankunft in Cleveland, Ohio, bekam ich schließlich einen Kaffee, der allerdings auch sehr künstlich schmeckte, dem Süßstoff und dem Milchpulver sei Dank. Ohio bezeichnet sich selbst als »Buckeye State«.{50} Im Morgengrauen erreichten wir den nächsten Staat, Indiana und endlich ein Wendy’s, in dem es halbwegs essbares Futter gab. Indiana hat zwei Spitznamen. Der eine lautet »Crossroads of America«, was natürlich stimmt. Schließlich kommt man auf dem Weg von Nord nach Süd, oder von Ost nach West fast unweigerlich durch diesen zentral gelegenen Bundesstaat. Der andere Spitzname lautet »Hoosier State« und stammt aus der Zeit der ersten Siedler im 19. Jh. Immer wenn es an der Tür klopfte, wurde von innen gefragt: »Who is here?«, so entstand schließlich das Wort »Hoosier«.

Nach 25 Stunden Fahrt und 1.600 strapaziösen Kilometern erreichte ich den Zielstaat Illinois mit seiner Metropole Chicago. Illinois Spitzname ist banal und lautet »Land of Lincoln«. Da ich von der Busfahrt ziemlich kaputt war, lief ich in Chicago, um mich wieder einmal richtig locker zu machen, ein bisschen ziellos durch die Kulisse der Wolkenkratzer und Parks direkt am Lake Michigan.

Beim Flanieren durch Chicagos Straßen stand ich plötzlich vor dem Hancook-Hochhaus, mit seinen 95 Stockwerken nicht ganz so hoch wie der berühmte Sears Tower, der höher als das frühere World Trade Center ist. Eigentlich kostete es sieben US-Dollar, um mit dem Aufzug nach oben zu gelangen. Doch irgendwie landete ich in einer Gruppe von elegant gekleideten Herrschaften und plötzlich befand ich mich im Aufzug nach oben. Dort landeten wir in einem Nobelrestaurant, und ich rechnete jeden Augenblick damit, sofort wieder hinausgeworfen zu werden. Stattdessen wurde mir ein Platz am Fenster mit Aussicht auf die imposante Skyline der Stadt angeboten, auf die ich beim Sonnenuntergang mit einem Guiness vom Fass anstoßen konnte. Am nächsten Tag bekam ich von einem Chicagoer einen Tipp, einmal in die »German Neighbourhood« zu fahren, um ein bisschen »deutsche Luft« zu schnappen. Mit dem »El«, einer Bahn, die auf Stelzen überirdisch verläuft, fuhr ich hinaus aus der Innenstadt. Weit außerhalb von Downtown lag »Little Germany«, das durch und durch mit Kneipen bestückt war, die »Carolas Hansa Clipper« oder »Brauhaus« hießen. Bei »Meyers Delikatessen« gab es nicht nur Wurst und Brot, sondern auch die »Eintracht«, eine Zeitung in Deutsch von Deutschamerikanern für Deutschamerikaner. Es war interessant, sich mit amerikanischen Staatsbürgern auf Deutsch bei einem Weizen vom Fass zu unterhalten.

Fans und Football

Etappe: Von St. Louis MO, USA 39° Nord 90° West (GMT -5) nach Vancouver BC, Canada 49° Nord 123° West (GMT -7): 5.519 km – Total 22.362 km

Vancouver, 17. Oktober 2002

Nach einer Nachtfahrt mit dem Greyhound, die relativ angenehm verlief, da der Bus halbleer war, war ich von Chicago kommend in St. Louis, Missouri, eingetroffen. Der Spitzname Missouris, »Show me state«, kann freilich zu Irritationen führen, die keiner näheren Erklärung bedürfen. Angeblich ist der Name auf die skeptischen Menschen zurückzuführen, die dort im 19. Jh. siedelten. St. Louis wurde 1764 von französischen Pelzhändlern an der strategisch wichtigen Stelle des Zusammenflusses von Missouri und Mississippi gegründet. Der Name geht auf Louis XIV., König von Frankreich, zurück. Die Stadt wird als »Gateway to the West« bezeichnet, war sie doch lange Zeit der letzte Posten der Zivilisation, bevor es in den so genannten »Wilden Westen« ging. Die US-Bundesstaaten zwischen Appalachen und Mississippi waren bei der Staatsgründung 1776 lediglich Territorien. Statt die damals bereits existierenden Staaten expandieren zu lassen, wurden die Territorien von der Zentralregierung in Washington zu Bundesstaaten erklärt, sobald mehr als 60.000 Menschen darin lebten. Ohio wurde 1803, Indiana 1816 und Illinois 1818 zu neuen US-Bundesstaaten erklärt. Missouri wurde als so genannter »Sklavenstaat« 1821 zu einem Bundesstaat, im Austausch mit Maine, das als so genannter »Freier Staat« aufgenommen wurde. In den Staaten nördlich von Missouri wurde die Sklaverei verboten, in den Südstaaten hingegen für legal erklärt. Dieser Status änderte sich bis zum amerikanischen Bürgerkrieg um 1860 nicht.

St. Louis machte auf mich einen verschlafenen Eindruck. Die Stadt ist ein bisschen in der Bedeutungslosigkeit versunken, denn die Metropolen der USA liegen heute eher an den beiden Küsten. Für die Stadt ist dies sicher hart, wenn man bedenkt, dass 1904 dort die Weltausstellung und die Olympischen Spiele stattfanden. Die Welt wurde damals mit Hot Dogs, Eistüten und Eistee erstmals beglückt. Noch viel früher hatte in St. Louis im Jahr 1817 die Dampfschifffahrt hinunter bis nach New Orleans begonnen. Der bekannteste Kapitän dürfte Mark Twain gewesen sein, der später Schriftsteller wurde. 1927 taufte Charles Lindbergh sein Flugzeug, mit dem er als erster den Atlantik überquerte, auf den Namen »Spirit of St. Louis«, da dort die wichtigsten Sponsoren lebten, die dieses Unternehmen förderten. Heute ist St. Louis der Sitz der größten Brauerei der Welt. Gegründet wurde die Anheuser Busch Brewery von den deutschen Immigranten Adolphus Busch und Eberhardt Anheuser. Warum die beiden auf die Idee kamen Reis in ihr Bier zu kippen kann ich mir nicht erklären. Aber ich befand mich mittlerweile einige Wochen in Nordamerika und hatte mich langsam an dieses Zeug, das hier »Bier« genannt wird, gewöhnt. Es half auch nicht in der Verzweiflung, auf so genanntes »Importbier« zurückzugreifen, da ein Bundesgesetz Gerstensaft mit einem höheren Alkoholgehalt als etwa vier Prozent verbietet. Importbier wird daher im Ausland extra nach US-Vorschriften für den US-Markt gebraut und abgefüllt.

Auf dem Weg zur Brauerei kam ich durch ein Viertel mit fast ausschließlich afroamerikanischer Bevölkerung. Da ich mir seit mehr als zwei Monaten nicht mehr die Haare schneiden ließ und in den amerikanischen Großstädten nur an Designercoiffeuren vorbeilief, kam mir der kleine Friseursalon an der Ecke wie gerufen. Von draußen hörte ich schon laute Rap-Musik. Drinnen dachte ich dann, ich wäre in einem Wil-Smith-Video gelandet. Ich sah lauter gestylte Afroamerikaner, die sich rhythmisch zur Musik aus dem Fernseher bewegten. Die Haarschnitte, die mein Maestro im Programm hatte, waren auf einem Bild an der Wand abgebildet. Sie unterschieden sich nur geringfügig in der Kürze der Frisur. Mein Maestro hatte auch keine Schere parat, dafür aber mindestens drei Rasierer. So ließ ich mir einen Afrolook rasieren, schließlich hatte ich keine andere Wahl. Ruck, zuck! Und runter war die Wolle. Schließlich kam ich mir wie ein Auto vor, das samstags nachmittags in Deutschland von Vierrad-Liebhabern gepflegt wird. Mein fast glattrasierter Kopf wurde gewienert, geschrubbt und mit dem Tuch poliert, sodass er richtig glänzte. Während der ganzen Prozedur rappte mein Maestro zur Musik aus dem Fernseher.

Nicht nur an das amerikanische Bier konnte ich mich gewöhnen, sondern auch an das Übernachten in Greyhound-Bussen. Von St. Louis reiste ich dieses Mal in zwölf Stunden weiter nach Westen, nach Oklahoma City, Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates. Für alle, die langsam Lust auf den Greyhound bekommen, hier zehn Dinge, die man absolut nicht vergessen darf, bevor man den »Dog« reitet:

1. Flüssigkeit, da Thrombose nicht nur beim Fliegen auftritt, sondern auch beim Bus fahren. Jeder Flug ist nach rund zwölf Stunden zu Ende. Ich bin später in 30 Stunden von Salt Lake City nach Vancouver gefahren.

2. Futter, schließlich denke ich manchmal, der Fahrer sei auf Diät gesetzt und rast deshalb an jeder Essenstation vorbei, damit er nicht in Versuchung gerät, sich Burger und Chips reinzuziehen.

3. Eine Schlafbrille ist auch notwendig, falls man es wenigstens einmal versuchen möchte, ein bisschen zu ruhen, da schließlich an jeder Busstation das Licht angeknipst wird und...

4. ...Oropax, denn nicht nur das Licht wird angeschaltet, sondern auch eine Ansage gemacht, damit keiner den Stopp mitten in der Wüste Utahs um drei Uhr nachts verpasst.

5. Ein Nackenkissen ist ebenfalls nicht schlecht. Ansonsten bekommt man ruck zuck eine Genickstarre, ohne je zu Guns N’ Roses gerockt zu haben.

6. Ein Pulli, der den Greyhound-Passagier abwechselnd vor Erfrierungen wegen funktionierender Klimaanlage oder Prellungen aufgrund der vielen Ecken und Kanten in den Bussen rettet, ist auch nicht zu verachten.

7. Bei vielen Marathon-Busfahrten hilft ein Discman oder noch besser, da platzsparender, ein Radio über die Langeweile hinweg, weil es in Amerika definitiv die besten Radiostationen für jeden Geschmack gibt und man sich gnadenlos wegdröhnen kann.

8. Frische Socken sind vor allem aus Mitgefühl für andere Passagiere nicht übel, schließlich kann man oft zwei Sitze okkupieren und die Füße richtig hoch legen, ohne dass die Nachbarschaft Wäscheklammern für die Nase mitbringen muss.

9. Eine funktionierende Uhr für die wenigen Stopps, die eingelegt werden, ist nicht schlecht. Ansonsten darf man schon einmal zwölf Stunden auf den nächsten »Dog« warten. Die Fahrer fahren ohne Rücksicht pünktlich weiter.

10. »Patience«{51}, dieser Song von Guns N´Roses drückt alles aus, was man unbedingt mitbringen muss, ansonsten wird die Fahrt zum Horror-Trip.

 

Die Busfahrt mit den Greyhound ist auch deshalb so interessant, weil ich Kontakt zu Menschen bekomme, die ich mit dem Mietwagen nie kennen lernen würde. Die meisten Passagiere haben den amerikanischen Traum sicher nie geträumt. Aber die Rumpel-Pisten, auf denen ich oft fuhr, ließen eh kein Träumen zu. Nintendo Gameboy spielende »Gangsta Rapper« und Latino-Familien mit Kind und Kegel bepackt, bilden die Mehrheit der Passagiere. Dazu kommen noch Bürger, die ihren Führerschein abgeben mussten oder aus dem Knast entlassen wurden. Aber auch Studenten und einen Backpacker aus Deutschland verschlägt es auf die nicht allzu bequemen Sitze dieser Busse. Die »interessanteste« Frage, die mir in diesen gestellt wurde, lautet: »Nennt Ihr in Europa den Quarter-Pounder tatsächlich, wie in Pulp Fiction behauptet, Royal mit Käse?«{52}

In den USA durchfuhr ich innerhalb des Landes bereits die zweite Zeitzone. Diese Zeitzonen wurden 1883, nach der Fertigstellung der Bahnstrecke Atlantik-Pazifik, eingeführt. Bis dahin hatte jeder Ort seine eigene Zeit, die auf zwölf Uhr mittags fixiert war, dem Zeitpunkt, an dem die Sonne am höchsten genau im Süden steht. Wenn es zwölf Uhr mittags in Chicago war, zeigte die Uhr in Buffalo schon 18 Minuten nach zwölf beziehungsweise erst zehn vor zwölf in St. Louis. Anfangs begann man lediglich in den USA vier Zeitzonen entlang der Längengrade einzuführen. Alle 15 Grad wurde später weltweit eine Zeitzone eingeführt, so wie wir sie heute kennen. Die Weltzeit wurde auf null Grad Länge festgelegt. Dieser Längengrad zieht durch den Londoner Vorort Greenwich. Daher wurde die Zeit auf Greenwich Mean Time (GMT) getauft.

Oklahoma ist auch unter dem Namen »Sooner State« bekannt. Dieser Name wurde den ersten Siedlern gegeben, die, bevor die US-Regierung Land verteilen konnte, ihr Land bereits besetzten, und die dort lebenden Indianer zuvor verdrängt hatten. Die Indianer schotteten sich in eigenen Gebieten ab, um einen Staat zu gründen. Dies wurde von der US-Regierung abgelehnt. Erst 1907 wurde Oklahoma Bundesstaat der USA.

Die Staaten westlich des Mississippi sind durch einen Zufall zu den Vereinigten Staaten gekommen. Eigentlich wollte der junge Staat USA nur bei den Franzosen, die Anfang des 19. Jh. noch Lousianna und New Orleans ihr Eigen nannten, anfragen, ob sie auf dem Mississippi Schiffahrt betreiben dürften. Daher wurde James Monroe nach Paris geschickt, um bei Napoleon dies anzufragen. Napoleon, der gerade ziemlichen Ärger in Europa und der Karibik hatte, schlug hingegen vor, das gesamte Gebiet von Lousianna, das den heutigen Staaten Montana, North und South Dakota, Minnesota, Iowa, Wyoming, Colorado, Missouri, Kansas, Oklahoma, Arkansas und Lousianna entspricht, zu verkaufen. Obwohl es nicht in der Macht von Monroe und Präsident Jefferson stand, neues Land zu kaufen, taten sie es. Für 15 Millionen US-Dollar waren die USA auf einmal doppelt so groß und der so genannte »Lousiana Purchase« abgewickelt. Die Bundesstaaten entstanden nach und nach, sobald die magische Grenze von 60.000 Einwohnern, die in die neuen Territorien zogen, überschritten wurde.

Traurige Bekanntheit erlangte Oklahoma City am 19. April 1995, als ein amerikanischer Terrorist ein Bundesgebäude in die Luft sprengte, bei dem 168 Menschen ihr Leben verloren. Heute erinnern an der Stelle 168 leere Stühle auf einer grünen Wiese an die Opfer dieses Terroraktes. Für mich war Oklahoma City allerdings ein Ort der Freude, schließlich holte mich mein Mainzer Freund Alexander von der Busstation ab, um seinen Geburtstag gemeinsam mit anderen Studenten und mir zu feiern. Er war für ein Jahr als Austauschstudent hierher gekommen. Am nächsten Tag überzeugte mich Alex, mit ihm und einigen anderen Studenten nach Dallas, Texas, zu fahren, um dort das Football-Spiel seiner Oklahoma University, »OU« oder »Sooners« genannt, gegen die Erzrivalen aus Texas, die so genannten »Longhorns« zu sehen. Da Tickets nur auf dem Schwarzmarkt für etwa 500 US-Dollar zu bekommen waren, war von vornherein klar, dass wir nur in einer Kneipe das Spiel anschauen würden. Daher hatte ich anfangs Zweifel, wollte Alexander aber auch nicht gleich wieder verlassen und hatte sowieso gerade nichts anderes vor. Also auf nach Texas!

François aus Clermont-Ferrand hatte sich während seiner Zeit an der Oklahoma Universität einen Kleinbus gekauft, mit dem wir nun nach Süden fuhren. Wir waren sozusagen mit einem internationalen Mandat ausgestattet, um OU siegen zu sehen, schließlich fuhren wir zu Zehnt mit Leuten aus Frankreich, Schweden, Deutschland, Kolumbien, Bolivien und den USA in François Bus dem Spiel entgegen. In Dallas, abends vor dem Spiel angekommen, war tatsächlich die große Party angesagt. Doch Amerika ist in Sachen Sport und Begeisterung nicht Europa. Überall trafen wir auf Fans aus Texas und Oklahoma, die sich verbal bekriegten. Von Aggression war nirgends etwas zu spüren. Dies wäre bei uns in Europa bei einem Fußballspiel von beispielsweise Schalke gegen Dortmund, wie Alex meinte, undenkbar. Wahrscheinlich würde alles in einer großen Schlägerei enden. Denken wir nur an die WM 1998 in Frankreich und den Auftritt deutscher »Fans« in Lens. Ein OU-Fan schrie am laufenden Band: »Boomer!«, die restlichen OU-Fans antworteten: »Sooner!«

Die Texas Fans schrien anschließend »OU sucks!«, darauf antwortete OU entweder »…and Texas swallows!« oder etwas einfallsloser »Texas sucks!« Das war zwar alles ziemlich kindisch, machte aber mit ein paar Bierchen im Kopf wirklich Spaß. Am nächsten Tag schließlich das gleiche Bild: Jeder schrie so gut er konnte. Glücklicherweise war das Bier ziemlich schwach, denn ein Football Spiel dauert über vier Stunden und mit deutschem Bier und bei Temperaturen von 33 Grad Celsius wären wir sicher ins Koma gefallen. Doch nicht nur durch Schreierei versuchte man den Gegner zu provozieren. Extra für dieses Event hatten sich die T-Shirt-Verkäufer allerhand Sprüche ausgedacht, um die Klamotten an die Frau beziehungsweise den Mann zu bringen. Sebastian, der Kolumbianer, hatte sicherlich das provozierendste T-Shirt an: »Beat Texas«. In Dallas, Texas, dem Staat der »Revolverhelden« dieses anzuziehen, war schon wirklich mutig. Der Schriftzug »Tuck Fexas« auf einem T-Shirt in Texas zu tragen, war sicherlich auch sehr couragiert. Dagegen waren die Sprüche der Texaner mit »O – What?« oder »Don´t mess with Texas« harmlos. Auch die Zeichensprache kam an diesem Tage nicht zu kurz. Da das Team aus Texas als »Longhorns« stellvertretend für die Rinder stand, die in dem Bundesstaat überall grasen, machten die Texaner folgendes Handzeichen: kleiner Finger und Zeigefinger nach oben, die anderen Finger zu Faust geballt – dies war das Zeichen für Texas. OU Fans machten dieses Zeichen auch, mit dem kleinen Unterschied, dass das »Longhorn« nach unten zeigte. Am Ende hatte OU gewonnen, die Party ging aber trotzdem bei den Anhängern beider Teams weiter. Tatsächlich wurde ordnungsgerecht im »Law-and-Order-Staat« Texas gefeiert. Bierflaschen und Dosen auf der Straße waren tabu. Jeder, der ein Bierchen kaufen wollte, musste seinen Personalausweis vorzeigen, damit das Bier ausschließlich an Personen, die über 21 Jahre alt sind, ausgeschenkt wurde. Dies war halt Amerika. Es wurde wirklich verklemmt gefeiert. Da kommt doch Heimweh auf, wenn ich bei solchen Events an die Meenzer Fastnacht denke.

Nach der vielen Feierei, hieß es Abschied nehmen von Alexander und seinen Kommilitonen. Vor mir stand nun eine 18-Stunden-Busfahrt mit dem Greyhound nach Colorado. Die Menschen, die zusammengepfercht in diesen metallenen Röhren durch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten reisen, bildeten mit der Zeit eine Art Großfamilie. Der Anführer war immer der Fahrer, der gleichzeitig Mädchen für alles war: Ticketkontrolleur, »Klopapier-Auffüller«, »VJ« wenn es Videos gab, Gepäckträger und Einmann-Unterhalter. Ihm huldigten die Passagiere, da er bestimmte, wann es weiterging und wo gehalten wurde. Leider stoppte der Fahrer beziehungsweise die Fahrerin allzu oft bei McDonald´s. Alle Passagiere gaben acht, dass niemand zurückgelassen wurde. Mein Handgepäck konnte ich getrost im Bus zurücklassen, ohne dass es geklaut wurde. Im Bus herrschte noch die heile Welt Amerikas vor 09/11.

Die Fahrt nach Colorado führte durch die US-Bundesstaaten Texas und New Mexico. Texas wird als »Lone Star State« bezeichnet, da sich auf der Staatsflagge lediglich einem Stern befindet. Texas wurde 1845 von den USA annektiert, nachdem der Staat sich einige Jahre vorher von Mexiko für unabhängig erklärt hatte, da Mexiko die Sklaverei hatte abschaffen wollen. 1846 kam es unweigerlich zum Krieg zwischen den USA und Mexiko. Den Krieg entschieden die USA für sich, und Mexiko musste die Gebiete der heutigen Staaten Kalifornien, Utah, Colorado und New Mexico an die USA abtreten. Für zehn Millionen US-Dollar kauften die USA schließlich den Rest des heutigen New Mexiko und Arizona von Mexiko im Jahre 1853 ab. New Mexiko durchfuhr ich nur im äußersten Nordosten für einige Stunden, ehe ich nach Colorado gelangte. Colorado wird auch als »Centennial State« bezeichnet, da dieser Staat im Jahre 1876 den Vereinigten Staaten beitrat – exakt 100 Jahre nach der selbsterklärten Unabhängigkeit. Zunächst fuhr ich in die »Mile High City« Denver, die exakt 1.600 Meter hoch gelegen ist, und anschließend weiter nach Boulder. Auf dieser Fahrt zeigte sich wieder einmal die Freundlichkeit der Amerikaner. Da ich 3,50 US-Dollar passend zu zahlen hatte, aber nur einen fünf US-Dollar Schein besaß, nahm mich der Fahrer einfach kostenlos mit.

In Boulder angekommen, staunte ich nicht schlecht: kein McDonald´s, kein Burger King, kein Wendy´s, kein Taco Bell und kein »Schrottfutter-Supermarkt«. Dafür nur Ökoläden mit Vollwertkost und Essen aus biologischem Anbau. Die Stadt liegt direkt am Fuß der Rocky Mountains und ist für seine alternativ lebende und denkende Bevölkerung bekannt. Als ich einem Bewohner von Boulder erzählte, dass ich es bewundernswert fände, dass Fans von verschiedenen Football-Teams gemeinsam friedlich feiern können und dass dies in Europa bei Fußballspielen manches Mal gänzlich anders sei, meinte er trocken, dass Amerika die Aggressivität und Kampfbereitschaft in der Politik rauslasse, Europäer wohl eher beim Sport.

Ich genoss die Herbsttage in den Rocky Mountains mit einer Wanderung durch das kunterbunte Colorado der Rocky Mountains: leuchtend gelbes Birkenlaub, grüne Tannen, rot gefärbte Ahorn-Bäume, dunkelblauer Himmel, rötlich-brauner Fels und weißer Sand nach Osten hin in Richtung der großen Ebenen im mittleren Westen der USA. In Boulder fand ich auch meinen Traumjob: »Paperboy«. Der Paperboy fuhr morgens mit verpackten Zeitungen durch die Stadt und warf die Zeitung von der Straße aus in Richtung Haustür. Ob er das Ziel traf oder nicht war zweitrangig. So flogen überall Zeitungen in den Büschen und auf dem Rasen der Vorgärten herum. Aber der Paperboy hatte seine Arbeit getan.

Von Boulder fuhr ich durch den Staat Wyoming weiter in die Olympiastadt Salt Lake City. Wyoming hat zwei Spitznamen. Der erste lautet »Cowboy State«. Diesen Namen hat sich Wyoming wirklich verdient, sieht es dort doch tatsächlich so aus wie in jedem Western. Trockensavanne, einsame Eisenbahnstrecken, Schneeberge im Hintergrund, pfeifender Wind und schlecht rasierte Typen. Den Namen »Equality State«{53} verdiente sich Wyoming, als es 1869 als erster Bundesstaat und vielleicht auch als erste Region weltweit den Frauen über 21 Jahre das Wahlrecht gab. Dies geschah allerdings nicht aus emanzipatorischen Gründen, sondern um Frauen in den Cowboystaat zu locken. Der Überschuss an Männern betrug damals sechs zu eins.

Nachdem ich den ganzen Tag durch die Prärie getuckert war, kam ich abends in Utahs Hauptstadt Salt Lake City an. Der Name Utah geht auf die Ute-Bewohner zurück, die hier vor etwa 8.000 Jahren siedelten. Im 19. Jh. wurde Utah zur Heimat der Mormonen, einer christlichen Religionsgemeinschaft. Die Mormonen flohen vom heutigen Illinois nach Westen, da sie wegen ihrer Religion verfolgt wurden. Im Gebiet von Utah fanden sie eine neue Heimat. Nach sechs Versuchen, den USA beizutreten, wurde Utah beim siebten Versuch 1896 der 45. Staat der USA. Vor der Aufnahme in die Staatengemeinschaft musste die bei den Mormonen praktizierte Polygamie offiziell abgeschafft werden. Salt Lake City machte auf mich wie zuvor St. Louis einen verschlafenen Eindruck, der sich in mir durch die fehlende Straßenbeleuchtung noch verfestigte. Allerdings konnte ich im Dunkel von Salt Lake dadurch ungestört und seelenruhig ein Dosenbier ohne Verpackung auf der Straße genießen.

 

Von Salt Lake City reiste ich durch die Staaten Utah, Idaho, Montana und Washington nach Vancouver in British Columbia. Der »Gem State«{54} Idaho ist wie Utah ein Wüstenstaat mit herrlichen Landschaften. Der Sonnenuntergang in dieser Region sah aus wie ein Bild des Surrealisten René Margritte: hell leuchtende Wolkenformationen vor schwarzer riesenhafter Bergkulisse. In Montana liegt die Quelle des Flusses Missouri und der Staat wird auch als »Big Sky Country«{55} bezeichnet. Leider fuhr ich fast ausnahmslos durch das nächtliche Montana und konnte lediglich den hell leuchtenden Vollmond bewundern. Am Ende dieser langen Busfahrt angelangt, musste leider feststellen, dass mein Rucksack nicht so weit gekommen war. Ob er in Butte, Montana, in Spokane,Washington, in Portland, Oregon, oder in Vancouver, Washington, lag? Ich wusste es nicht. Greyhound kannte dieses Problem bereits zur Genüge und versprach mir, dass er bald auftauchen würde. Wann dies geschehen würde? Das wusste ich ebenfalls nicht.