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Always Differently

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Aus der Reihe: Always Differently #1
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Der Tag der Geburtsstunde

Zehnter November, am frühen Morgen. Katarina lag in ihrem Bett. Bevor sie aufstand, horchte sie wie immer erst einmal in sich hinein. Nichts. Sie fühlte sich noch genauso wie am Abend zuvor. Keine Wehen, keine geplatzte Fruchtblase, kein Ausfluss und auch keine zusätzlichen Rückenschmerzen. Ein Tag wie jeder andere. Einzig ihr dicker Bauch erinnerte an ihre Schwangerschaft. Und natürlich dieser gottverdammte Ischiasnerv. Würde der sich nicht so schrecklich gereizt verhalten, könnte sie glatt behaupten, sie fühle sich pudelwohl. Leider war das nicht der Fall und Felix musste ihr wieder einmal aus dem Bett helfen.

Trotz allem war dieser Tag ein sehr bedeutender, deshalb badete Katarina und machte sich schön. Anschließend holte sie ihre Tasche aus dem Schrank und stellte sie vorsorglich an der Tür bereit. Alles für den Fall der Fälle.

»Gut, das wäre erledigt«, sagte sie, ging aber in Gedanken noch einmal das Wesentliche durch. Als Frau im Haus beherrschte sie das Chaos, glaubte sie zumindest.

»Das Kinderzimmer ist fertig und der Stubenwagen auch«, überlegte sie laut, »die Tasche habe ich gepackt und steht an der Tür. Die Fenster sind auch geputzt. Okay. Es kann losgehen, mein Schatz.«

Klar, sie würde nur ein paar Stunden fort sein und dann mit ihrem Kind im Arm zurückkehren. Aber wie schnell sie danach wieder Zeit für Hausarbeit hätte, konnte sie beim besten Willen nicht abschätzen. Dann lieber auf Nummer sicher.

Toll wäre, wenn das Baby tatsächlich genau heute zum errechneten Termin käme. Diesen Wunsch hegte Katarina schon wegen der Weisen. Ständig musste sie sich anhören, Babys wären immer unpünktlich. Entweder zu früh oder zu spät. Indessen konnte sie zu früh zum Glück ausschließen. Vielleicht war ihr Baby eine Ausnahme und hielt sich an Termine. Das wäre zu schön. Den Weisen würde das Gesicht einschlafen.

Doch in Wirklichkeit wollte sie gar nicht, dass ihr kleiner Schatz heute zur Welt kam, sie glaubte nur, dass dem so war. Es lag an ihrem Unterbewusstsein, das ihr diesen Wunsch vorgaukelte.

Den restlichen Tag lief sie auf und ab, horchte in sich hinein, wartete und hoffte. Nichts passierte.

»Vielleicht kommt es morgen. Dann wird es ein kleiner Fastnachtsnarr«, sagte Felix am Abend.

Doch auch daraus wurde nichts. Ebenso nicht am Tag darauf, am nächsten nicht und übernächsten, nicht am überüber…


24. November, 14 Tage überfällig

Dr. Fleischer wollte Katarina in der letzten Zeit immer öfter sehen. Heute hatte sie wieder einen Termin in seiner Praxis, schon das zweite Mal diese Woche. Ihr Baby war überfällig und er wollte nichts riskieren.

Zur normalen Untersuchung kamen seit ein paar Wochen Ultraschall und CTG hinzu. Es war das gleiche Prozedere wie immer. Sie setzte sich auf den Stuhl und ließ sich von Schwester Christa verkabeln. Das Gerät begann zu drucken und Katarina zu warten. Von Wehen allerdings gab es nicht die leiseste Spur. Das Ganze dauerte eine reichliche halbe Stunde und stellte ihre Geduld damit hart auf die Probe. Doch was gab es Wichtigeres als die Gesundheit ihres Babys?

»Natürlich nichts«, schalt sie sich leise und streichelte zur Entschuldigung über ihren Bauch. Zumindest über die Stelle, die nicht von dem breiten Gurt verdeckt wurde. Und doch nahm sie das lange Stillsitzen nur widerwillig in Kauf.

Nach ein paar Minuten wurde sie stutzig. Vermutlich war es Intuition, denn unbewusst achtete sie auf jeden Herzschlag, den das Gerät wiedergab. Heute war irgendwas anders. Oder irrte sie sich? Sie lauschte, konnte sich aber nicht richtig konzentrieren, sie war zu unruhig. Trotzdem wollte sie ganz sicher sein und nicht irgendwelchen lächerlichen Wahnvorstellungen verfallen, deshalb horchte sie noch einmal.

Nein, Irrtum ausgeschlossen, dachte sie.

Die Töne waren eindeutig leiser als sonst, teilweise hörte sie überhaupt keine.

Was ist da los? Besorgt überlegte sie, was sie tun sollte. Soll ich einfach laut rufen?

Sie sah sich um. An der Wand neben ihr hing eine Schnur für den Alarm. Daran ziehen oder nicht? Sie haderte mit sich. Was mache ich denn jetzt? Womöglich veranstaltet das Ding einen Höllenlärm.

Sie kannte sich damit nicht aus, hatte keine Ahnung. Vielleicht war aber auch alles in Ordnung mit ihrem Baby und was sie hörte oder nicht hörte, war völlig normal. Da käme so ein Alarm ganz schön peinlich an. Sie war hin- und hergerissen. Doch sie konnte nicht einfach nur dasitzen und abwarten, sie musste etwas tun. Folglich beschloss sie zu rufen, das war immer noch die bessere Wahl.

Zum Glück wurde ihr diese Entscheidung abgenommen. Schwester Christa kam ins Zimmer.

»Na? Alles gut bei Ihnen? Wie fühlen Sie sich?«

»Gut, dass Sie kommen. Ich glaube, es stimmt was nicht«, sagte Katarina hastig. Die Angst in ihrer Stimme versuchte sie gar nicht erst zu unterdrücken. »Die Herztöne sind total leise und manchmal höre ich gar nichts.«

»Erst einmal bleiben Sie ganz ruhig und machen sich keine Sorgen. Ich sehe mir das sofort an.«

Schwester Christa ging zum CTG-Gerät, schnappte sich den Papierstreifen und legte ihn kurz danach wieder ab. Sie wirkte noch immer sehr gelassen. Das beruhigte Katarina und veranlasste sie, ihre Anspannung ein wenig zu lockern.

»Ich will etwas versuchen«, sagte Christa und beugte sich über sie. »Nicht erschrecken.«

Sie legte ihre Hände auf Katarinas Bauch und rüttelte behutsam hin und her. Anschließend klatschte sie ein paarmal in die Hände.

Was war das denn, dachte Katarina entsetzt über die grobe Aktion. Und durchaus, sie war erschrocken. Irritiert sah sie die Schwester an und wartete auf eine Erklärung.

»Mal sehen, ob wir den kleinen Racker jetzt wachbekommen haben.« Christa lächelte und schaute erneut auf den Ausdruck. »Alles gut. Meistens sind die Babys sehr aktiv und schlagen Purzelbäume. Dann gleichen die Herzfrequenztöne fast einem Paukenschlag und die Kurve schießt nach oben. Genauso wie Sie das von den letzten Malen kennen. Heute ist Ihr Schatz eher eine kleine Schlafmütze. Darum sind die Ausschläge auch so gering. Ihr Baby hat einfach keinen Platz mehr in Ihrem Bauch, deshalb bewegt es sich kaum und schläft viel. Ich würde sagen, es ist startklar, um auf die Welt zu kommen. Also machen Sie sich mal keine Gedanken.«

Katarina beruhigte sich, trotzdem blieb ein mulmiges Gefühl. Sie konnte nur nicht sagen weshalb.

»Sie können schon mal im Nebenzimmer Platz nehmen«, sagte Dr. Fleischer nach der Untersuchung. »Ich muss mit Ihnen noch etwas besprechen.«

Katarina zog sich an und setzte sich anschließend auf den Patientenstuhl an seinem Schreibtisch. Es war doch alles in Ordnung, worüber wollte er jetzt noch reden? Ihr mulmiges Gefühl nahm zu. Sie zermarterte sich den Kopf darüber. Was war es, was er ihr vorhin nicht längst hätte sagen können?

Dr. Fleischer kam ins Zimmer und ließ sich in seinen ledernen Bürostuhl sinken. Er rückte seine Brille zurecht und kam zuerst auf das CTG zu sprechen.

»Als Erstes, das CTG sieht gut aus. Ihr Baby leidet an Platzmangel und bewegt sich deshalb nur wenig, aber das alles hat Ihnen Schwester Christa bereits erzählt. Generell ist ein Baby zum errechneten Termin fertig mit seiner Entwicklung. Es wächst dann nur noch, und das mit jedem Tag. Damit wird nur die Geburt erschwert. Es besteht also kein Grund, viel länger mit der Entbindung zu warten, maximal zwei Wochen, aber dann ist gut.«

Dr. Fleischer schob die Brille hinunter bis auf seine Nasenspitze und blickte sehr ernst über die kreisrunden Gläser zu Katarina.

»So, nun zum nächsten Punkt.«

Jetzt kommt’s, dachte sie. Daher dieses Gefühl.

»Wie ich vorhin schon sagte, Ultraschall und CTG sind im grünen Bereich. Noch! Und das mit erhobenem Zeigefinger.«

Ein Kribbeln schoss in Katarinas Bauch. Gott, wie sie es hasste, wenn ihre innere Stimme recht behielt. Und das tat sie meistens. Aber was wollte ihr der Doktor damit eigentlich sagen? Klar, sie war inzwischen vierzehn Tage über dem errechneten Termin. Doch zum einen konnte er sich verrechnet haben und zum anderen kamen doch Babys nie pünktlich. Das durfte sie sich nun schon seit Wochen von den Weisen anhören.

»Das soll heißen, Sie sind in der zweiundvierzigsten Schwangerschaftswoche und somit längst überfällig.«

Wie nett, dass Sie mich daran erinnern, hätte sie am liebsten geantwortet. Schon vergessen, dass ich die Schwangere bin?

»Die Werte können sich jetzt stündlich ändern.«

Stündlich? Das Kribbeln rutschte in ihren Magen.

»Die Plazenta versorgt Ihr Kind nur so lange, bis es fertig ist – einfach ausgedrückt. Und das ist bis zur vierzigsten Woche. Ab dann altert sie.«

»Und das heißt?«, fragte Katarina zögernd. Wenn sie ehrlich war, wollte sie die Antwort gar nicht hören.

»Das Fruchtwasser wird weniger, Nährstoffe werden nicht mehr ausreichend zugeführt und auch Sauerstoff wird knapper. Das ist nicht zwingend, aber sehr wahrscheinlich. Hinzu kommt, wie ich eben sagte, dass Ihr Baby jetzt nur noch an Gewicht und Größe zunimmt. Deshalb noch einmal, es gibt keinen Grund mehr, länger zu warten.«

Was für eine Scheiße. Natürlich war Katarina klar, dass ihr Baby irgendwann zur Welt kommen musste. Ihr war auch bewusst, dass sie längst überfällig war. Aber was Dr. Fleischer da gerade gesagt hatte, kam nun doch etwas plötzlich. Zumindest hätte er etwas schonender vorgehen können. Seine Worte machten ihr Angst. Eigentlich machte ihr alles Angst, und das schon lange.

 

Sie hatte Angst vor der Geburt, andererseits auch davor, noch länger schwanger zu sein, Angst vor der Zeit mit dem Baby, obwohl sie nichts anderes wollte. Und nun sollte ihr Schatz auch noch als Riese zur Welt kommen. Am liebsten würde sie sich in eine Ecke verkriechen, eine Decke über den Kopf ziehen und heulen, bis alles gut wäre. Doch sie wusste, das alles war Quatsch und würde an der ganzen Sachlage rein gar nichts ändern. Jedenfalls konfrontierte sie ihre innere Stimme damit, die wie üblich recht hatte.

»Frau Hanselmann-Breuer, Sie müssen sich an eine Geburtsklinik wenden, umgehend. Je länger Sie warten, umso größer ist die Chance, dass Ihr Kind und Sie selbst Folgeschäden davontragen. Dieses Risiko wird für mich an dieser Stelle zu hoch. Ich kann die Verantwortung nicht länger übernehmen.«

Ein Faustschlag, und das mitten ins Gesicht. Bravo, Herr Doktor. Damit hatte er Katarina den Tag gründlich versaut. Nicht nur oberflächlich. Nein, sie verfiel regelrecht in tiefe Verzweiflung. Um nichts in der Welt würde sie in ein Krankenhaus gehen, das kam gar nicht infrage. Sie hatte nicht umsonst alles gegeben, um bei Hebamme Hanni aufgenommen zu werden. Sie würde dort entbinden und nur dort, basta.


25. November, 15 Tage überfällig

Katarina hatte bei ihrer Hebamme Hanni einen Termin, den sie heute ausnahmsweise mal kaum erwarten konnte.

Sobald Hanni sie begrüßt hatte und mit ihr im Sprechzimmer saß, legte Katarina los. Sie musste unbedingt loswerden, was Dr. Fleischer ihr gestern unter die Nase gerieben hatte. Doch Hanni blieb dabei die Ruhe selbst und lächelte, auch nach der Schilderung.

»Lassen Sie sich dadurch nicht verrückt machen. Bei Ärzten ist das nun mal Vorschrift. Aber glauben Sie mir, Ihr Baby kommt, wenn es bereit ist.«

Genau das hatte Katarina gebraucht. Die Worte waren Balsam für ihre Seele. Ein Entspannungsbad konnte im Augenblick nicht besser sein.

»Legen Sie sich mal hin, ich will Sie untersuchen.«

Hinlegen. Das war inzwischen genauso eine Zirkusdarbietung wie das Aufstehen. Katarina kam sich dabei vor wie ein dicker, eher fetter, zappelnder Käfer, der von allein nicht mehr auf die Beine kam.

»Ein Elefant ist vermutlich wesentlich graziler als ich«, ächzte sie.

Aber Gott sei Dank, sie hatte es geschafft und lag jetzt auf der Pritsche. Natürlich nicht ohne Hannis Hilfe.

Hanni zog ihre Handschuhe über und legte los. Katarina wusste mittlerweile, wie die Untersuchung ablaufen würde. Beim ersten Mal war sie noch ziemlich irritiert, fast schon schockiert. Sie war sich nicht sicher, ob hier mittelalterliche Methoden zum Vorschein kamen oder ob das modernste Hebammentechnik sein sollte. Aber so lange Hanni kein rostiges Chirurgenbesteck hervorholte, ließ sie sich darauf ein.

Hanni tastete Katarina ab. So weit, so gut. Anschließend holte sie eine Tröte hervor, drückte sie auf ihren Bauch und horchte.

Wow, moderner Ultraschall und CTG in einem Gerät? Auch wenn ihr gesunder Menschenverstand schrie: Was macht die da, fühlte sich Katarina bei ihr gut aufgehoben. Hanni würde doch wohl wissen, was sie tat. Sie war ganz sicher keine Anfängerin.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte sie jetzt. »Ihrem Kind geht es gut.«

Und all das nur mit einer Tröte. Respekt.

»Ich denke, die Berechnung des Geburtstermins war schlicht falsch. Die Zeit ist einfach noch nicht reif. Ihr Baby weiß, wann es so weit ist. Verlassen Sie sich auf die Natur. Nichts anderes haben die Menschen schon vor Jahrhunderten getan.«

Und sind oft dabei gestorben.

Von der Technik her vertraute Katarina eher auf Dr. Fleischer, aber der hatte sie abgeschoben. Sie hatte somit keine andere Wahl, wenn sie nicht ins Krankenhaus wollte. Andererseits setzte Hanni ihre Behauptung mit solch einer Bestimmtheit, dass es nur so und garantiert nicht anders sein konnte.

»Ich habe in meinem Leben unzähligen Babys auf die Welt geholfen. Ich weiß, was richtig ist, vertrauen Sie mir.«

Genau das tat Katarina, sie vertraute Hanni. Aber genauso wusste auch Dr. Fleischer, was er tat. Er hatte ebenso Erfahrung, nur wurde er von einem Haufen Vorschriften geleitet, wie Hanni erklärte. Dennoch hatten sich seine Worte bei Katarina fest eingenistet und darüber brütete sie nun unablässig. Sie stand ratlos vor der Frage: Was ist richtig? Und nicht: Wer hat recht? Es ging immerhin um ihr Baby.

Seit dem letzten Gespräch mit Dr. Fleischer achtete Katarina viel bewusster auf jede noch so kleine Bewegung von ihrem Baby. Tritte bekam sie längst nicht mehr. Sie spürte manchmal höchstens ein sanftes Kitzeln, das aber auch nur selten. Dr. Fleischer hatte gesagt, die Werte könnten sich stündlich ändern. Der Gedanke machte sie völlig fertig. Zudem nervte penetrant ihre innere Stimme. Du bist keine Dauerglucke. Lass endlich los, damit das Baby kommen kann.

All das sprach für eine Entbindung. Und trotzdem war Katarina zufrieden, dass sie noch immer schwanger war. Im Moment war sie zwar fett, dafür aber etwas ganz Besonderes. Ein wunderbares Gefühl, jeder nahm auf sie Rücksicht, war nett und hilfsbereit. Und nach der Entbindung, was dann? Da war Schluss mit alldem, alles aus und vorbei. Katarina war wieder eine von vielen und ihre Schwiegermutter Elsbeth würde wie schon zuvor zum Monster mutieren. Und das Üble daran, um regelmäßige Besuche bei ihr kam sie leider nicht drumherum.

Außerdem war so eine Entbindung für sie ungewohntes Terrain. Schmerzen, ja. Und weiter? Deren Ausmaß konnte sie sich nicht einmal ansatzweise zusammenreimen. Und im Zusammenreimen war sie sonst ein Profi.

Davon zu hören war jedenfalls etwas anderes, als sie am eigenen Leibe zu spüren. Sie hatte sowieso schon permanenten Druck auf der Blase, besser gesagt im ganzen Unterleib, als würde sie jeden Augenblick platzen. Und dazu sollten noch Wehen kommen? Unvorstellbar. Mit Sicherheit war Katarina anders gebaut als alle restlichen Frauen. Ihr Körper war nicht für Schmerzen geschaffen. Der Pegel auf ihrer Skala lag nicht bei sieben oder fünf oder gar zwei. Nein, er pendelte so bei knapp über null. Es war ihr ein Rätsel, wie ihr Baby da jemals herauskommen sollte.

Aber gut, dass wenigstens eine in ihrem Umfeld gelassen blieb. Und das war Hanni.


28. November, 18 Tage überfällig

Schwanger zu sein, war echt bequem, jedenfalls für Katarina. Solange das Baby nicht rauswollte, hielten sich die Schmerzen in Grenzen und alle waren nett und megazuvorkommend.

Doch inzwischen war sie weit über dem errechneten Termin. Sie machte sich Sorgen um ihr Baby. Es bewegte sich kaum noch. Was, wenn es ihm nicht mehr gutging? Deshalb musste es endlich zur Welt kommen.

Es war ein ewiges Auf und Ab. Einerseits, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wollte sie gar nicht entbinden, denn vor allem anderen hatte sie Angst davor. Außerdem gehörte ihr das Baby momentan noch ganz allein. Andererseits war sie sehr unruhig und hatte kein gutes Gefühl.

»Es ist ein verdammtes Drama. Warum passiert so etwas ausgerechnet mir? So extrem besonders wollte ich nun auch wieder nicht sein.«

Katarina war allein zu Hause und erwartete nicht wirklich eine Antwort darauf. Sie konnte nicht ewig schwanger bleiben, das leuchtete ihr ein. Und auf einen Platz im Guinnessbuch der Rekorde als Dauerschwangere war sie auch nicht scharf. Mittlerweile lag sie ganze zwei Wochen und vier Tage über dem errechneten Termin. Jeder weitere Tag schürte ihre Angst, und die wurde inzwischen noch ein Stück größer als die vor der Entbindung.

Dr. Fleischer wollte Katarina nicht weiterbehandeln. Das Risiko war zu hoch für ihn. Übrig blieben einerseits die Ärzte und Schwestern in ihren weiß gebleichten und frisch gestärkten Kitteln im Krankenhaus. Nur war Katarinas Verhältnis zu diesem Ort genauso wie zwei gleichgepolte Magnete zueinander. Auf der anderen Seite gab es noch Hanni mit ihrer Tröte – also das krasse Gegenteil.

Katarina hatte keine Wahl. Ob sie wollte oder nicht, sie musste die Sache jetzt selbst in die Hand nehmen. Möglichkeiten und Tipps dazu fand sie im Internet jede Menge. Was du heute kannst besorgen … Prompt legte sie los. Sie setzte sich an ihren Laptop und stöberte.

»Ah, hier steht’s. Ein Wannenbad mit ätherischem Öl. Lavendel, Ingwer oder Nelke. Na dann mal los.«

Sie ging ins Bad und ließ die Wanne volllaufen. Exakt achtunddreißig Grad. Alles schön nach Vorschrift, schließlich konnte sie nicht hellsehen und die Wirkung voraussagen.

»Und weiter mit dem Lavendelöl. Wie viel eigentlich?« Katarina warf rasch einen Blick in ihren Laptop. »Na super, wieso steht in diesem Artikel nichts davon? Egal, viel Wasser, viel Lavendel.«

Sie kippte ein Viertel der Flasche hinein.

»So, nun noch Ingwer und Nelke. Hm, hier steht aber oder, nicht und. Das Bisschen Lavendel soll’s jetzt bringen? Ist doch Blödsinn. Was soll’s. Ingwer ist gesund.«

Sie holte eine Knolle aus dem Kühlschrank. Davon ein paar Scheiben, zehn Nelken aus dem Gewürzglas und ab damit in die Wanne.

Herrlich. Eine dreiviertel Stunde hielt sie es darin aus. Danach noch eine sanfte Bauchmassage mit ein paar Tropfen von diesem Öl und nun – warten.

Zwei Stunden vergingen und nicht mal eine einzige Wehe regte sich. Noch nicht, es konnte genauso gut erst in der Nacht losgehen.

»Katarina«, sagte sie zu sich, »abwarten und Tee trinken.«

Den verkniff sie sich allerdings und legte sich lieber ohne ins Bett. Himbeerblättertee sollte wehenfördernd sein. Den hatte ihr letztens Hanni mitgegeben. Aber Katarina wollte es nicht gleich übertreiben. Sie befürchtete, die Wehen könnten dann zu schnell und zu stark kommen.

Als Felix am Abend nach Hause kam, erzählte sie ihm von ihrem tollkühnen Vorgehen.

»Es kann gut sein, dass es noch in dieser Nacht losgeht«, warnte sie ihn vor.

Doch am nächsten Morgen war alles beim Alten und Katarina niedergeschlagen. Zumindest suggerierte ihr das die innere Stimme, denn sie selbst war eher erleichtert.

»Okay, neuer Tag, neues Glück. Wehenförderung die Zweite.«

Sie vollführte die gleiche Prozedur wie am Vortag. Warm baden und danach massieren. Nur dieses Mal trank sie noch zusätzlich drei große Tassen von Hannis Himbeerblättertee.


30. November, 20 Tage überfällig

»Na toll, ich bin eine verdammte Elefantenkuh.«

Wieder ein neuer Morgen und noch immer war alles beim Alten. Das Baby ließ weiterhin auf sich warten.

Am Nachmittag stand Hanni auf Katarinas Plan. Alle zwei bis drei Tage trafen sie sich. Anfangs waren ihr die Termine lästig, doch inzwischen fieberte sie diesen Untersuchungen regelrecht entgegen. Katarina war verunsichert. Ihr Baby war längst überfällig. Es gab nicht das kleinste Zeichen von sich, dass es bereit wäre, sich nun endlich auf den Weg zu machen.

Aber Hanni war eine Jeanne d’Arc unter den Hebammen. Alles braucht seine Zeit, die Natur bestimmt, das ist der Lauf der Dinge, es kommt, wenn es so weit ist, bla, bla, bla. Sie war überzeugt von dem, was sie sagte. Und auch wenn Katarina diese Sprüche leid war und nicht mehr erhören konnte, Hanni spendete ihr damit dennoch das dringend benötigte Selbstvertrauen und linderte so einen Teil ihrer Ängste. Auf irgendwen musste sie sich letztendlich verlassen. Sie konnte ja schlecht in den Wald gehen, sich hinter einen Busch hocken und darauf warten, dass ihr kleiner Schatz sich hoffentlich blicken ließ.

»Es sieht alles gut aus«, entschied Hanni nach CTG und Ultraschall mit ihrer antiquierten Tröte. »Dem Kind geht es prima, es scheint mir nur ein bisschen faul zu sein. Wir werden ihm mal einen kleinen, aber wirksamen Schubs geben.«

Sie lachte dabei, als hätte sie soeben die Pointe von einem Witz verraten. Aber zum Scherzen war Katarina ganz und gar nicht zumute.

»Wir helfen Ihrem Baby etwas auf die Sprünge und machen ihm klar, dass es kommen darf.«

 

Jetzt wurde es also ernst. Endlich. Denn selbst wenn sich Katarina am liebsten verkrochen hätte, so ging es nicht weiter. Außerdem wurden die Warnungen ihrer inneren Stimme unerträglich.

»Ihr sanfter Versuch, die Wehen anzukurbeln, war in Ordnung«, sagte Hanni, »doch nun wird es Zeit für die etwas schwereren Geschütze. Ich schreibe Ihnen ein Rezept auf. Hier. Besorgen Sie sich diese Zutaten und halten sich genau an die Mengenangaben. Zu viel von dem Zeug und Sie bekommen unter Umständen heftige Hammerwehen.«

»Ach, du Schreck.« Hammerwehen. Bloß nicht.

Katarina dachte an ihr Wannenbad und dass sie statt einer Zutat gleich alle drei ins Wasser gegeben hatte und davon jede Menge.

Gleich nachdem sie bei Hanni raus war, ging sie einkaufen, denn diese ganz spezielle Wunderwaffe sollte sie noch heute zu sich nehmen.

»Okay, dann mal los.«

Katarina stand mit Messbecher und Waage in ihrer Küche und mixte den Wehen-Cocktail. Alles grammgenau und streng nach Vorschrift. Rizinus, Mandelmus, Aprikosensaft und Sekt.

»Bäh, das sieht aus wie echte Hexensuppe. Fehlen nur noch Spinnenbein und Krötenschleim.«

Ohne Frage, es sah eklig aus und der Geruch war nicht besser.

Fertig. Nun gab es kein Zurück mehr. Irgendwann kam immer der Tag X, und bei Katarina war das heute. Sie hatte ab jetzt sechzig Minuten Zeit, um das Zeug hinunterzuwürgen, danach verlöre es laut Hanni an Wirkung.

In so eine Pampe würde sie normalerweise nicht mal ihren Finger tunken. Angewidert sah sie in das Glas. Scheiße. Sie wusste, zögern war im Augenblick fehl am Platz. Es half alles nichts. Also gab sie sich einen Ruck und trank. Mahlzeit!

»Igitt. Igitt«, rief sie. »O mein Gott, ist das scheußlich. Einfach ekelhaft.«

Und das war nur der erste Schluck. Sie sprang auf, setzte sich, sprang wieder auf und setzte sich erneut. Was sollte sie tun? Weitertrinken oder schnell ins Klo kotzen?

Das hatte sie so nicht erwartet. Einzeln war gegen all diese Zutaten nichts einzuwenden. Die waren sogar recht lecker, der Sekt jedenfalls. Aber als Mix? Wer dachte sich denn so eine Scheiße aus?

So wie es momentan aussah, hatte sie jetzt genau zwei Möglichkeiten. Entweder die Pampe ins Klo kippen und weiter auf den Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde zusteuern oder schlucken und Wehen bekommen. Dann hätte dieser ganze Nervenstress endlich ein Ende.

Somit gab es für Katarina nicht viel zu überlegen. Augen zu und durch. Sie atmete tief ein, hielt die Luft an und kippte das Gebräu rasch hinunter. Das ganze Glas auf einmal. Sie schluckte – und dann würgte sie. O mein Gott, und was nun? Kotzen war kontraproduktiv. Dann war’s das für heute mit den Wehen. Sie musste den Geschmack neutralisieren, und zwar umgehend. Womit? Sie schaute sich um. Vor ihr stand das leere Glas. Der Geruch stieg ihr in die Nase.

»Hrg.« Ihr Magen krampfte.

Hastig schob sie es beiseite. Da stand der Obstkorb, direkt vor ihr auf dem Tisch. Ohne zu überlegen griff sie nach einer Zitrone und biss hinein. Der saure Saft spritzte auf ihre Zunge.

»Boah.«

Ungewollt ballte sie ihr Gesicht zu einer Grimasse. Jede noch so winzige Pore zog sich schlagartig in ihrem Mund zusammen, aber es half. Der Würgereiz legte sich und sie behielt zum Glück alles drin. Dem Himmel sei Dank!

Jetzt hieß es warten. Innerhalb der nächsten zwei bis sechs Stunden sollte es losgehen.

›Und dabei immer schön auf die Uhr sehen‹, hatte ihr Hanni eingetrichtert, wegen der Wehen und Abstände und so.

Katarina sollte sie dann sofort anrufen und sich anschließend mit ihr im Geburtshaus treffen.

Es wird schon alles werden‹, hatte sie noch dazugesagt, und Katarina solle doch Vertrauen haben.

Und sie hatte Vertrauen. Doch lieber wäre es ihr, wenn der ganze Spuk endlich ein Ende hätte.

Zusammen mit Felix saß sie jetzt quasi auf ihrer gepackten Tasche. Hannis Telefonnummer obendrauf. Geschlagene acht Stunden. Unterdessen war es Mitternacht und keine einzige Wehe in Sicht.

Erschöpft ging Katarina ins Bett und schlief ein. Wenigstens ein paar Stunden Schlaf. Vielleicht wirkte das Zeug bei ihr einfach nur etwas später.