Die Narben aus der Vergangenheit

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Ich finde ihre Abwesenheit ziemlich ungewöhnlich, weil eigentlich immer einer von denen im Haus ist und schaut, dass alles seine Richtigkeit hat und nicht irgend so ein Flachwichser einen der Nutten böse angeht.

Wir fahren zu Daniel zurück und setzen uns zu Ellen, die sich eine DVD von To fast and to furios anschaut. Es gibt auch noch zwei weitere Teile und ich sitze auf dem Sofa und sehe sie mir in Seelenruhe mit an.

Die beiden wären vielleicht gerne allein, aber das interessiert mich nicht. Ich tue so, als möchte ich diese Filme unbedingt sehen. Aber meine Antennen sind auf das Zimmer gerichtet, das neben der Küche liegt. Ich muss mich zwingen, nicht aufzustehen und nach Carolin zu sehen, die immer noch dort ihren Rausch ausschläft. Und ich rauche viel zu viele Zigaretten.

Am Abend kocht Ellen Spaghetti mit Tomatensoße.

„Sollen wir Carolin holen, damit sie wieder auf die Beine kommt?“, frage ich und lege gleich wieder eine gehörige Portion Gehässigkeit in meine Stimme, damit keiner denkt, dass ihre Lage mich irgendwie trifft oder ich langsam nicht mehr länger warten will, dass sie aufsteht.

„Lass sie noch ein bisschen schlafen. Sie kommt schon von allein und dann mache ich ihr etwas warm“, sagt Ellen und ich habe ein wenig das Gefühl, sie will Carolin meinen Anblick ersparen. Wahrscheinlich hofft sie, dass ich gleich gehe. Aber das kann sie vergessen. Ich will noch ein wenig genießen, dass es Carolin so richtig dreckig geht. Verdient hat sie es.

Es ist Daniel, der meint noch Zigaretten holen zu müssen und mich hochzieht. „Komm Alter, wir drehen noch eine Runde. Die Mädchen kommen schon klar.“

Was soll ich tun? Ich kann ihm nur folgen, wenn ich es nicht so aussehen lassen will, als wäre ich wegen Carolin hier.

Wir fahren zu einem Kiosk in Lüstringen, der immer bis Mitternacht aufhat und Daniel holt sich seine Zigaretten. Er hat es nicht eilig wieder zurückzufahren und ich frage mich, ob er mich nur aus dem Haus haben wollte. Gut, dass mein Mustang bei ihm vor der Tür steht, sonst würde er mich glatt einfach bei mir zu Hause absetzen.

Es ist schon nach acht, als wir wieder bei Daniel auf den Hof fahren.

Wir gehen hoch in seine Wohnung und mein Herz wird etwas unruhig. Ob Carolin noch da ist oder hat Ellen sie aus dem Haus geschmuggelt, während ich mit Daniel Zigaretten kaufte?

„Hallo!“, ruft Daniel und geht vor mir her durch den Flur.

Ellen antwortet: „Wir sind in der Küche.“

Daniel steuert die Küche an und grinst, als er Carolin zusammengekauert mit einer Tasse Tee auf ihrem Stuhl hocken sieht. Ich bleibe nur in der Tür stehen und warte darauf, dass sie mich bemerkt.

„Tee? Vielleicht hilft ein neuer Wodka O-Saft besser“, sagt Daniel und grinst.

„Erwähne das bitte nicht. Da wird mir gleich wieder schlecht“, raunt Carolin betroffen.

Daniel setzt sich auf einen Stuhl und zündet sich eine Zigarette an. Ellen bietet er auch eine an. Zu Carolin sagt er nur: „Du hast schon genug über die Stränge geschlagen“, und gibt ihr keine Zigarette. Sein Blick wandert fragend zu mir und ich schüttele den Kopf.

Carolin folgt seinem Blick und sieht mich in der Tür stehen. Sofort rafft sie sich auf und setzt sich ordentlich hin, ihre Tasse schnell leer trinkend.

„Magst du noch einen?“, fragt Ellen fürsorglich und steht auf, um Carolin einen neuen Tee zu kochen.

Als sie mit der Tasse zum Tisch kommt und sie vor Carolin abstellt, brumme ich: „Da muss noch Zucker rein.“

„Zucker?“, fragt Ellen Carolin.

Die schüttelt nur den Kopf.

Die brauch jetzt Energie. Sonst kommt die gar nicht auf die Füße. Die hat bestimmt nicht mal was gegessen“, knurre ich, weil sie einfach nicht tut, was ich sage. Das bringt mich sofort wieder in Rage.

Carolin sieht mich an, als hätte ich sie gerade böse beschimpft. Ich muss mich zusammenreißen, damit mir mein Killerblick nicht abhandenkommt.

Langsam stellt sie die Tasse ab und steht auf. Sie geht an mir vorbei zum Badezimmer und schließt hinter sich ab.

„Kannst du sie nicht einfach in Ruhe lassen?“, zischt Ellen kopfschüttelnd. „Dass du sie hier ständig anpflaumst kann sie echt nicht gebrauchen.“ Sie steht auf und geht auch zum Badezimmer. „Carolin?“, ruft sie. „Alles in Ordnung?“

„Ja, ich komme gleich.“

Ihre weinerliche Stimme versetzt mir einen Dolchstoß.

Um etwas zu tun zu haben, gehe ich zu ihrer Tasse, hole den Teebeutel heraus, greife mir den Zucker und schütte zwei große Löffel voll hinein. Ihn umrührend, stelle ich ihn wieder an ihren Platz. Daniel sieht mir schmunzelt zu.

Ich baue mich wieder an der Tür auf.

Als sie endlich wieder aus dem Badezimmer kommt, schaffe ich es kaum noch, den bösen Gangster zu mimen. Sie ist so blass und wirkt so erschreckend zerbrechlich. Ihre großen Augen mit den langen, schwarzen Wimpern sind auf den Boden gerichtet, als sie an mir vorbeigeht. Sie wirkt so unglaublich traurig, dass es mir fast wehtut.

Sie setzt sich vor ihren Tee und nimmt einen Schluck. Ihr Blick fällt auf Ellen, die nur die Schultern hebt und mich ansieht.

Carolin stellt die Tasse ab, schiebt sie von sich weg und verschränkt aufmüpfig die Arme vor der Brust.

Ich stoße mich von dem Türrahmen ab, als Ellen mir kopfschüttelnd andeutet, dass ich jetzt einfach ruhig bleiben soll. Aber wie soll das gehen, wenn Carolin mich ständig provoziert?

Die dreht sich um und schaut zur Küchenuhr. Sie steht langsam auf und greift nach ihrem Handy, das auf dem Tisch liegt. Ich sehe es jetzt erst und frage mich, warum. Ich hatte es dort nicht liegen gelassen.

„Ich muss jetzt los. Danke für alles“, raunt Carolin und lächelt Ellen und Daniel zu.

Mich ignoriert sie völlig.

Ellen nimmt einen letzten Schluck aus ihrer kleinen Colaflasche und steht auch auf. „Was hast du jetzt vor?“, fragt sie besorgt.

„Ich nehme gleich den letzten Zug. Es wird jetzt echt Zeit. Wir sehen uns morgen in der Schule“, antwortet sie meiner Schwester.

Die sieht Daniel an, dann mich.

Daniel steht auch auf und sagt: „Ich bringe dich hin.“

„Das brauchst du nicht. Ich laufe eben. Das ist gar kein Problem“, meint Carolin und kann kaum stehen.

Sie muss an mir vorbei, um an ihre Sachen zu kommen und ich sehe sie nur an. Meint sie wirklich, sie schafft es so bis zum Bahnhof?

„Ellen, wo sind denn meine Tasche und meine Jacke?“, ruft sie meiner Schwester zu, die aufsteht und ihr alles holt.

„Danke“, murmelt sie und geht wieder an mir vorbei über den Flur zur Wohnungstür.

Ich folge ihr automatisch und Daniel kommt auch hinter uns her. Er will sie zum Bahnhof bringen oder nach Hause. Dass er bei ihr auf einmal so hilfsbereit ist, stört mich wieder gewaltig.

Carolin dreht sich plötzlich um und will etwas sagen. Aber ich bin direkt hinter ihr und sie bleibt erschrocken stehen.

Ich bringe dich!“, knurre ich in einem Ton, der keinerlei Widerrede duldet.

„Brauchst du nicht“, antworte sie trotzdem, nicht weniger brummig.

„Das ist mir scheißegal, ob du das willst oder nicht“, murmele ich und versuche, das Tier in mir sich nicht entfesseln zu lassen. Aber das fällt mir immer schwerer. Ich packe sie am Arm und schiebe sie durch die Tür.

Ellen ruft mir hinterher: „Erik, bitte!“ Aber da fällt hinter uns auch schon die Tür ins Schloss.

Ich schiebe Carolin unsanft die Treppe hinunter und zum Auto. Erst als sie auf dem Beifahrersitz sitzt, beruhige ich mich wieder ein wenig.

Ich fahre rückwärts aus der Einfahrt auf die Straße und mit quietschenden Reifen prügele ich den Mustang über den Asphalt Richtung Innenstadt. Sie sieht so aus, als wenn ihr das schon den Rest gibt. Aber sie sagt nichts. Auch nicht, als ich die Bundesstraße Richtung Bramsche nehme.

Sie sieht die ganze Fahrt über aus dem Seitenfenster und ignoriert mich, bis kurz vor ihrem alten Wohnort, wo sie mit Marcel wohnte.

„Lässt du mich bitte in Bramsche beim Bahnhof raus?“, fragt sie leise.

„Warum?“, zische ich mürrisch und sehe sie an. Will sie zu Marcel?

„Ich fahre von da aus mit dem Fahrrad weiter“, erklärt sie noch leiser.

„Vergiss es! Das kannst du morgen holen, wenn es dir bessergeht. Ich bringe dich nach Hause“, brumme ich.

Wir fahren an Bramsche vorbei Richtung Alfhausen. Ich spüre, wie sie unruhig wird und mir sogar einen schnellen, verunsicherten Blick zuwirft. Sie weiß schließlich nicht, dass ich ihr neues Wohndomizil bei Tim kenne.

Als wir in Alfhausen an der Ampel kurz anhalten müssen, wirft sie mir erneut einen Blick zu. Es macht mir fast Spaß, endlich links abzubiegen und zu sehen, wie ihre Augen größer werden. Ich lenke den Mustang bei der Hauptstraße in den Ortskern und bald darauf in eine Seitenstraße, um vor Tims Garage zu parken.

Carolin sitzt wie versteinert in dem Autositz und starrt auf das Garagentor.

„So, alles klar?“, raune ich und lasse den Motor ausgehen. Es bereitet mir eine gewisse Genugtuung, sie dermaßen vorzuführen. Und sie hatte gedacht ich bekomme nie heraus, wo sie ihr neues Domizil aufgeschlagen hat.

„Woher weißt du, wo ich wohne?“, fragt sie so leise, dass ich sie fast gar nicht verstehe.

„Von Tim! Was meinst du denn? Du hast dich letzte Nacht wer weiß wie heftig abgeschossen, bist beinahe bei wer weiß wem gelandet und warst den ganzen Tag kaum in der Lage zu irgendwas. Ich habe Tim angerufen und mir erklären lassen, wo ich dich in deinem maroden Zustand hinbringen soll. Er hatte die Wahl zwischen Marcels Wohnung oder seiner. Er hat sich dafür entschieden, dass ich dich zu seiner bringen soll“, erkläre ich ihr mürrisch.

 

„Das war mein Panikraum“, jammert sie betroffen.

Ihre Worte gehen mir durch und durch. Wie kann sie glauben, so etwas zu brauchen?

„Den du nicht brauchst. Zumindest nicht wegen mir. Also reg dich ab“, brumme ich aufgebracht und erneut schnürt mir die Wut die Luft ab. Was geht in dem Mädchen plötzlich vor sich, dass sie mich so als Feind sieht und warum regt mich das so auf?

„Tut mir leid“, sagt sie leise und krallt sich an ihrer Tasche fest, als wäre das ihr Rettungsboot.

Die ganze Situation, ihre traurige Gestalt in dem großen Auto und ihre gehauchten Worte lassen mich nicht kalt. Und das sie meint, einen Panikraum für sich erschaffen zu müssen, erst recht nicht.

„Was tut dir leid?“, frage ich und meine Stimme hat schnell alle Wut verloren. Alles drängt mich danach, sie in die Arme zu ziehen und vor der Welt zu beschützen.

„Alles!“, seufzt sie auf. „Das ich so viel getrunken habe, dass ich euch so viel Stress mache, dass mein Leben so drunter und drüber ist und ihr das alles mitbekommt.“

Ich sehe sie fassungslos an. „Genau das muss dir nicht leidtun“, murre ich aufgebracht. Warum macht sie sich darum Sorgen? Es gibt ganz andere Sachen, die ihr zu denken geben sollten und es schmerzt mich, dass sie das nicht tut.

„Aber dass du dir eine männerfreie Zone schaffst, um gleich mit dem Erstbesten wieder loszuziehen, und dass du deinen Freunden nicht sagen wolltest, wo du wohnst und uns nicht einbeziehst, wenn du Probleme hast … und ich hatte dich mal um eine einzige Sache gebeten - dass du mich nicht ignorierst. Und genau das tust du. Ich verstehe dich nicht. Du machst mit deinem Typen Schluss und brichst auch gleich mit mir, warum auch immer? Und am wütendsten macht mich, dass du jedem anderen ohne weiteres deine Zeit schenkst und mit denen sogar in die Kiste springst“, fahre ich sie an und kann einfach das Tier in mir nicht mehr zurückhalten.

Sie sieht mich entsetzt an. „Bin ich doch gar nicht“, sagt sie und scheint es auch noch ernst zu meinen.

„Ach nein? Und was ist mit Tim? Und letzte Nacht wolltest du auch lieber mit diesem Typ mitgehen als mit Ellen. Und das wegen mir! Damit du nicht auf mich treffen musst! Nah Danke.“ Ich kann mich nicht mehr zurückhalten. Alles bricht aus mir hervor, was mich die letzten Tage quälte.

Carolin nickt nur verstehend, greift nach dem Türöffner und steigt kurz darauf aus.

Die Dämmerung wird langsam von der aufsteigenden Nacht vertrieben. Ich sehe ihr unschlüssig hinterher.

„Tut mir leid“, sagt sie erneut und wirkt völlig niedergeschlagen. Leise drückt sie die Autotür zu und geht gebeugt wie ein Häufchen Elend um den Mustang herum. Dabei beginnt sie in ihrer Handtasche zu wühlen. Scheinbar sucht sie ihren Schlüssel.

Ich sehe sie nur an und kann das Gefühl nicht unterdrücken, dass sie beständig in mir auslöst. Ihre Hände zittern und dann fällt ihr auch noch die Tasche aus der Hand. Sie steht nur da und starrt auf den Boden.

Ich schiebe meine Tür auf und steige aus. Der Inhalt ihrer Tasche ergießt sich vor meinem Auto über das Pflaster und sie bückt sich und beginnt nach den ersten Teilen zu greifen.

„Manometer, nicht zu fassen!“, knurre ich, um sie nicht merken zu lassen, wie sehr mich ihre hilflose Art berührt.

Meine Worte machen sie wohl wütend. Sie beginnt alles in die Tasche zu pfeffern. Gerade als ich mich bücke, um ihr zu helfen, streicht sie sich fahrig über die Wangen. Ihre Hand greift nach einem Kajalstift und einem Feuerzeug und ich sehe die Feuchtigkeit auf ihrem Handrücken blitzen.

Verdammt, sie weint doch nicht etwa?

Ich will schnell ins Auto zurückkehren, den dumpfen Motor aufbrummen lassen und wegfahren. Aber ich greife nach ihrer Zigarettenschachtel, die vor meinen Füßen liegt und reiche sie ihr. Dabei versuche ich ihr ins Gesicht zu schauen, um meine Befürchtung bestätigt zu sehen. Ist sie vielleicht doch nicht so kalt? Ist das auch bei ihr alles nur Fassade?

Sie dreht den Kopf weg und steht auf. Sie schwankt leicht und schließt die Augen, was einen Sturzbach über ihre Wangen treibt.

„Hey komm, weine doch nicht“, raune ich leise und mache einen Schritt auf sie zu. Sie sieht auf und ich kann nicht anders. Ich ziehe sie in meine Arme und halte sie nur fest.

Ihre Finger krallen sich in mein T-Shirt und sie schluchzt ungehalten auf.

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Mein Kopf sagt mir, dass ich gehen sollte. Und zwar schnell. Aber etwas in meinem Bauch will sie einfach nur für immer so festhalten. Doch mir ist klar, dass das nicht in unsere Welt passt. Nicht in ihre Männerfreie und nicht in mein Beziehungsfreie. Wir sind mittlerweile zwei Gestrandete auf einer Insel der Unmöglichkeiten.

„Geht’s wieder?“, frage ich leise und schiebe sie von mir weg.

Sie nickt und lässt ihre Hände sinken.

Uns wird gerade beiden klar, dass es auf dieser Insel keine Möglichkeit gibt zusammenzufinden. Aber es fällt mir trotzdem schwer, sie sich selbst zu überlassen und ich streiche eine Träne von ihrer Wange.

Sie sieht auf und macht einen energischen Schritt zurück, das Unmögliche auf dieser Insel mir damit klar vor Augen führend.

Ich hebe die Hände, um ihr zu signalisieren, dass ich auch nicht vorhabe, weiter zu gehen.

„Danke fürs Fahren“, sagt sie und dreht sich schnell zur Tür um.

„Das ist selbstverständlich unter Freunden“, sage ich unmissverständlich und fange ihren Blick auf.

„Ich bin auch froh, dass ich euch habe“, sagt sie leise.

„Ach ja?“ Das kann ich ihr kaum glauben.

„Ja, Ellen, Daniel und du … ihr seid Gold wert“, sagt sie etwas lauter, geht zur Tür und schließt auf. „Tschüss und danke.“ Sie sieht mich nicht mehr an und ich eile in mein Auto. Es gleicht einer Flucht. Schnell werfe ich den Motor an und setze vom Hof, während sie im Haus verschwindet. Ich muss schnell wegfahren, sonst kann ich es nicht mehr. Es fällt mir so schon unglaublich schwer.

Die ganze Autofahrt hindurch versuche ich herauszufinden, was mit mir los ist. Vielleicht machen die Drogen mich langsam völlig konfus oder ist es, weil mein Leben immer nur so unglaublich beschissen läuft? Kann es nicht einmal etwas besser werden?

Erneut kriecht diese kalte Wut in mir hoch, die mich seit einigen Tagen wieder so fest umklammert hält.

Ich fahre wieder zu Ellen und Daniel. Nach Hause will ich nicht. Wenn ich Pech habe, sind unsere Eltern schon da. Ich habe keine Lust, denen mit dieser Wut im Bauch zu begegnen. Das kann schnell böse enden.

Daniel macht mir die Tür auf und raunt: „Und, abgeliefert? Dauerte lange!“

„Ich habe sie nach Hause gebracht.“

„Das habe ich mir schon gedacht und ist auch gut so. Die war echt noch ziemlich fertig“, sagt Daniel und klingt mir viel zu mitfühlend.

Wir gehen zur Küche.

„Dann soll sie nicht so viel saufen. Ich weiß sowieso nicht, was das soll. Dass die sich nicht ein bisschen zusammenreißen kann. Die ist erst siebzehn und führt sich auf, als wäre sie schon fünfundzwanzig.“

Ellen erscheint hinter mir in der Küchentür. „Ach so! Willst du uns erzählen, dass sie sich so bescheuert aufführt wie du? Das ist doch wohl weit gefehlt.“ Sie klingt wütend. „Sie hat gerade alles verloren, was ihr mal wichtig war und ihr Leben ist auch kein Zuckerschlecken. Und dann muss sie sich auch noch mit solchen Typen wie dir herumschlagen, die ständig über ihren Schwanz stolpern und ansonsten gar nicht wissen, was sie mit dem Rest anfangen sollen. Ich kann vollkommen verstehen, dass sie von niemandem mehr etwas wissen will.“

Daniel sieht mich besorgt an und ich weiß warum. Das Ellen mich so zusammenfaltet, lässt meine Wut weiter aufkochen.

„Was habe ich mit ihrem Scheiß zu tun? Und was ich mit meinem Schwanz mache, kann dir scheißegal sein. Ich brauche sie nicht. Ich finde immer willige.“

Ellen scheinen meine Worte noch mehr aufzuregen. „Ach wirklich? Nah super. Herzlichen Glückwunsch. Bis zum ersten Kind oder zur ersten Geschlechtskrankheit. Wahrscheinlich bist du auch noch so hirnlos und vögelst alles ohne Kondom.“

Was will sie von mir? Spinnt die?

Und in meinen Kopf schiebt sich die Erinnerung an gestern mit dieser Sandra am Bulli vor dem Hyde Park hoch, und ich hatte das Kondom vergessen. Scheiße!

Dass ich so dumm und kopflos war, macht mich noch wütender und dass Ellen recht hat.

„Ach, halt doch die Klappe!“, fauche ich sie an.

Daniel versucht uns zu beruhigen. „Hey Leute, bleibt mal locker. Kommt, wir trinken ein Bier und kommen mal wieder runter.“

Aber ich bin viel zu wütend und dass er selbst heute so um Carolin herumgeschlichen war und den Hilfsbereiten mimte, lässt ihn in diesem Augenblick in meinen Augen zum Feind werden.

„Bleib du mal locker und halt dich mal bei Carolin etwas zurück!“, donnere ich.

Ellen und Daniel erstarren. Aber es ist Ellen, die mich mit schneidender Stimme anfährt: „Der hat ihr nur geholfen und er ist dazu fähig, ohne mit dem Schwanz zu denken.“

Ich weiß, Ellen hat recht. Aber mir das jetzt reinzudrücken ist unklug.

„Ach ja, Daniel der Übermensch! Seit er an deinem Rockzipfel hängt, wird er weich und unerträglich. Vielleicht wäre es besser, er würde sich mal wieder daran erinnern, was wichtig im Leben ist“, zische ich herablassend.

Daniel sieht mich bloß sprachlos an.

Ellen knurrt: „Als wenn du weißt, was wichtig im Leben ist. Du bist echt der dümmste Kerl auf diesem Planeten. Weißt du, was dein großes Problem ist? Deine Unfähigkeit! Glaub nicht, dass wir nicht wissen, dass du dich in Carolin verschossen hast. Du hast in den letzten Wochen allen möglichen Scheiß gemacht, um in ihrer Nähe zu sein. Aber jetzt, wo sie frei ist, ziehst du ängstlich den Schwanz ein und willst uns erzählen, dass du der harte Kerl bist, der weiß, was wichtig im Leben ist. Du bist doch nur ein hirnloser Versager!“, brüllt sie mich aufgebracht an.

Ich schnappe nach Luft und balle meine Fäuste, die zuschlagen wollen.

Daniel legt seine Hand beruhigend auf meinen Arm und raunt: „Erik, du hast alles drangesetzt, damit sie ihren Kerl verlässt. Jetzt hast du es geschafft und kneifst. Was ist bloß mit dir los?“

Ich will das alles nicht hören und es ist ja auch gar nicht wahr.

„Ich wollte nicht, dass sie ihren Macker verlässt“, raune ich aufgebracht.

„Ach nein? Und was glaubst du was passiert, wenn sie denkt, er hat eine andere? Was meinst du? Diese ganze Nummer mit den SMSen und dem Bild. Es war doch klar, dass das nach hinten losgehen kann“, faucht Daniel und ist mittlerweile auch wütend.

Ich weiß, wenn ich jetzt nicht klein beigebe, wird er Ellen stecken, dass ich das mit der Sabrina auf Marcels Handy war. Das will ich auf keinen Fall. Das würde Carolin mir nie verzeihen.

„Ach, lasst mich doch in Ruhe“, knurre ich und an Daniel gewandt zische ich: „Pass auf, was du sagst.“

Damit schieße ich an den beiden vorbei und gehe. Ich höre Ellen noch fragen: „Was ist mit SMSen und einem Bild?“

„Nichts!“, knurrt Daniel nur, als ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen lasse.

Aber meiner Wut ist Enttäuschung gewichen. Ellen, die ich gerade erst in einer ertragbaren Weise als meine Schwester toleriert hatte, und mein bester Freund, haben sich heute gegen mich verschworen. Das trifft mich schwer. Und noch viel schwerer trifft mich, dass sie mit jedem Wort recht haben. Warum hatte ich den kleinen Falter die letzten Wochen ständig belagert und tyrannisiert? Um jetzt einfach klein beizugeben, weil sie wegen ihrem Typ verletzt ist und alle Männer zum Teufel schicken will? Oder zumindest die, die ihr etwas bedeuten?

Dieser Gedanke trifft mich wie ein Messerstich ins Herz und ich frage mich, warum ich das nicht früher geschnallt habe. Sie hatte es doch klar gesagt. Sie kommt mit dem ganzen Gefühlschaos nicht mehr klar.

Ich lenke den Mustang durch die Straßen zur Autobahnauffahrt und presche die Fahrbahn hoch. Sofort fädele ich mich auf der linken Spur ein und gebe Gas. Ich muss mich irgendwie abreagieren und irgendwie diesem neuen Gedanken einen Raum schaffen. Ich sehe ihren traurigen Blick vor mir, als sie in Daniels Badezimmer verschwand, höre ihre weinerliche Stimme und sehe ihre Tränen, als sie ihre Sachen vor meinem Auto zusammenklaubte. Und ich habe wieder dieses erschreckende Gefühl, wieder bei ihr sein zu wollen. Ich wollte noch nie bei jemandem sein. Zumindest nicht auf diese Art und ständig.

 

„Verflucht!“, brumme ich und schlage mit meiner immer noch ziemlich schlimm aussehenden Hand auf das Lenkrad. Die Schnitte durch den Spiegel, den ich im Drogendelirium zertrümmerte, sind immer noch nicht besser und es durchfährt mich ein Schmerz, wie eine Warnung. Ich brauchte Carolin schon einmal, um gerettet zu werden. Warum habe ich nie geschnallt, dass sie vielleicht viel mehr kann, als mich aus meinen Tiefs zu holen?

In mir vibriert alles und ich bekomme schlecht Luft. Bei dem nächsten Parkplatz steche ich heraus und halte hinter einem LKW an, der noch darauf zu warten scheint, endlich losfahren zu dürfen. Es ist noch nicht zweiundzwanzig Uhr, aber er steht schon in den Startlöchern und wartet darauf, dass die Wochenendfahrsperre für LKWs aufgehoben wird.

Ich ziehe meine Zigarettenschachtel heraus und stecke mir eine Zigarette an. Meine Hand zittert. Den Kopf an die Kopfstütze lehnend, schließe ich die Augen und atme tief den Zigarettenrauch ein.

Aber Carolin wird irgendwann erfahren, dass ich das bei Marcel war. Und sie wird mich hassen. Ich habe meine Chance bei ihr damit sowieso verspielt. Unwiderruflich.

Verdammt, verdammt, verdammt.

Seltsam davon niedergedrückt fahre ich nach Hause. Meine Eltern sind nicht da und ich bin darüber unendlich froh. Scheinbar kommen sie erst Morgen.

Ich gehe sofort in meine Wohnung und weiß, ich brauche etwas zur Beruhigung und um das aufrührende Gefühl loszuwerden, dass mich ergriffen hat. Und ich finde unter meinem Sofa in einer kleinen Tasche das, was mir kurze Zeit später alles erträglich macht.

Am nächsten Morgen treffe ich Daniel in der Uni. Er gibt sich kühl und reserviert und ich bin auch nicht gerade gut aufgelegt. Langsam wirken die Drogen nicht mehr vernünftig oder das Zeug war scheiße. Deshalb habe ich eine beschissene Nacht hinter mir.

Wir gehen zwar zusammen hinein, aber reden kaum miteinander. Erst mittags taut er ein wenig auf, was ich erleichtert registriere. Es behagt mir nicht, wenn er sauer auf mich ist. So versuche ich seine Laune etwas mehr aufzubessern, indem ich ihm vorschlage, am Abend noch einmal bei Walter vorbeizufahren.

„Wir sollten auf dem Laufenden bleiben, was die Sache mit den Hamburgern und Berlinern angeht. Nicht, dass wir noch das wirklich Wichtige im Leben aus den Augen verlieren“, erkläre ich und erinnere mich daran, dass wir den Satz gestern schon in Gebrauch hatten.

Ich habe für mich beschlossen, wieder der alte Erik zu werden, der seine Prioritäten ganz sicher nicht zwischen den Beinen eines Mädchens sucht. Ich will mich mit ganzer Kraft allem widmen, bloß nicht mehr dem weiblichen Geschlecht. Sie werden wieder das werden, was sie waren. Nichts weiter als Materie zum Abreagieren.

Daniel sieht mich unbeeindruckt an.

Ich schlage mit der geballten Faust freundschaftlich an seinen Arm und sage: „Ey Alter, komm! Die Weiber können es nicht sein.“

Scheinbar treffe ich da auf einen wunden Punkt.

„Ist dir schon mal, bei all der Scheiße, die aus deinem Mund quillt, der Gedanke gekommen, dass du wirklich von nichts eine Ahnung hast?“, knurrt er. Wütend geht er zu seinem Auto, steigt ein und fährt weg.

Fassungslos sehe ich ihm nach. Er hielt bisher immer zu mir. Egal wofür und wogegen.

Am Abend kann ich nicht anders. Ich fahre zu ihm und er lässt mich missmutig in seine Wohnung.

„Fahren wir zu Walter?“, frage ich und versuche so zu tun, als wäre mittags nichts gewesen.

Ellen erscheint hinter ihm und sieht mich wütend an. „Sag mal, kannst du auch noch etwas anderes, als Ärger machen?“, knurrt sie.

Ich werfe ihr einen bösen Blick zu und weiß gar nicht, was sie von mir will. Warum mischt sie sich überhaupt ein? Hat die auch etwas zu sagen? Wohl kaum.

Daniel raunt: „Ellen lass gut sein.“

Mir wird klar, als ich den Blick sehe, den sie ihm zuwirft, dass die beiden Stress miteinander haben. Das steigert meine Laune erheblich. Mir geht ihr Zusammengehörigkeitsding sowieso ziemlich auf die Nerven und es tut gut, dass Daniel auch wohl langsam schnallt, dass es Wichtigeres gibt.

Ellen faucht Daniel an: „Warum? Er macht alles kaputt! Wenn er sich zerstören will, dann soll er doch. Aber er soll dich mit seinen Spinnereien in Ruhe lassen. Der bringt euch beide noch mit seinem ganzen Scheiß in den Knast. Und dann? Was hast du dann? Nichts. Mal einen verblödeten Kumpel gehabt, der es echt nicht wert ist, dass du auch nur eine Minute mit ihm verschwendest.“ Sie ist so wütend, dass sie rot anläuft.

Ich weiß gar nicht, was plötzlich los ist. Dass Ellen sich hier so aufplustert finde ich ungeheuerlich.

„Ellen, lass es jetzt“, zischt Daniel und ich sehe einen Lichtblick am Horizont.

„Geht dir die Schnepfe auf den Geist?“, frage ich und schlage ihm freundschaftlich auf den Rücken. „Komm, wir fahren. Es gibt echt Wichtigeres als dieses Weibergefasel und Beziehungsgeplänkel. Das kann doch echt keiner ertragen.“

Daniels Blick wird dunkel und alle seine Gesichtsmuskeln spannen sich an, als er knurrt: „Lass mich heute bloß mit deinem Scheiß in Ruhe. Ihr seid doch beide völlig durchgeknallt!“

Ich starre ihn verunsichert an und Ellen wird noch röter. Aber sie wendet sich gegen mich. „Verdammt Erik, halt dich doch mal zurück! Es geht nicht immer nur um dich! Und bloß, weil du zu blöd bist, mit deinem Leben klarzukommen, nur mit Drogen deinen Alltag geschissen bekommst und deinen Schwanz in alles schiebst, was hirnlos Ja sagt, heißt das noch lange nicht, dass du mein und Daniels Leben kaputt machen darfst. Er ist nicht wie du!“ Und dann wendet sie sich an Daniel und raunt: „Du musst diesem Penner nicht immer hinterherkriechen. Keiner hat dich dazu verpflichtet, ihm immer wieder die Hand vor den Arsch zu halten.“

Das ist zu viel für mich. Ich sehe rot und packe zu. Meine Hand legt sich wie ein Schraubstock um ihr Handgelenk und ich reiße sie von Daniel weg.

Der ist mit einem Schritt bei mir und packt mich am Kragen. „Lass Ellen los. Sie hat doch recht!“, brüllt er mich an.

Erschrocken darüber gebe ich Ellens Handgelenk frei. Sie reibt es sich mit schmerzverzerrtem Gesicht und Tränen in den Augen und Daniel lässt mich los und zieht sie an sich.

Fassungslos sehe ich von einem zum anderen. Wie können die sich so gegen mich stellen? Wie kann Daniel das tun?

Ich will ein für alle Male einen Keil zwischen die beiden treiben und zische: „Du bist so ein Arsch! Ellen kennt dich nur nicht! Wenn sie wüsste, wie du um Carolin herumschleichst und was du getan hast, damit sie ihren Typ verlässt.“ Ich weiß, ich pokere hoch und rechne damit, dass Ellen mir glaubt. Auch wenn es nur um ein popliges Bild aus dem Internet geht, um das ich ihn bat. Aber sie hatte doch selbst gesehen, was er am Wochenende alles für Carolin getan hat und das muss ihr doch jetzt alles klar vor Augen führen.

„Du bist hier der Arsch“, murrt Daniel aufgebracht. „Und es war allein deine Idee … mit dieser Sabrina.“

Ich habe keine Chance, ihm wegen seinem unbedachten Ausspruch eine reinzuhauen. Ellen springt zwischen uns und haut ihre Fäuste auf meine Brust. „Raus!“, schreit sie hysterisch. „Du bist echt das Letzte! Verschwinde!“

Ich sehe Daniel an, aber sein Blick sagt mir, dass ich von ihm nichts mehr zu erwarten habe. Er legt seine Hände auf Ellens Schulter und zieht sie zurück, um sich vor ihr aufbauen zu können. Mir wird klar, dass er sie beschützt und zu ihr hält.

Wutentbrannt stürme ich an ihnen vorbei aus der Wohnung, werfe mich in mein Auto und fahre vom Hof. Nach Hause kann ich nicht. Heute sind unsere Eltern wieder da und ich will denen so nicht begegnen. Deshalb fahre ich zu Sam. Er hat in seiner Wohnung eine riesige Muckibude, an der ich mich auspowern muss, sonst gibt es heute noch Tote.

Es geht schon auf Mitternacht zu, als Sam sich in der Tür aufbaut.

„Erik? Meinst du nicht, es ist genug?“

Es ist genug. Ich bin völlig am Ende. Drei Stunden war ich jetzt von einem Gerät zum Nächsten gegangen und hatte mich fast bis zum Umfallen ausgepowert.