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Die nächsten Tage verbrachte ich im wunderschönen Gros Morne National Park. Dank zweier Backpacker, die mich mit ihrem Auto zu einer schönen Wanderung auf den Tafelberg Gros Morne mitnahmen, bekam ich sogar ein Karibu zu Gesicht. Der Nationalpark zeichnet sich vor allem durch seine landschaftliche Vielfalt aus. Fjorde wie in Skandinavien, Tafelberge wie in Südafrika und dazu die wunderschöne Waldlandschaft machten den Aufenthalt zu einem wunderbaren Erlebnis. Auch die Gaumenfreuden kamen nicht zu kurz, da ich in unserem Dorf frischen Lachs, Heilbutt, Kabeljau und Kammmuscheln in einer Fischerkooperative günstig kaufen und selbst zubereiten konnte. Das war einmal etwas anderes als die Pasta-Reis-Kartoffeldiät, die ich meist zu mir nahm. Leider neigte sich schließlich meine Zeit in Neufundland dem Ende zu. Die letzten 400 Kilometer zum Fährhafen Port-aux-Basques bekam ich wieder einen Ride der besonderen Art. Gail aus Chicago, Illinois, bekennende George-W.-Bush-Wählerin und »proud to be American«{39}, war eine mir zunächst ziemlich unsympathische Amerikanerin, da sie immer alles besser wusste. Doch mit ihr konnte ich schließlich gut über die Politik der Amerikaner nach 09/11{40} diskutieren. »Schlugen« wir uns nicht gerade wieder wegen ihres Präsidenten die Köpfe ein, wurden wir von den Drums aus ihrer monströsen Hi-Fi-Anlage beschallt. Die Musik war hörbarer Techno, schließlich war einer ihrer Söhne DJ in Chicago.

Nach sechs Stunden nächtlicher Überfahrt, einem üblichen nordamerikanischem, kulinarisch desaströsen Frühstück und rund vierstündiger Busfahrt in Richtung Halifax hielt mein Bus vor den Köstlichkeiten der amerikanischen Gastronomie: Subway oder McDonald’s, das war die Frage mit der ich mich notgedrungen beschäftigen musste. Doch plötzlich wurden meine müden Augen wieder hellwach. Es gab etwas bei McDonald’s, was für diese Fastfood-Kette ziemlich einzigartig ist: »Mc Lobster«. Der Sandwich war mit Hummer belegt und das für den selben Preis, für den wir in Deutschland einen plastikähnlichen Big Mac bekommen.

Auf durch Amerika – ohne Auto

Etappe: Von Halifax NS, Canada 45° Nord 64° West (GMT -3) nach Bar Harbour ME, USA 44° Nord 68° West (GMT -4): 1.188 km – Total 14.270 km

Bar Harbour, 3. Oktober 2002

Nachdem ich die Provinz Neufundland verlassen hatte, kam ich nach Nova Scotia, eine der vier Provinzen, die 1867 durch die britische Regierung zur »Dominion of Canada« zusammengeführt wurden. Doch bis zur Gründung Kanadas war diese Region nicht immer britische Kolonie. Der erste Europäer, der den St.-Lorenz-Golf entlangfuhr, war 1534 der Franzose Jacques Cartier. Das Land, das er fand, erklärte er zu französischem Territorium. Die eigentlichen Bewohner, zahlreiche Indianerstämme, wurden nicht gefragt. Cartier gab der neuen Kolonie den Namen »Kanata«. Dieses Wort bedeutet in einer der zahlreichen Indianersprachen nichts anderes als Dorf. Später wurde aus diesem Wort der Name »Canada«, der seither für das ganze Land steht. 1663 wurde Kanada offiziell französische Provinz.

Die Briten schauten dieser Landnahme nicht teilnahmslos zu und erklärten Neufundland und Nova Scotia zu britischen Kolonien. Früher oder später musste es leider Krieg zwischen beiden Nationen um das neue Land geben, denn die fischreichen Gewässer und der Pelzhandel, der gerade entstand, waren Grund genug, die jeweils andere Nation zum Feind zu erklären. So begann 1754 ein 7-jähriger Krieg, der hauptsächlich in der Provinz Québec ausgefochten wurde. Gewinner dieses Kriegs war schließlich die britische Krone. 1763 wurde Kanada britische Kolonie. Während des Krieges litt besonders die französischsprachige Bevölkerung in Nova Scotia. Ihren Teil von Nova Scotia nannten sie »Acadia«, noch bevor die englischsprachige Bevölkerung den Namen Nova Scotia einführte. Zum Ende des Krieges, als sich ein Sieg des Empires über Frankreich abzeichnete, wurden viele französischsprachige Bewohner von Acadia vertrieben und ihre Dörfer zerstört. Sie flohen in die verbliebenen französischen Territorien Nordamerikas nach Lousiana, Martinique und Haiti.

Nach dem Sieg über Frankreich steckte das Empire in einem Dilemma. 90 Prozent der Bewohner waren französischen Ursprungs und katholisch. Daher gaben die Briten den französischen Bewohnern schließlich die gleichen Rechte wie den wenigen Briten, die damals in Kanada lebten. Erst während des amerikanischen Freiheitskrieges flüchteten viele Anhänger der britischen Krone aus den sich bildenden Vereinigten Staaten ins nördliche gelegene Kanada. Bald darauf bildeten die Briten die Bevölkerungsmehrheit und wollten die Vorherrschaft in der Politik gegenüber den frankophonen Bewohnern. Zu dieser Zeit keimte in der französischsprachigen Provinz Québec bereits der Gedanke auf, sich vom Rest der Kolonie abzutrennen. Dieser Separatismus ist bis zum heutigen Tag in Québec vorhanden. Kanada ist heute ein Staat im Commonwealth mit der Königin von England als Staatsoberhaupt. Die letzte Provinz, die der Konföderation von Kanada beitrat, war 1949 Neufundland.

Nach der Flucht der Franzosen wurde Nova Scotia im 18. Jh. hauptsächlich von schottischen Auswanderern besiedelt. Die Provinz besteht hauptsächlich aus Wald, Wald und nochmals Wald. Der Busverkehr war ein wenig besser organisiert als in Neufundland, aber auch auf dieser Insel besteht die Hauptklientel der Busunternehmen aus Rentnern und einem deutschen Backpacker. Hinter mir im Bus saßen wieder einmal Chips mampfende ältere Herrschaften. Da ich die Nacht vorher auf der Fähre nach Nova Scotia praktisch nicht geschlafen hatte, versuchte ich es nun im Bus. Doch leider war das Geknirsche der Chips-Tüten stärker als das Bedürfnis meines Körpers zu schlafen. Nach dem Lunch wurden Bonbons ausgepackt und lautstark gelutscht. Obwohl ich die Augen während der Fahrt geschlossen hielt, um vielleicht doch zu schlafen, bekam ich alles »Aufregende« der Fahrt mit, da beide, wie in der Muppets-Show die zwei Alten auf dem Balkon, jedes noch so kleine Detail am Straßenrand kommentierten: »Oh road work!«, oder »What a beautiful garden!« oder »Look! The traffic light is red!«. Wenn es nichts zu kommentieren gab, da wir wieder einmal durch endlosen Wald fuhren, wurde die Bemerkung »What a nice day!« eingeworfen. Durch die dauernde Beschallung war Schlafen zur Unmöglichkeit geworden.

In Kanada existieren Jobmodelle, die die Hartz-Kommission in Deutschland sicher nicht wagen würde vorzustellen. Bei den vielen Straßenbauarbeiten beispielsweise gab es zwei Personen, die den ganzen Tag nichts anderes taten, als ein Schild in der Hand zu halten, auf dem auf der einen Seite »Stop« und auf der anderen Seite »Go« stand. Die Kunst der Arbeit bestand nun darin, möglichst nicht gleichzeitig auf beiden Seiten der Baustelle »Go« den Autofahrern zu zeigen, da dies katastrophale Folgen gehabt hätte. Daher wurde ein dritter Job geschaffen – der des Begleit-Fahrzeugführers. Eine Person fuhr mit ihrem Pick-up immer vor den Autos, die die Baustelle passieren wollten. Den ganzen Tag musste diese Person hin- und herpendeln und PKWs durch die Baustelle lotsen. Ein anderer ebenfalls sehr monotoner Job war der des »Einkaufswagen-Zurückbringers« auf den vielen Parkplätzen der Shopping-Center. Der Job des »Tüten-Einpackers« im Supermarkt ist sicherlich vielen Lesern schon bekannt. Daher bin ich wirklich froh, solche Verhältnisse in Europa noch nicht vorzufinden.

In Halifax, der Hauptstadt von Nova Scotia, mietete ich mir erneut ein Fahrrad. Leider wurde ich während meiner Tour mit immer neuen Problemen konfrontiert, was das Rad fahren anbetrifft. Waren es auf den Orkneys noch die Naturgewalten wie Sturm und Regen, die einem das Leben schwer machten, war es in Schottland, Island und nun in Halifax die Nachlässigkeit, mit der Radvermieter ihre stählernen Rösser behandelten. Die Gangschaltungen, falls sie funktionierten, waren so falsch eingestellt, dass einem passionierten Radfahrer wie mir, fast die Tränen kamen, da ich bei jeder Pedal-Umdrehung, das Knirschen von Metall auf Metall hören musste, ohne etwas dagegen tun zu können, weil Werkzeug natürlich ein Fremdwort war. Diesmal hatte der Drahtesel zwar eine Gangschaltung, doch die vordere war bloße Verzierung, da das Kabel, das zu ihr führte, total zerfetzt war. Wenigstens konnte ich die Kette auf das Mittel-Ritzel ziehen, sodass ich einigermaßen von der Stelle kam. Ziel meiner Tour waren die idyllisch gelegenen Fischerdörfer um Halifax an der Atlantikküste. Leider spielte das Wetter überhaupt nicht mit und diese 90 Kilometer Tour wurde zur Dauerdusche von oben durch den Dauerregen, von unten durch die mit Wasser vollgelaufenen Schlaglöcher und von der Seite durch die vorbeiziehenden Autos. Zum ersten Mal in meinem Leben radelte ich nun neben einem dieser monströsen Trucks, wie wir sie aus den Filmen von Hollywood zur Genüge kennen. Ich kam mir vor wie im »Enter-Sandman«-Video von Metallica oder bei Terminator 2, wo die Menschen vor diesen Trucks zu flüchten versuchen. Doch die Trucker waren mir nicht feindlich gesinnt. Mit einem Hupton verscheuchten sie mich rechtzeitig von der Straße in die Böschung am Straßenrand, sodass ich immer mit dem Schrecken davonkam.

Peggy’s Cove ist leider nicht mehr nur ein idyllisches Fischerdorf. Dort wurden im September 1998 die Wrackteile des Fluges Swissair 111 an Land gespült. Die Maschine stürzte in den Atlantik, nachdem die Piloten die Kontrolle über die MD 11 verloren hatten, da Rauch im Cockpit aufgetreten war. Ein Gedenkstein erinnert an diese Katastrophe in der Nähe des Dorfes. Halifax wurde in der Vergangenheit ebenfalls von einer Katastrophe heimgesucht. Am 6. Dezember 1917 gab es im Hafen die größte von Menschen verursachte Explosion vor der Zündung der Atombombe in Japan 1945. Das französische Munitionsboot »Mont Blanc« stieß im Hafen von Halifax mit dem belgischen Handelsschiff »Imo« zusammen. Die Crew des Munitionsboots wusste, was sie geladen hatte: u. a. mehr als 200 Tonnen TNT und 2.100 Tonnen Pikrinsäure, die für Sprengmaterial verwendet wird. Daher floh die Crew mit den Beibooten. Das Schiff explodierte erst 30 Minuten nach der Havarie. 1.900 Menschen kostete dieser Unfall das Leben. Der 1.000 Kilogramm schwere Anker des Schiffs wurde drei Kilometer von der Unfallstelle gefunden. Die Explosion war noch 300 Kilometer entfernt zu spüren und 150 Kilometer entfernt zu hören. Die Nachbarstaaten Nova Scotias und insbesondere die Stadt Boston halfen damals den Bewohnern von Halifax, sodass bis heute, als Zeichen der Anerkennung, Boston von Halifax jedes Jahr einen Weihnachtsbaum geschenkt bekommt.

 

Aufgrund dieser Explosion hat Halifax nicht mehr viele wirklich alte Gebäude zu bieten. Doch für mich war die Stadt wegen ihrer vielen Pubs und der perfekten Übernachtungsmöglichkeit in einem Hostel mit Küche, Internet, Café und Wohnzimmer ein schöner Aufenthaltsort geworden. Glücklicherweise brachte ein gewisser Alexander Keiths aus Schottland die gute Brautradition mit, sodass ich während einer Brauereiführung, die eher einem Theaterstück glich, gutes schottisches Ale genießen durfte. Das war das erste Mal, dass ich auf nordamerikanischem Boden anständiges Bier bekam. Ich war gespannt, wie dies in den kommenden Wochen aussehen würde. In Halifax merkte ich, dass die Welt doch ziemlich klein sein kann, denn mir lief zum ersten Mal ein Meenzer{41} Wesen über den Weg. Endlich konnte ich wieder »Meenzer Bube, Meenzer Mädche«{42} singen, ohne von allen Seiten schief angeguckt zu werden.

Von Halifax reiste ich mit dem Bus die Südostküste Nova Scotias entlang nach Lunenburg. Wie der Name erkennen lässt, war diese Stadt eine deutsche Gründung. Haupterwerbszweig war im 18. Jh. der Schiffbau gewesen. Viele der Bewohner sind damit sehr reich geworden. Ihre wunderschönen Holzbauten am Naturhafen konnte ich auch noch nach 250 Jahren bewundern. Das bekannteste Boot, das im Ort gebaut wurde, war »Bluenose« im Jahre 1921: ein Zweimaster-Holz-Segelboot, das eigentlich dem Fischfang dienen sollte, aber hauptsächlich für das jährliche Bootsrennen zwischen den USA und Kanada genutzt wurde. Von 1921 bis 1938 gewann die Bluenose jedes Rennen gegen die Boote aus den Vereinigten Staaten. Mit dem Ausbruch des 2. Weltkriegs gab es keine Rennen mehr und die Ära der Holzsegelboote war vorbei. Bluenose wurde 1942 nach Haiti verkauft und sank dort vor der Küste im Jahre 1946. 1963 wurde mit den gleichen Konstruktionsplänen Bluenose II gebaut. Seither kann man, wenn man Glück hat, mit Bluenose II vor der Küste Nova Scotias mitsegeln. Als ich das Boot in seinem Geburtshafen Lunenburg sah, musste ich natürlich mit auf den Segeltörn. Es war eine wunderschöne Erfahrung, das lautlose Gleiten des Schiffes zu erleben. Statt eines Dieselmotors waren bei dieser Reise das Knirschen des Holzparketts und das Flattern der Fahne die markanten Geräusche gewesen.

Manchmal kann Reisen ohne Auto in Kanada wirklich anstrengend sein. Der einzige täglich verkehrende Bus von Lunenburg nach Yarmouth an der Südwestküste von Nova Scotia fuhr ausgerechnet spätabends. Um Mitternacht kam ich in Yarmouth an. Da es kein Hostel gab, musste ich irgendwo zelten. Aber leider landete ich in einem großen Gewerbegebiet, sodass ich eine unfreiwillige Nachtwanderung von über einer Stunde zum nächsten Zeltplatz unternehmen durfte, ehe ich um halb zwei Uhr nachts endlich in meinen Schlafsack kroch. Am nächsten Morgen ging schließlich alles in umgekehrter Richtung zurück. Ich befand mich leider in der Zivilisation, wo Trampen unmöglich erschien, da ich mich bereits in der Stadt befand. Dass ich mich als Fußgänger langsam »Downtown«{43} einer nordamerikanischen Stadt näherte, merkte ich als erstes an den zunehmenden Spuren für die Autos auf Ausfallstraßen. Plötzlich existierten Trampelpfade am Seitenrand für ganz bescheuerte Menschen, die doch tatsächlich per Pedes unterwegs waren. Später wandelten sich die Pfade in Bürgersteige. Kurz vor Downtown wuchsen auf einmal statt riesiger Parkplätze und Einkaufszentren Bäume am Straßenrand, und hatte der McDonald’s keinen »Drive Thru«{44} mehr, befand ich mich tatsächlich in Downtown.

Von Yarmouth fuhr ich mit einem Katamaran die 200 Kilometer von der Halbinsel Nova Scotia nach Westen an die Ostküste der Vereinigten Staaten. Leider war ich der einzige Passagier unter 65 Jahren, aber da Amerikaner sehr kontaktfreudig sind, kam ich mit einem Paar aus Wisconsin ins Gespräch. Die beiden waren sicher bereits Mitte 70. Leider sprachen wir recht schnell über Politik. So langsam musste ich wirklich diplomatisches Geschick beweisen, denn was sollte ich auf Fragen, was wir Deutschen von Präsident Bush hielten, antworten? Anscheinend hatte meine ausweichende Antwort die beiden zufrieden gestellt, da ich weder zum Staatsfeind erklärt wurde, noch das Gespräch abgebrochen wurde.

In Bar Harbour, Maine, angekommen, erkannte ich erneut, dass Reisen ohne Auto in Nordamerika wirklich anstrengend war. Vom Fährterminal durfte ich wieder auf Nachtwanderung mit ungewissem Ausgang gehen, wusste ich doch lediglich, dass ich irgendwann an einem Campingplatz vorbeikommen musste, doch nicht nach wieviel zurückgelegten Kilometern. Wild zelten klappte neben dem Marriot, dem Hilton und dem Holiday Inn leider nicht. So hieß es wandern, wandern und nochmals wandern. Nach etwa eineinhalb Stunden erblickte ich das erlösende Campingplatz-Schild. Der Besitzer konnte es nicht glauben, dass hier ein »German« zu Fuß unterwegs war. Daher lieh er mir sein Mountainbike, mit dem ich durch den Acadia National Park radeln konnte. Endlich ein Rad, das einigermaßen rollte, ohne dass meine rudimentären Technikkünste aufblitzen mussten. Der Nationalpark eignete sich perfekt zum Mountainbike fahren. Unbefestigte für Autos nicht zugängliche Wege durch Kiefernwälder entlang der Atlantikküste waren absolut mein Terrain. Es duftete so angenehm, wie in einem Wald in der Provence, und endlich war es wieder warm. Schließlich war es auf Island, Neufundland und Nova Scotia doch bereits ziemlich kühl gewesen.

Der »Dog« und seine Tücken

Etappe: Von Bar Harbour ME, USA 44° Nord 68° West (GMT -4) nach St. Louis MO, USA 39° Nord 90° West (GMT -5): 2.573 km – Total 16.843 km

St. Louis, 10. Oktober 2002

Mit der Ankunft in meinem ersten US-Bundesstaat auf dieser Reise, dem kleinen Maine, befand ich mich weiterhin auf der Spur der Wikinger, die vor 1.000 Jahren etwa bis zum heutigen New Jersey vorgedrungen waren. Maine gehört zu den sechs Bundesstaaten, die die so genannten »Neu-England-Staaten« bilden. Grob genommen ist dies der äußerste Nordosten der USA. Maines Spitzname lautet »Pine Tree State«, wegen der vielen Pinien, die es einmal gegeben hatte – nun leider aber nicht mehr allzu häufig gab. In Maine fing nun meine Reise quer durch das Land von Küste zu Küste mit einer urtypischen amerikanischen Institution an, die alle kennen, aber wahrscheinlich noch niemand aus der Leserschaft genutzt hat: den Greyhound. Die wenigen Leute, die ich traf und die mit diesen Überlandbussen unterwegs gewesen waren, hatten nur Horrorgeschichten auf Lager. So war ich gespannt, was ich alles zu erzählen hätte. Leider verlief meine erste Fahrt von Bar Harbour nach Boston ebenfalls nicht gerade allzu angenehm.

Zunächst durfte ich morgens um halb fünf im Platzregen aufstehen und mein Zelt zusammenpacken. Der einzige Bus von Bar Harbour nach Boston musste unbedingt morgens um halb sieben abfahren. Glücklicherweise nahm ich den Luxus eines Taxis in Anspruch, um nicht im Dauerregen zur Busstation zu gelangen, ansonsten wäre ich wahrscheinlich total aufgeweicht worden. Da ich in den USA permanent Gefahr lief, wegen Vitaminmangels an Skorbut zu erkranken, da es im preiswerten Nahrungsmittelsektor meist nur Chips und Cola zum Essen und Trinken gab, stopfte ich mich im Bus mit Pflaumen und Birnen aus einem Vegetarier-Laden voll. Daraufhin bekam ich im Bus allergrößte Magenkrämpfe. Neben mir saß dazu noch ein Mitsechziger, der statt die amerikanische Fahne zu schwenken, eher mit seiner starken Alkoholfahne auf sich aufmerksam machte. Zudem nickte er leider gleich nach Fahrtantritt ein und begann ein DauerSchnarch-Konzert. Nach sieben Stunden Fahrt war ich endlich in Boston, Massachusetts, angekommen. Der Staat trägt zu Recht den Spitznamen »Spirit of America«.

Boston gilt als Geburtsstätte der Vereinigten Staaten. In der Stadt startete die amerikanische Revolution und dort entsprang auch der für die USA so typische Patriotismus. Vor der Revolution gab es die amerikanische Nation überhaupt noch nicht. Vielmehr waren mehrere Staaten aus der »Alten Welt« damit beschäftigt, sich diesen Kontinent untereinander aufzuteilen und schließlich später gegenseitig abzuringen. Die Spanier unter Christoph Kolumbus waren seit 1492 auf dem heutigen Gebiet der USA vor allem im Westen und Süden aktiv. Die Franzosen unter Cartier bauten hingegen Forts von Québec in Kanada den Mississippi hinunter bis nach Nouvelle Orléans, dem heutigen New Orleans. Die Engländer hingegen bauten unter Cabot an der Ostküste jeweils eigenständige Kolonien auf. Diese bildeten die Basis der heutigen Oststaaten. Sogar die Holländer im heutigen New York, damals »Nieuw Amsterdam« genannt, und die Schweden auf der Delaware-Halbinsel mischten im großen Spiel mit. Ganz im Westen traf man bis zum 17. Jh. an der Küste nördlich vom heutigen San Francisco sogar auf russische Stützpunkte, die von Pelzhändlern aufgebaut worden waren. Doch die dominierende Macht wurde mit der Zeit England. Nieuw Amsterdam wurde von den Holländern gegen Surinam eingetauscht, die Schweden gingen mehr oder weniger freiwillig. Die Franzosen wurden im 7-jährigen Krieg um 1760 besiegt. 1763 verlor Frankreich nicht nur Kanada, sondern auch das gesamte Territorium auf heutigem US-Boden mit der Ausnahme von New Orleans und Lousiana.

Auslöser für die amerikanische Revolution war eine große Steuererhöhung durch das Empire in den Kolonien an der Ostküste. 1773 fingen die Kolonien an, britische Güter zu boykottieren und kippten riesige Teeladungen in den Hafen von Boston. Dieses Ereignis ging als so genannte »Boston Tea Party« in die Geschichtsbücher ein. Daraufhin wurde der Bostoner Hafen von den Briten geschlossen. 1775 startete schließlich in Boston die Revolution unter ihrem Führer George Washington, als britische Truppen von Revolutionsgarden beschossen wurden. Mitten im Krieg am 4. Juli 1776 erklärten 13 britische Kolonien, die heutigen Bundesstaaten entsprechen, ihre Unabhängigkeit vom Empire in Philadelphia. Der Krieg wurde durch das Eingreifen der Franzosen ab 1778 auf der Seite der neuen amerikanischen Nation gegen die Briten drei Jahre später im Jahre 1781 entschieden. 1783 wurde die amerikanische Unabhängigkeit im Vertrag von Paris allgemein anerkannt. Die Westgrenze bildete der Mississippi. Spanien hielt weiterhin Florida und das Land westlich vom Mississippi. Die neu entstandenen Vereinigten Staaten von Amerika bestanden damals lediglich aus ehemaligen britischen Kolonien östlich des Appalachen-Gebirges. Das Gebiet westlich der Appalachen zum Mississippi hin war lediglich US-Territorium. Es entstand dort damals noch kein Bundesstaat.

Als erstes gab ich in Boston den Reiseführer über Kanada wieder brav ab. Der Reiz an Boston bestand für mich an dem starken Kontrast zwischen alten Häusern und Friedhöfen, die direkt neben riesigen Wolkenkratzern etwas deplatziert wirkten. Ansonsten genoss ich es einfach, in den vielen kleinen Straßen spazierenzugehen und das Leben auf der Straße zu beobachten. Morgens um halb acht scheinen alle Bostonians wie ferngesteuert ihrem Pappbecher Kaffee zu folgen, den sie vor sich wie einen Joystick halten. Wie von Geisterhand gesteuert, schwirren die Menschen durch die Straßen und schaffen es doch tatsächlich, sich den Kaffee nicht gegenseitig überzukippen. In Boston traf ich zum ersten Mal auf die traumatischen, patriotischen Reaktionen, die 09/11 folgten. Überall wehte das Sternenbanner, und häufig fand ich Sprüche wie »We’ll never forget«{45} oder »Together we stand«{46}. Dass das Sternenbanner aber auch den grünen Hahn von der Corn-Flakes-Packung vertrieben hatte, finde ich etwas übertrieben.

 

Da ich mich in Großstädten nicht allzu lange aufhalten mochte, wollte ich mit dem Greyhound wieder hinaus ins Hinterland der Neu-Englandstaaten fahren, genauer gesagt nach Vermont. Doch Reisen mit dem Greyhound-Bus bringt immer wieder neue Abenteuer mit sich, die die Tour abwechslungsreich gestalteten. Da die Amerikaner das »Queueing« von den Engländern übernommen hatten, standen vor jedem Bus die Passagiere geduldig schon eine halbe Stunde vor der Abfahrt an. Ich dachte, ich besitze ein Ticket und telefoniere lieber nochmals mit meinen Eltern in Deutschland. Das war leider ein Fehler. Ich reihte mich schließlich als letzter in die Schlange ein, aber als ich in den Bus stieg, waren alle Plätze bereits belegt. Außer mir fand noch eine weitere Person keinen Sitzplatz mehr. Der Fahrer wollte uns erst auf dem Gang mitnehmen, sagte schließlich aber, dass ein zusätzlicher Bus zehn Minuten später abführe. Das glaubte ich allerdings nicht und wollte an Bord bleiben. Aber der Busfahrer warf mich mehr oder weniger aus dem Bus hinaus. So regelte man das bei Greyhound mit überbuchten Bussen. Schnell konnte ich noch meinen Rucksack aus dem Gepäckraum des Busses herausholen. Dafür bekam ich allerdings einen Anschiss vom Fahrer, denn dies wollte er auch nicht. Aber ich bleibe doch lieber gemeinsam mit meinem Rucksack stehen, ansonsten würde ich ihn eventuell nie wiedersehen.

Die andere Person, Andria, eine Italo-Amerikanerin, war für mich anfangs typisch amerikanisch: naiv und höflich. Sie machte Platz für eine andere Person, die irgendwo einen Anschluss-Bus erreichen wollte. Dabei musste Andria einen Transatlantik-Flug abends in Montreal erreichen. Dumm gelaufen, da natürlich kein Bus kam. Dank Andrias italienischem Temperament konnte ich mir die »Jetzt-flippe-ich-total-aus-Show« sparen. Diese spulte Andria für uns beide ab, während ich auf unser Gepäck aufpasste. Was hatte ich auch zu meckern? Ob ich nun in Burlington, Vermont, abends um sieben oder um elf ankam war mir letztendlich egal. Die Hauptsache bestand im Ankommen. Andrias Lage war weitaus dramatischer. Der nächste Bus fuhr dreieinhalb Stunden später ab. Andria bekam ein Gratis-Ticket, verpasste aber dafür definitiv ihren Flug nach Europa. Ich durfte auch ein Beschwerdeschreiben unterzeichnen, auf das sich aber nie wieder jemand bei mir gemeldet hat. Manche Mitarbeiter von Greyhound waren allerdings wirklich hilfsbereit, muss ich zu ihrer Rettung gestehen. Ein Busfahrer, der das ganze Theater verfolgt hatte, meinte, er würde bereits eine Stunde früher als der andere Bus nach White River Junction fahren. Wo lag eigentlich White River Junction? Nun gut, hinein in den Bus. Wir hofften einfach, einen Anschluss in White River in Richtung Vermont und Montreal zu bekommen.

Nun verließ ich für längere Zeit die Küste des Atlantischen Ozeans, der ich seit St. Malo in der Bretagne zwei Monate zuvor mehr oder weniger immer wieder gefolgt war. Auf die Idee an diesem Freitag Nachmittag wieder einmal raus aufs Land zu fahren kam halb Boston. Wir standen zunächst zwei Stunden im Stau. Danach klapperte unser Bus alle Dörfer des US-Bundesstaates New Hampshire ab. Ich fand New Hampshire grauenvoll. Es regnete aus Kübeln, wir standen im Stau und wir wussten nun noch nicht einmal mehr, ob wir den Anschluss nach Burlington und Montreal bekommen würden, da der spätere Bus direkt ohne Zwischenstopps in den Käffern New Hampshires abfuhr. White River Junction bestand aus vier Tankstellen und einem McDonald’s. Dort hatte ich wirklich keine Lust, die Nacht zu verbringen, doch welch ein Wunder, es wartete tatsächlich ein Bus nach Montreal via Burlington in diesem gottverlassenen Kaff.

Während der Busfahrt konnte ich mich mit Andria gut über ihr Land und ihre Landsleute unterhalten. Sie erzählte mir, dass im Fernsehen permanent erzählt würde, dass die ganze Welt Amerikaner hasste. Als ich ihr klarmachte, dass die Kritik sich gegen George W. Bushs Politik und nicht gegen das Volk richtete, war sie ziemlich überrascht. Nun kann ich diesen Patriotismus nachvollziehen, den die Leute an den Tag legten. Wenn man die ganze Zeit erzählt bekommt, dass dich jeder hasst, schweißt das ganz sicher zusammen. Von Manipulation der Massen zu reden, ist in diesem Kontext sicherlich nicht falsch. Ich wurde auch von Amerikanern angesprochen, ob ich Bundeskanzler Schröder gut fände. Als ich sagte, dass ich ihn dem Unionskanidaten Stoiber vorziehen würde, lehnten sie ab, weiter mit mir über Politik zu reden.

Auf der Fahrt von White River Junction nach Burlington lernte ich Byron kennen, der auch in diese Studentenstadt unterwegs war. In Burlington angekommen, rief er seine Kumpels an, die mich direkt auf den Campingplatz der Stadt fuhren. Denn eine dritte Nachtwanderung innerhalb weniger Tage wäre mir wirklich zu viel gewesen. Dafür wurde ich nachts in meinem Zelt »überfallen«. Meine Lebensmittel hatte ich dummerweise ins Vorzelt gelegt. Daraufhin kamen Eichhörnchen und versuchten mein Müsli zu klauen. Aber ich verteidigte erfolgreich mein Essen gegen diese »Terroristen«.

Burlington war eine eher untypische amerikanische Kleinstadt in einem eher untypischen US-Bundesstaat. Vermont ist vielleicht der liberalste Staat der ganzen USA. Schließlich gibt er gleichgeschlechtlichen Partnerschaften die gleichen Rechte wie Partnerschaften zwischen Mann und Frau. Für einige US-Bundesstaaten wäre dies der glatte Wahnsinn. Der Spitzname »Green Mountain State« und die durchweg grünen Nummernschilder lassen schon auf eine gewisse Wertschätzung der Natur schließen. Als ich in Burlington sah, wie umweltbewusst die Leute sind, war ich tief beeindruckt. Mülltrennung, eine Recyclingfirma, dutzende Meilen von Fahrradwegen, Fußgängerzonen und drakonische Strafen für Leute, die ihren Müll nicht korrekt entsorgen – wahlweise 500 US-Dollar oder zehn Tage Gefängnis. Vermont ist zu Recht stolz auf seinen selbstgewählten Sonderstatus, und man legt Wert darauf, dass der Besucher weiß, dass Vermont sogar von 1777 bis 1791 ein souveränes Land war, ehe man sich den Vereinigten Staaten anschloss.

Alle zwei Jahre finden in den USA Wahlen für den Gouverneur, den Senat und das Repräsentantenhaus statt. So auch in diesem Jahr. Dabei sah der Straßenwahlkampf etwas anders aus als bei uns. Statt Wahlplakaten fand ich in den Städten und Dörfern im Vorgarten der Leute kleine Schilder mit dem Namen der Kandidaten darauf. Parteien und teilweise Nachnamen oder gar Wahlslogans fand ich überhaupt nicht. So wollte in Vermont beispielsweise Bernie – Nachname unbekannt – wiedergewählt werden. Gegenkandidat Jim Douglas gibt wenigstens noch eine Webseite an, seine Parteizugehörigkeit hingegen bleibt im Dunkeln. Dies ist der personalisierte Wahlkampf in Rein-Form, wie wir ihn zwischen Stoiber und Schröder auch gerade hatten. Dass lediglich wir Deutschen die »Kultur« der Amerikaner übernehmen ist falsch, da umgekehrt das selbe gilt. Hier gibt es doch tatsächlich Aldi. Viele Leute laufen mit den orange-blauen Aldi-Tüten durch die Gegend, sodass ich mich fast wie zu Hause fühlte. Auch Fußball wird langsam wirklich populär. Und das Oktoberfest mit Sauerkraut, Wurst und viel dünnem Bier ist Kult.

Nachdem ich in Burlington einen ganzen Tag lang mit einem ausgezeichneten Rad auf herrlichen Radwegen die langsam in Herbststimmung getauchte Landschaft entdecken durfte, ging es nun wieder mit dem »Dog«,{47} wie die Amerikaner sagen, auf Achse. Vor mir lag eine 25-Stunden-Fahrt durch vier Bundesstaaten nach Chicago, Illinois.

Der »Milk Run«{48} führte zunächst durch zahlreiche Dörfer aus Vermont hinaus in die Hauptstadt des Bundesstaates New York nach Albany. Dass sich in Amerika die Hauptstädte der Staaten meist in gottverlassenen Dörfern befinden, werde ich wahrscheinlich nie verstehen.{49} New York bezeichnet sich dazu noch als »Empire State«. Wie müsste sich dann Rheinland-Pfalz mit seiner Landeshauptstadt Mainz und seinen 185.000 Einwohnern nennen? Für die 200 Kilometer brauchte der Bus glatte fünf Stunden. Für den nächsten Bus stellte ich mich rechtzeitig an, und dieses Mal waren zwei andere Personen die Dummen, die nun auf den zehn Minuten später sicherlich nicht abfahrenden Bus warten durften. Von Albany fuhr ich durch »Klein Holland« an Dörfern wie Amsterdam oder Rotterdam Junction und an gelbrot gefärbten Wäldern vorbei, dem Sonnenuntergang entgegen. Irgendwann machten wir endlich einen Stopp in Rochester, New York, um etwas zu essen zu bekommen. Beim einzigen so genannten »Restaurant« handelte es sich um eine Subway Filiale, die normalerweise Sandwiches herstellt. Leider war aber gerade das Brot ausgegangen. Prima, wie sollte ich nun einen Sandwich ohne Brot essen? Da half nur noch die »wunderbare« Automatenkost, die aus Cola und Nacho-Chips bestand.