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Europa ade – Willkommen in der »Neuen Welt«

Etappe: Von Akureyri, Ísland 66° Nord 18° West (GMT+0), nach St. John’s NF, Canada 48° Nord 53° West (GMT-2:30): 5.909 km – Total 10.977 km

St. John’s, 18. September 2002

Aufgrund des für isländische Verhältnisse tatsächlich sagenhaften Wetters machte ich einen ganzen Tag Pause an einem Wasserfall, um einmal richtig zu entspannen. Denn mittlerweile reiste ich bereits einen Monat durch Europas Nordwesten und erlebe permanent neue, meist nette Sachen. Um das Erlebte zu verarbeiten, kam der Goðdafoss{28} wie gerufen. Der Name geht auf den Alþing im Jahre 1000 zurück. Dort wurde entschieden, dass Island das Christentum annimmt. Einer der regionalen Führer schmiss daraufhin auf dem Heimweg vom Alþing alle heidnischen Götterbilder den Wasserfall hinunter.

Nach vier Wochen ändere ich anscheinend als Reisender so langsam meine Wertvorstellungen. Für mich stellte der Campingplatz am Goðdafoss, den ich nur mit Schafen teilen musste, das pure Paradies dar, da mir die folgenden Luxusartikel zur Verfügung standen: beheiztes Bad, in dem ich mich aufhalten konnte, heißes Wasser aus dem Wasserhahn, mit dem ich mir löslichen Kaffee zapfen konnte, eine Steckdose für meinen Weltempfänger, mit dem ich deutsches Radio empfangen und gute Musik hören konnte, einen Handtrockner, der zum Wäsche- und Geschirrtrockner umfunktioniert wurde. Das einzige Manko waren ... natürlich die Schafe, die mich morgens um sechs weckten, da sie mein Zelt abknabberten. Dafür hatte ich den Wasserfall fast für mich alleine. Aber am Ende war die Einsamkeit doch etwas beklemmend, schließlich war ich abhängig vom einmal täglich verkehrenden Bus. Ansonsten war nicht viel los auf dieser Ringstrasse durch Island. Aber auf isländische Verkehrsmittel war letztendlich immer Verlass. Pünktlich holte mich der Bus wieder ab und brachte mich nach Akureyri, in die mit 15.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt Islands.

Da in ganz Akureyri wegen einer Konferenz kein Zimmer mehr frei war, musste ich nun zum ersten Mal auf den Ruf vertrauen, der Island anhängt: das sicherste Land der Welt zu sein. Schließlich übernachtete ich auf dem eigentlich geschlossenen Campingplatz. Doch was heißt geschlossen, wenn dieser Campingplatz nach allen vier Seiten hin offen ist und sowieso jeder quer über den Platz rennt. So campten ich und ein paar andere Backpacker{29} einfach mitten in der Stadt, ohne eine Krone dafür zu berappen. Am folgenden Tag ließen wir notgedrungen unsere Sachen im Zelt, da wir unseren Kram nicht die ganze Zeit mitschleppen wollten. Tatsächlich rührte niemand unser Zeug an, und so übernachtete ich ohne Probleme gratis drei Nächte mitten in der Stadt.

Von Akureyri konnte ich wunderschöne Wanderungen in die Umgebung unternehmen. Dies stellten anscheinend auch Autoren eines Wanderführers über Island fest. Doch die Wegbeschreibung erinnerte mich während des Aufstiegs zum Sulúr eher an das Orakel von Delphi, denn Himmelsrichtungen wurden gänzlich weggelassen, um ja keine Details zu verraten. Vielmehr wurde von Bächen und Zäunen gesprochen, die es zu überwinden galt. Die Bemerkung, dass diese Zäune in drei Himmelsrichtungen verliefen und zusätzlich mit Stacheldraht gespickt waren, ließen die Autoren lieber weg. Außerdem verlief ihre Tour die gesamte Zeit ohne Weg, dafür aber permanent durch Moorlandschaften, sodass ich wieder eine kostenlose Moorpackung für meine Füße bekam. 100 Meter unter dem Gipfel stieß ich schließlich auf einen gut markierten Wanderweg. Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass die Autoren diesen Aufstieg nie selbst unternommen hatten. Der Abstieg auf dem markierten Weg verlief anschließend problemlos, endete aber etwas unromantisch in der Müllkippe von Akureyri. Stärker konnte der Kontrast zwischen reiner Natur und den Endprodukten unserer Zivilisation nicht sein. Leider war auf der Straße zur Müllkippe wesentlich mehr Verkehr als auf der Ringstrasse in Island. Da es sich bei dieser Straße um eine Staubpiste handelte, war ich relativ schnell wie ein Wiener Schnitzel paniert.

Glücklicherweise hat Island aber die wohltuendsten Schwimmbäder der Welt, mit natürlichen Dampfbädern ausgestattet und vorherrschenden angenehmen Temperaturen von 29°C bis 43°C unter freiem Himmel. Dass die Isländer einen etwas anderen Musikgeschmack haben, wissen wir sicherlich seit Björk. Dass aber im Schwimmbad in ohrenbetäubender Lautstärke Rammstein, Eminem und Limp Bizkit gespielt wird, war mir neu. Ich fand es allerdings wirklich prima. Außerdem gab es im Supermarkt Red Hot Chili Peppers, Rage against the Machine und im Fastfood-Restaurant sogar Slayer als Hörgenuss.

Irgendwie sind die Isländer tatsächlich »anders«, zumindest was den Straßen- und Hausbau betrifft. Bevor ein Haus hochgezogen oder eine Straße gebaut wird, muss erst geklärt werden, ob das entsprechende Grundstück nicht von den so genannten »Kleinen Leuten«, das heißt von Elfen, Trolls und Gnomen bewohnt wird. Um manche Felsbrocken machen die Straßen einen Bogen, da dort »jemand« seinen Wohnsitz hat. Auf manchen Felsen sind sogar kleine Türchen aufgemalt, damit die Wesen ein und ausgehen können. Andererseits gehen die Isländer mit ihrer Umwelt manchmal sehr sorglos um. Mülltrennung ist meist unbekannt, und das Auto wird auch für den kleinsten Weg benutzt. Glücklicherweise habe ich nie total besoffenen Isländer getroffen, denn man sagt diesem Völkchen nach, oft betrunken zu sein. Aber der Alkohol ist fast unerschwinglich, wenn ich für einen halben Liter Bier etwa 3 Euro pro Dose im Zwölfer-Pack oder bis zu 10 Euro im Pub hinblättern muss. Außerdem wird der Alkohol in separaten Geschäften verkauft, die ich als Fremder meist sowieso nicht entdeckte. Von daher habe ich bekanntlich meine Liebe zum Light Beer entdeckt, das mit einem Euro sehr erschwinglich und im Supermarkt erhältlich war. Neben dem Light Beer machen die Isländer tatsächlich gutes Brot, das es mit dem deutschen aufnehmen kann. Mein Lieblingsbrot, das Rugbrauð, ist rabenschwarz und schmeckt wie eine Mischung aus Lebkuchen und Pumpernickel. Außerdem macht es satt, anders als dieses Knautsch-Weißbrot, welches es sonst in den meisten Ländern zu kaufen gibt.

Um die Besonderheiten eines Landes zu entdecken, muss ich manchmal gar nicht suchen, um sie zu finden. So fiel mir bei einem Blick ins isländische Telefonbuch folgendes auf: Die Leute werden nach ihrem Vornamen alphabetisch aufgelistet, da es in Island keine richtigen Nachnamen gibt. Es herrscht noch ein relativ patriarchalisches System. Der Nachname wird aus dem Vornamen des Vaters beziehungsweise neuerdings auch nach der Mutter gebildet und die Endung »-son« für Söhne beziehungsweise »-dóttir«{30} für Töchter angehängt: beispielsweise heißt Asgeir, der Sohn von Sigurvind, Asgeir Sigurvindsson, seine Schwester Guðrun würde Guðrun Sigurvindsdóttir heißen. Geschwister haben in Island lediglich dann den gleichen Nachnamen, wenn sie beide Jungs oder beide Mädchen sind. 90 Prozent der isländischen Nachnamen werden so gebildet, die restlichen zehn Prozent haben richtige Nachnamen, die noch aus der ersten Besiedelungszeit um das Jahr 900 stammen. Neue richtige Namen werden nicht akzeptiert, d. h. bekommt man die isländische Staatsbürgerschaft, muss man seinen Namen ändern. Ich würde Christoph Jürgenson heißen. Kessel wäre schließlich gestrichen. Fremde Vornamen werden ebenfalls nicht akzeptiert.

Einen weiteren Beweis dafür, dass in Island die Welt noch in Ordnung ist, zeigte die Busfahrt nach Reykjavik. Am Straßenrand wurden Pakete von den Einheimischen abgelegt und unbeaufsichtigt gelassen, ehe unser Busfahrer diese in den Bus lud und am Bestimmungsort wieder ablud. Dies wäre bei unseren Anti-Terror-Maßnahmen sicherlich nicht möglich und würde mehrere Polizeieinsätze nach sich ziehen. In Reykjavik angekommen, durfte ich zunächst an der Wahl zum deutschen Bundestag teilnehmen, da es die Wahlunterlagen bis nach Island geschafft hatten. Reykjavik, die Hauptstadt von Island mit 171.000 Einwohnern kleiner als Mainz, beherbergt etwa zwei Drittel der Bevölkerung Islands. Dementsprechend kam sie mir riesengroß vor und stieß mich etwas ab. Das erste Mal seit Edinburgh befand ich mich wieder in einer Großstadt und roch nun wieder den Duft der Zivilisation in Form von Abgasen. Daher könnte man denken, dass die Stadtgründer mit der Bezeichnung Reykjavik{31} zynischerweise Recht hatten. Sie meinten damals im 10. Jh. allerdings die vielen dampfenden Bäche, die dort ins Meer flossen. Davon ist leider nicht mehr viel übrig geblieben. Breite Straßen, viel Autoverkehr und ein Flugplatz als Mittelpunkt der Innenstadt lassen keinen Platz mehr für dampfende Bäche. Diese sind wahrscheinlich in der Kanalisation verschwunden.

Aber mit der Zeit konnte ich mich doch noch ein wenig mit Reykjavik anfreunden, denn die Stadt hat viele Wanderwege entlang des Meeres, das drei Seiten der Stadt umschließt. Außerdem existiert ein kleiner Sandstrand mit Thermalbad direkt am Ende der Start- und Landebahn des Flugplatzes. Anhand dieser zeigte sich auch wieder, dass Island noch keine Angst vor Terroristen hat. Die Start- und Landebahnen sind lediglich mit einem kleinen Gartenzaun abgegrenzt, da direkt nebenan ein Kinderspielplatz liegt. Der botanische Garten der Stadt ist etwas ganz Besonderes. Hier sind so seltene Gewächse wie Issalat Crispino, Blaðsalat, Rauðkal, Spergilkal, Hvitkal und Hnuðkal zu bewundern. Diese Gewächse heißen auf Deutsch: Eisbergsalat, Kopfsalat, Rotkohl, Broccoli, Weißkohl beziehungsweise Kohlrabi. Bei den hohen Lebensmittelpreisen konnte ich gerade noch der Versuchung widerstehen, mir abends eine kostenlose Rohkost-Platte zusammenzuklauen. Aber an der Tatsache, dass diese Gewächse ausgestellt werden, erkennt man, dass die Isländer wahrlich stolz sind, wenigstens etwas auf dieser Insel anbauen zu können.

 

Am nächsten Tag verabschiedete sich Island schließlich so wie ich es kennengelernt hatte: Regen, Regen und nochmals Regen. Nach 30 Tagen Reise ohne Flugzeug musste ich nun erstmals fliegen, da es leider nicht möglich ist, von Island ohne Flugzeug westwärts voranzukommen. Ziel meiner nun folgenden fliegerischen Odyssee war die nächste Insel, von der ich meine Reise wieder mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortsetzen konnte. Mit Icelandair flog ich mit einer Boeing 757-200 über den Atlantik in Richtung »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«. Die hohen Alkoholpreise in Island schlugen sich auch auf den Bordservice nieder. Der Stoff kostete zwischen 2 und 3 Euro. Eine krasse Sparmaßnahme war auch bei den Zeitungen festzustellen – sie wurden am Ende des Flugs wieder eingesammelt.

»Welcome to the United States of America« hieß es bei der Ankunft in Boston mit dem kleinen Nebensatz, dass wir auf unbestimmte Zeit an Bord der Maschine bleiben müssten, da die Einreisebeamten überarbeitet seien. Da flackerte sie wieder auf, meine »unbegrenzte« Hassliebe zu den USA. Kein anderes Land der Welt kann sich so etwas leisten, ohne dass auch nur ein Passagier es wagt aufzumucken. Nach fast einer Stunde des Wartens waren wir endlich erlöst und durften schließlich aussteigen. Eine halbe Stunde später war ich bereits eingereist. Letztendlich war doch alles halb so schlimm. Kurz darauf zeigte sich zum ersten Mal, warum ich die USA trotzdem nicht verdamme: wegen seiner sehr netten und hilfsbereiten Menschen. Mitarbeiter von Travellers Aid riefen sofort in einem Hostel für mich an, um ein Bett für die Nacht klarzumachen, da ich Probleme mit meiner Telefonkarte hatte. Da ich zwischenzeitlich meinen Reiseführer für Kanada leider verloren hatte, musste ich mir einen neuen besorgen. Diesen bekam ich vom Bostoner Hostel geliehen, der dort einfach so herumlag. Auf meiner Weiterreise soll ich ihn einfach wieder vorbeibringen. In Boston machte ich schließlich das erste Mal auf dieser Reise auch diese Entdeckung: bettelnde Menschen, die im Müll nach Essenresten, in Telefonzellen nach Wechselgeld und über U-Bahn Schächten nach Wärme suchen – auch das sind die Vereinigten Staaten von Amerika.

Mein USA-Aufenthalt war aber bereits nach einem Tag beendet. Ich wollte vielmehr meine Reise dort fortsetzen, wo ich mit Bussen, Schiffen und Bahnen wieder starten konnte. Daher flog ich mit Air Canada etwa die Hälfte der Strecke, die ich von Reykjavik bis Boston zurückgelegt hatte, wieder nach Nordosten zurück. Beim Start in Halifax in Richtung Neufundland, dem Ziel meiner fliegerischen Odyssee, machte uns der Pilot auf einen etwas für mich ungewöhnlichen Flug aufmerksam: »Ladies and Gentlemen, wir werden wahrscheinlich mehrere Anflüge brauchen, um in St. John’s zu landen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass wir nach Halifax zurückkehren müssen, aufgrund des Nebels in St. John’s.«

Der Anflug war tatsächlich ein Blindflug unter CAT-III-Bedingungen{32}. Aber der Pilot und sein Autopilot zogen den Airbus A320 sicher beim ersten Versuch direkt auf die Piste, und schon war ich nach ca. 30 Stunden von Island kommend in Neufundland angekommen. Mit der Ankunft schloss sich ein Kreis, denn die Wikinger, die Island im 9. Jh. besiedelten, kamen etwa um das Jahr 1000 ebenfalls in der »Neuen Welt« an – fast 500 Jahre vor Christoph Kolumbus.

St. John’s, die Hauptstadt der kanadischen Provinz Neufundland und Labrador, ist die älteste Stadt Nordamerikas und ungefähr so groß wie Mainz. Sein natürlicher Hafen, der von zwei Hügelketten geschützt wird, war seit der ersten belegten Besiedlung durch Europäer im Jahre 1497 permanent von militärisch strategischer Bedeutung. Mit der Ankunft der Europäer, die geschichtlich gesichert ist,{33} fing leider auch der Genozid an den eigentlichen Einheimischen an. Die Bethouk Indianer wurden bereits im 16. Jh. ausgerottet. Danach waren die Europäer unter sich, um sich gegenseitig zu bekämpfen. Das eigentlich von Engländern gegründete St. John’s wurde von den Franzosen dreimal besetzt. Auch die Holländer attackierten die Stadt zwischenzeitlich im Jahr 1665, und letztmalig wurde die Stadt von den Nazis im U-Boot-Krieg während des 2. Weltkriegs terrorisiert.

Aber St. John’s steht auch für positive Ereignisse. Da es der Ort in Nordamerika ist, der Europa am nächsten liegt,{34} wurden hier technische Experimente gestartet, die unsere heutige schnelllebige Welt nachhaltig beeinflusst haben. Im Jahr 1901 wurde auf dem so genannten Signal Hill in St. John’s der erste Funkspruch aus der »Alten Welt« empfangen. Gesendet wurde er von Cornwall in England. Der Flughafen von St. John’s war der letzte Punkt in Amerika des ersten PANAM-Flugs über den Atlantik und Charles Lindbergh, der als erster den Atlantik im Flieger überquerte, machte ebenfalls letzte Station vor dem großen Sprung. Für mich war St. John’s nun zunächst der Ausgangspunkt meiner Reise durch den gesamten amerikanischen Kontinent bis nach Patagonien in Chile. Da bekanntlich aller Anfang schwer ist, musste ich dabei einige Hindernisse überwinden, schließlich befand ich mich nun in Nordamerika, wo jeder Mensch ein Auto hat. Dementsprechend hörte ich bei meinen Planungen permanent die Frage, wo denn mein Auto sei. Auf die Antwort, dass ich keines habe, waren meine Gesprächspartner nicht vorbereitet und sagten nur noch: »Oh my God.« Wahrscheinlich drückt dies das Mitleid aus, das mir »armen Hund« entgegengebracht wird. Wie die Reise nun von der ältesten Stadt Amerikas in Richtung Süden weitergeht? Ich wusste es zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Kapitels selbst noch nicht – schauen wir mal.

Neu gefundenes Land und ein bisschen Europa in Amerika

Etappe: Von St. John’s NF, Canada 48° Nord 53° West (GMT-2:30) nach Halifax NS, Canada 45° Nord 64° West (GMT-3): 2.105 km – Total 13.082 km

Halifax, 27. September 2002

Nachdem ich im Nebel von St. John’s gelandet war, sah ich von der Stadt natürlich nicht sehr viel. Ich kam mir vor wie bei uns im November. Nieselregen, Nebelschwaden und düstere Straßen, die nur gelegentlich von Straßenlaternen erleuchtet wurden, prägten das Bild. Aber glücklicherweise ändert sich in diesem Teil der Welt das Wetter sehr schnell. Dementsprechend war ich am nächsten Tag vom blauen Himmel begeistert und nach den nahezu baumlosen Inseln, wie Island, den Faröer und den Shetlands war ich von den vielen Nadelbäumen, die in St. John’s wachsen, sehr fasziniert. St. John’s ähnelt einem riesigen bunten Mosaik. Jeder Bewohner hat sein Holzhäuschen in einer anderen Farbe angestrichen. So sieht die Stadt am Tag selbst bei Regenwetter durch den Farbmix sehr freundlich und einladend aus. In St. John’s lernte ich auch erstmals die Hilfsbereitschaft der Bewohner kennen, die mich in Neufundland seither so fasziniert. In der Association Francophone{35} durfte ich das vorangegangene Kapitel kostenlos verfassen, sodass mein Budget, trotz hoher Lebenshaltungskosten, noch immer nicht gesprengt ist. In den nächsten Tagen wurde ich noch mehrmals von der Freundlichkeit der »Newfies«{36} überrascht. Dabei haben die Newfies für Kanadier dieselbe Bedeutung, wie die Ostfriesen bei uns in Deutschland. Warum man über diese Menschen Witze macht, kann ich mir nicht erklären. Vielleicht liegt es am Idealismus, anderen Menschen selbstlos zu helfen? Die Insel, auf der die Newfies leben, ist etwa so groß wie die Benelux-Länder. Viele Leser werden Neufundland sicher schon gesehen haben. Bei den meisten Transatlantik-Flügen an die Ostküste Amerikas ist das erste Land westlich des Atlantiks Neufundland. Dementsprechend sah ich auch morgens bei blauem Himmel permanent Flugzeuge im Minutenabstand am Himmel vorbeiziehen. Auf den Gedanken, auf dieser Insel einmal Station zu machen, kommen sicherlich die wenigsten der darüber fliegenden Passagiere. Dabei gibt es tatsächlich viel zu entdecken.

Der erste, der auf diesen Gedanken kam, dass es dort etwas Besonderes gibt, war 1497 John Cabot, der im Auftrag von Heinrich VII., König von England, in die neue Welt aufbrach und ganz im Osten des neu »entdeckten« Kontinents neues Land gefunden hat: deshalb nannte er die Insel auch »New Found Land«. Die Insel war Englands erste Kolonie auf dem Weg zum Empire. Das besondere waren bis in die 90er Jahre des 20. Jh. die fischreichen Gewässer an der Südküste der Insel. Die Newfies, die hauptsächlich englische und irische Vorfahren haben, lebten hauptsächlich vom Fischfang, bis 1995 ein Moratorium in Kraft trat, das den Fischfang fast unmöglich machte. Grund dafür waren die riesigen Fischfang-Flotten fremder Länder, die die ehemals reichen Fischgründe völlig leer fischten. Daher darf um Neufundland praktisch nicht mehr gefischt werden. Darunter leiden hauptsächlich die Newfies, die sich seither mit Hummerfang und Fischfarmen buchstäblich über Wasser zu halten versuchen. Die Arbeitslosenquote ist mit 20 Prozent für kanadische Verhältnisse vergleichsweise hoch.

Um von St. John’s aus meine Reise durch den amerikanischen Kontinent zu beginnen, startete ich mit einem so genannten Van-Service, um den kleinen Katzensprung von 350 Kilometern auf die Burin-Halbinsel zurück zu legen. Normale Busse existieren in Neufundland kaum, sondern eher Wagen in Gestalt kleiner alter Schulbusse, die die Passagiere von zu Hause abholen und am Bestimmungsort möglichst noch bis in die Küche bringen. Leider wurde ich in St. John’s als erster abgeholt und durfte anschließend eine Stunde lang eine kostenlose Stadtrundfahrt genießen, da wir jeden Passagier abholten. Als sich endlich alle Kunden an Bord befanden, ging es »on the road«.

Die Landschaft mit ihren endlosen Nadelwäldern, Seen und Hügeln zog mich sofort in ihren Bann. Doch auf die Dauer wäre dies ohne die richtig Musik im Bus sicherlich langweilig geworden. Dementsprechend genoss ich die Landschaft, während ich durch das Radio des Fahrers mit Aerosmiths »Dream On« und Guns N’ Roses »Paradise City« beschallt wurde. Meine Mitreisenden, die alle so um die 70 waren, Fahrer inklusive, fuhren anscheinend auch auf den Hard-Rock ab, denn die Baseball-Mützen wippten alle richtig im Takt. Danach bekam ich eine Kostprobe vom Fastfood der besonderen Art. Der Fahrer hatte sich an der Tankstelle eine Portion Hähnchenschenkel gekauft, musste aber unbedingt gleich weiterfahren. Geschickt wurde der Plastikteller am Armaturenbrett eingeklemmt. Ein Müllbeutel am Hebearm zur Passagiertür diente gleichzeitig als Basketballkorb. Während er mit der einen Hand lenkte, hielt der Fahrer in der anderen den Hähnchenschenkel, der schließlich abgeknabbert mit einem geschickten Wurf in Richtung Tür meist im Müllbeutel landete.

Die Kopf schwingenden Omas und Opas hingegen schlürften ihre Diät-Cola und mampften Chips im Takt dazu. Danach zog sich jeder einen Kaugummi rein und es wurde zur Musik im Radio eine eigene Blasmusik mittels Kaugummi dargeboten. Schließlich fuhren wir leider aus dem Sendebereich des Radios hinaus, dem Sonnenuntergang entgegen. Um die Stille zu übertönen wurde eine Kassette eingelegt, auf der sich die Lieblingssongs unseres Fahrers befanden. Erst sang er bei der Newfie-Countrymusic, die der irischen Folk-Music ähnelt, lauthals mit. Danach kam der Höhepunkt mit »Joyride« von Roxette, wo er endlich richtig pfeifen konnte und bei starkem Gefühlsausbruch auch das eine oder andere Mal die Hupe betätigte. Schließlich kamen wir wieder in den Bereich eines Radiosenders. Statt in Neufundland nicht existierende Staus zu erwähnen, berichten die Radiosprecher über »Moosecide«, Unfälle mit dem Auto, bei denen der Elch eine entscheidende Rolle spielt. Die größte Gefahr beim Fahren auf den Straßen besteht im Osten Kanadas tatsächlich in der Kollision mit einem Elch, der gerne nachts auf den geteerten Trassen entlang zieht, da dies natürlich weniger Kraft beansprucht, als querfeldein zu laufen.

Am nächsten Tag war nach über vier Wochen mein kulinarischer Leidensweg zu Ende. Ich reiste endlich wieder in die »Grande Nation« ein. Mit der Fähre fuhr ich von der Küste Neufundlands aus nach Westen. Nach einer Stunde kam ich in St. Pierre, der Hauptstadt des Territoire-d’Outre-Mer St. Pierre et Miquelon an. Nicht nur John Cabot fuhr im 16. Jh. an der Küste Neufundlands entlang. Auch andere Nationen bekamen Wind von den fischreichen Gewässern in diesem Teil der Erde. So zogen Bretonen, Basken und Normannen ebenfalls zum Fischen in die Neue Welt und besiedelten »S.P.M.«, wie die Bewohner dieses französischen Archipels ihre Heimat nennen. Bis zum heutigen Tag sind die Inseln französisches Überseeterritorium. Zahlungsmittel ist seit 2002 der Euro. Es gibt Europakennzeichen, Croissants, Baguette, französischen Rotwein, guten Käse und Renault »Twingos« – alles sicher einzigartig in Nordamerika. Die Stadtverwaltung von St. Pierre hat sogar einen Kreisverkehr angelegt, wobei die eine Ausfahrt allerdings gleichzeitig eine Garageneinfahrt war. Es existieren schließlich kaum Straßen und dementsprechend auch wenig Kreuzungen. Dafür fahren aber zur Genüge Autos herum. Vor dem chaotischen französischen Fahrstil, der in Nordamerika ansonsten völlig unbekannt ist, wurde ich von den Newfies noch gewarnt, bevor ich Neufundland in Richtung S.P.M. verlassen hatte.

 

Normalerweise »gewinne« ich beim Weiterreisen nach Westen Zeit, da ich von Zeitzone zu Zeitzone springe. Diese Regel gilt allerdings nicht für den äußersten Nordosten Amerikas. Besitzen die Newfies bereits ihre eigene Zwischenzeit mit viereinhalb Stunden Unterschied zu Deutschland, wird es bei den weiter westlich liegenden französischen Inseln ganz verrückt. Diese nutzen die Grönland-Zeit, die 30 Minuten vor der »Newfie-Zeit« liegt, obwohl sich die Inseln weiter westlich befinden. Die Bewohner von S.P.M. traf das Fischfang-Moratorium genauso wie die Newfies. Daher beschloss man, eine größere Piste zu bauen, auf der alle Flugzeugtypen landen können. Es wurde den Bewohnern versprochen, dass sie einen Anschluss an »La Métropole«{37} über Reykjavik bekommen, wie dies bei französischen Überseedepartements auch üblich ist. Aber daraus wurde leider nichts. Es blieb bei einem Landeversuch mit der Concorde, die aber letztendlich in St. John’s aufsetzte. Eine Direktverbindung nach Frankreich wurde nicht eingeführt. Daher waren die Bewohner ziemlich frustriert, so vom Mutterland im Stich gelassen worden zu sein. Die Flagge von S.P.M. ist einzigartig, denn sie vereint die Fahnen der Normandie, der Bretagne und des Baskenlands. Dass die Bewohner trotz der Abschottung von der Heimat ihrer Vorfahren die Kultur dieser weiterpflegen, zeigt der Platz mitten in St. Pierre, auf dem das traditionelle Pelot{38} gespielt wird. Alles ist in den baskischen Farben grün und rostrot gefärbt und alles steht auf Baskisch geschrieben.

Nach der Rückkehr von S.P.M. nach Neufundland bekam ich eine Kostprobe der Naturgewalten, die in diesem Teil der Welt das Leben der Menschen immer schon bestimmt haben. Da ich am folgenden Tag relativ früh aufstehen musste, übernachtete ich auf einem Campingplatz in einer Schutzhütte, die leider ziemlich luftig war. Dafür musste ich kein Zelt komplett aufbauen und am nächsten Tag eventuell feucht zusammenpacken. Als Windschutz baute ich mein Innenzelt auf und schlief ein. Mitten in der Nacht kam ein Sturm auf, und das Innenzelt hob mit mir in der Hütte fast ab. Dazu gesellte sich ein Platzregen, der mich so richtig durchwusch, so als ob ich mit meiner Matte durch eine Waschanlage fahren würde. Also blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Kram, der sich gerade in alle Richtungen verflüchtigte, zusammenzusuchen, und mich in Richtung Toilette in Sicherheit zu bringen. Den Rest der Nacht schlief ich schließlich auf dem stillen Örtchen, das wenigstens trocken war und mir den Luxus von Wärme gab.

Morgens holte mich der Van-Service wieder ab. Es sah schon lustig aus, als der alte Schulbus über den Campingplatz holperte, um mich aufzugabeln, da wieder jeder zu Hause abgeholt wurde. Um mein nächstes Ziel zu erreichen, wurde ich vom Fahrer an einer Tankstelle direkt auf dem Highway abgesetzt. Nach einem typisch nordamerikanischen Frühstück mit dünnem Kaffee und fettigen Muffins in der Tankstelle wollte ich die 14 Kilometer lange Straße bis zu meiner nächsten Fähre wandern. Doch nachdem mich drei Autos überholt hatten, hielt ein Newfie an und fragte, wohin ich wollte. Ich sagte ihm nach »Bay l’Argent«. Ich sprach diesen Ortsnamen natürlich französisch aus, mit der Konsequenz, dass mein Gegenüber von diesem Ort noch nie zuvor gehört hatte. Nach längerem Hin und Her und dem Hinweis, dass ich die Fähre von dort nehmen wollte, sagte er: »You wanna go to Bey Latschent?« Bei der Aussprache des Ortsnamens sträubten sich meine Haare, sodass mir fast die Baseball-Mütze weggeflogen wäre, aber ich bekam dafür einen Ride nach »Bey Latschent« und konnte in aller Ruhe meine nassen Sachen am Hafen ausbreiten und trocknen.

»Christoph!« erschallte es in der Passagierkabine der Fähre. Ich hatte vorher gerade festgestellt, dass ich völlig am Ende der Welt angekommen war, gab es doch nur noch eine andere Passagierin und die Frau, die nun vor mir stand. Ich hatte keine Ahnung, woher ich sie kennen könnte, doch Backpacker sind in diesem Teil Neufundlands nicht so häufig anzutreffen. So hatte Astrid tags zuvor von Kanadiern, die mich in S.P.M. getroffen hatten, erfahren, dass in dieser Gegend noch ein »German« ohne Auto reist. Zusammen genossen wir die an uns vorbeiziehende großartige Landschaft mit den in der Sonne strahlenden Felsen, den saftig-grünen Wäldern und dem tiefen Blau des Wassers. Diese Überfahrt hatten wir uns beide ausgesucht, um den entlegenen Outports einen Besuch abzustatten. Die Outports sind Fischerdörfer, die nur zu Wasser per Boot oder Wasserflugzeug zu erreichen sind. Daher waren sie noch relativ abgeschieden. Die Menschen, die wir trafen, waren mit dieser Isolation zufrieden und glücklich. Dank der Kommunikationsfreudigkeit von Astrid zeigten sie uns gerne ihre gesalzenen Fische, die sie zum Trocknen wie an einer Wäscheleine aufgehängt hatten.

Am Ende der Überfahrt in einem Fischerdorf mit Straßenanschluss stellte sich für uns beide die Frage, wie wir nun weiterkommen sollen. Da in dieses Dorf sowieso kein Bus fuhr, trampten wir fortan gemeinsam Richtung Zivilisation. Recht schnell kamen wir voran, doch das größte Stück in Richtung Trans-Canada-Highway, einem Abschnitt von 130 Kilometern ohne Behausung, konnten wir an diesem Tag nicht mehr per Anhalter durchqueren. Aber in Kanada kann man noch immer einfach am Straßenrand zelten, ohne dabei Angstzustände zu bekommen. Zu diesem Zweck fuhr ein Newfie-Ehepaar mit uns viele Kilometer die Straße entlang, um einen geeigneten Zeltplatz zu finden. Dabei waren die beiden eigentlich in der entgegengesetzten Richtung unterwegs.

Abends gab es leckeres Moorwasser zu trinken, das richtig abgekocht und mit Teebeutel versetzt, tatsächlich biologisch vollwertig schmeckte. Es sah wie Cola aus. Der Reis-Eintopf wurde erst mit dem Dunkelwerden fertig, sodass das Auge glücklicherweise nicht mehr mitessen musste. Am nächsten Tag bekamen wir den klassischen Ride hinten auf einem Pick-up 150 Kilometer durch die einsame Landschaft Neufundlands. Bei Tempo hundert konnten wir uns glücklich schätzen, winddichte Jacken zu besitzen, denn der Fahrtwind war doch ziemlich hart und kalt.

Der nächste Ride in einem BMW war wesentlich komfortabler. Moona und Terry aus British Columbia fuhren mit ihrem Auto bis Weihnachten durch Kanada und die USA. Wir hatten großes Glück, dass die beiden uns die nächsten paar Hundert Kilometer mitnehmen konnten. Im Auto hörten wir Newfie-Countrymusic, die Astrid von einem Newfie während des Trampens geschenkt bekommen hatte. In Deer Lake, irgendwo in der Weite Neufundlands, trennten sich unsere Wege wieder. Moona und Terry nahmen mich bis in den Gros Morne National Park mit. Da sie zufälligerweise ins selbe Dorf wollten wie ich, setzten sie mich direkt am Hostel ab und bestanden darauf, mich auch zum Essen einzuladen. Widerstand war »leider« zwecklos.