Always Differently

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Aus der Reihe: Always Differently #2
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Kat v. Letters

Always Differently

Buch II

Früchtchen an Bord

Roman

(eine fast wahre Geschichte)


Das Buch

Ein Baby hat’s nicht leicht, weder im Mutterleib noch außerhalb.

Umgeben von lauter Lulatschen und zig anderen Leuten, von denen ulkigerweise jeder Doktor heißt, was für ein langweiliger Name, wird es strengstens rund um die Uhr bespitzelt. Aber das Schärfste, die wollen es aus seiner Wohnung werfen.

Doch kleinkriegen lässt sich so ein Baby noch lange nicht. Einmal auf der Welt zeigt es den Lulatschen, wer der eigentliche Boss ist.

Die Autorin

Kat v. Letters, Baujahr ’69, ist aufgewachsen im Land der Blauen Steine. Ihre Sturm- und Drangzeit hat sie später in eine sächsische Großstadt verschlagen, in der sie viele Jahre gelebt hat. Mittlerweile ist sie auf vielen interessanten Schauplätzen unterwegs.

Wesentliche Basis ihrer Schreibweise sind akkurate Recherchen und Natürlichkeit ihrer Protagonisten.

Bisherige Veröffentlichungen

Always Differently: Schwanger – ja, ich will, Buch I

Toxin-Killer

1. Auflage März 2022

Texte: © 2022 Copyright by Kat v. Letters

c/o Block Services, Stuttgarter Str. 106, 70736 Fellbach

takemybooks@protonmail.com

Coverdesign: © 2022 Copyright by artdesign88

https://sorrowbox.online/nad

Illustrationen: © 2022 Copyright by artdesign88

https://sorrowbox.online/nad

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Inhalt

Titelseite

Vorwort

Hi, ich bin’s, Baby-Schatz. Ich gehe davon aus, dass dies mein Name ist. Zumindest nennen mich alle so, mal Baby, mal Schatz. Sie sind sich nicht ganz einig, vielleicht ist das aber auch irgend so ein neumodischer Doppelname. Heutzutage machen sie ja aus fast allem einen Namen.

Hab mal gehört, wie ein Mann eine Frau mit Alte Schachtel angesprochen hat. Vollkommen verrückt, sag ich dazu. Der Vorname war ja noch einigermaßen passend, denn die hatte schon mindestens zwanzig oder dreißig Jahre auf dem Buckel. Aber der Nachname Schachtel, ich weiß ja nicht.

Wer die alle sind, woher soll ich das wissen? Hab sie noch nie gesehen, immer nur gehört. Warum? Na, weil ich noch nicht draußen bin. Ich habe mich in der letzten Zeit so daran gewöhnt, dass ich beschlossen habe, noch ein bisschen hierzubleiben.


Ich bin Baby-Schatz

Vorname: Baby

Nachname: Schatz


Mein Apartment to go

Ich bin ein fröhliches Wesen. Am Anfang war ich nur eine kleine Bohne, doch seitdem bin ich gewachsen. Bin jetzt sozusagen vollwertig. Ich habe Arme, Beine, Finger und Zehen und ich denke, der Rest kann sich auch sehen lassen.

Vor ein paar Monaten bin ich in diese Einraumwohnung gezogen. Aber das habe ich mir nicht aussuchen können, denn ich bin nicht wirklich eingezogen. Son Typ hat mich quasi in einem Affentempo in Richtung Haustür geschleudert. Und das war’s dann auch. Um den Rest durfte ich mich selber kümmern. Der hatte nicht mal so viel Anstand, mich bis zur Wohnung zu bringen. Hat mich ohne Erklärung liegen lassen. Service geht zweifellos anders.

Zu der Zeit war ich nicht allein unterwegs. Der Typ hat nämlich noch einige mehr von meiner Sorte hierher geballert, einen nach dem anderen, einfach so neben mich hingepfeffert. Am Ende hat sich dieser Typ verdrückt und uns zurückgelassen.

Wir waren eine riesige Meute und es stand nur ein einziges Apartment zur Verfügung. Dieser Umstand machte uns zu rücksichtslosen Konkurrenten. Gleich darauf kam von oben ’ne kurze Ansage und schon ging das Rennen los.

Klar, dass da jeder der Erste sein wollte. Also bin ich mit meinen Fruchtwasser-Rivalen um die Wette geschwommen und hab dabei alle der Reihe nach abgehängt. Aber was soll ich dazu noch weiter sagen. Ich habe gewonnen, logisch oder?

Verantwortlich für die ganze Rangelei um das Apartment war nur dieser Typ. Jetzt lungert der ständig in meiner Nähe herum. Erst dachte ich ja, er wäre irgendeiner von diesen Spannern, die sich nachts immer herumtreiben. Doch dann stellte sich heraus, er ist mein Papa. Nicht dass irgendwer denkt, ich bin übertrieben leichtgläubig, nee, nee. Das hat er mir von draußen zugeflüstert. Und meine Mama hat nichts Gegenteiliges dazu gesagt. Also habe ich ihm mit einem High five signalisiert, dass ich ihm glaube.

Das hat ihn beinah aus den Latschen gehauen. Er fing voll an zu heulen. Dann rief er aufgeregt zu meiner Mama, sie solle mal schnell herschauen. O Mann, ich hab mich total gekugelt vor Lachen. Ist ja schließlich ihr Bauch und sie sieht andauernd, wie sich irgendeine Beule daran abzeichnet. Mal von meiner Hand, mal von meinem Fuß oder wenn ich Purzelbäume schlage. Ich nehme an, sie wollte ihm die Freude nicht verderben, denn sie hat mitgemacht und tat ebenso erstaunt. Finde ich voll anständig von ihr.

Ich habe das Glück, immer reichlich Getränkevorrat im Haus zu haben. Meine Wohnung ist voll mit fruchtigem Wasser. Vielleicht sollte ich sie in Aquarium umtaufen oder so. Hab mal gehört, draußen gibt es dafür noch ’nen ganz anderen Namen. Die sagen Fruchtblase dazu. Na ja, jeder wie er denkt.

Eigentlich wollte ich ’ne WG gründen. Doch daraus wurde nichts. Bereits am Tag der Einberufung haben sie uns gesagt, es dürfte nur einer hier drin wohnen. Inzwischen finde ich das nicht mehr so schlimm. Ich bin eher froh, dass ich auf die gehört habe. Ein Zweiter von meiner Sorte hätte jetzt ganz sicher keinen Platz mehr.

Meine Hütte ist total chillig. Die Wände sind gepolstert und schalldicht. Und wenn ich will, kann ich trotzdem hören, was draußen abgeht, und zwar alles. Dazu muss ich nur mein Ohr an die Wand drücken und ganz leise sein.

Aber das Beste, ich wohne quasi in einem Apartment to go. Es befindet sich im Bauch von der Frau, die mir nie von der Seite weicht. So komme ich bequem von einem Ort zum anderen.

Die Frau ist meine Mama. Das weiß ich schon, seit ich hier eingezogen bin und viel länger als sie selbst. Ist wahrscheinlich Intuition, oder wie nennt man einen genialen Verstand sonst?

Anfangs wusste sie nicht, dass ich da bin, doch mittlerweile hat sie es geschnallt. Wenn sie mit mir spricht, und das tut sie sehr oft, dann erzählt sie mir schöne Geschichten. Manchmal singt sie sogar ein Lied für mich. Das finde ich nett von ihr.


Codename: Ultraschall

Seitdem mich dieser Typ, also mein Papa, in Richtung Apartment geschleudert hat, bin ich ein begeisterter Sportler. Angefangen hat das mit dem Wettkampf im Sprint, den ich damals ganz klar gewonnen habe. Später waren dann Purzelbäume meine Lieblingsbeschäftigung, immerzu. Das ging total ab.

So war das bis vor wenigen Tagen. Jetzt ist das anders. Ich bin mächtig gewachsen und stoße permanent irgendwo dagegen. Für körperliche Aktivitäten habe ich einfach keinen Platz mehr.

Diesen Ottos da draußen gefällt das nicht. Die haben eben keinen Schimmer, was hier drin los ist. Na ja, wie auch. Trotzdem wollen die unbedingt, dass ich weitertrainiere. Wahrscheinlich brauchen die einen Gewinner bei Olympia. Sicher, das wäre eine Kleinigkeit für mich, aber da spiele ich nicht mit. Ist auch viel zu eng hier drin. Das Problem ist nur, zur Strafe soll ich jetzt ausziehen.

Woher die wissen, was ich den ganzen Tag lang so mache? Das liegt doch klar auf der Hand. Ich werde bespitzelt. Hab ich selber herausgefunden.

In den ersten Wochen war das nicht so, nur ganz selten. Aber je älter ich wurde, umso schärfer wurde das Ding mit der Überwachung. Die haben völlig ungeniert und dazu laut über mich geredet, die ganze Zeit. Und die denken echt noch immer, ich bekomme davon nichts mit.

Fehlanzeige. Ich höre alles ganz genau. Vom ersten Tag an habe ich verfolgt, was sie machen und sagen. Hab mir jedes einzelne Wort notiert. Nicht auf Papier! Wie auch, in meinem Kopf natürlich.

Zu Beginn dachte ich noch, alle da draußen wollen nur Spaß haben wie ich. Zum Beispiel die Mama. Ein paarmal habe ich gehört, wie sie mit ’nem Mann rumgemacht hat. Nein, es war nicht der Papa, sondern ein anderer war bei ihr. Zur Sicherheit hab ich mir mal seinen Namen gemerkt. Er heißt Doktor.

Komischer Name, wenn ihr mich fragt. Scheint aber gängig zu sein, so wie Müller oder Meier. Zumindest höre ich Doktor in der letzten Zeit ziemlich oft.

Sobald also die Mama mit dem Doktor zusammen war, hat sie sich immer sofort auf den Rücken gelegt. Er hat dann so ein glibberiges Zeug auf ihrem Bauch breitgeschmiert und ist mit einem Spielzeugschlitten darauf herumgerutscht. Davor sagte er jedes Mal, er mache nun einen Ultraschall.

 

Na ja, warum nicht, habe ich mir gesagt. Die dort draußen wollen auch spielen und kennen eben noch was anderes außer Purzelbaum schlagen.

Stutzig darüber wurde ich erst viel später. Da war ich schon etwas älter, etwa neun Monate. Ab da habe ich begonnen nachzudenken. Über dies und jenes und alles Mögliche. Vorher klappte das mit dem Denken noch nicht so gut, hatte auch keine Zeit dafür. Ich war von morgens bis abends mit Purzelbaum schlagen beschäftigt.

Jedenfalls kam mir beim Nachdenken plötzlich ein Verdacht. Und ich sagte mir, Moment! Baby-Schatz, hier ist was faul. Irgendetwas stinkt an der Sache ganz gewaltig.

In den letzten neun Monaten, an die Zeit davor kann ich mich gerade nicht mehr so genau erinnern, da habe ich ständig Stimmen von Kindern mit ihren Mamas und Papas gehört. Die hatten da draußen richtig viel Spaß zusammen und haben dabei gelacht. Immer!

Aber nicht diese beiden, meine Mama und Doktor. Und das kam mir sehr verdächtig vor. Außerdem war von einem Ultraschall absolut nie etwas zu hören. Deshalb kam ich zu einem Schluss. Erschreckend, aber wahr: Ultraschall ist ein Deckname und das Glibberzeug Abhörmasse. So hat das Ganze begonnen.

Seit Kurzem verfolge ich einen Plan. Jedes Mal, wenn sie ihre Abhörgeräte von außen an meiner Wohnung anbringen, das heißt, sie verwanzen den kompletten Bauch meiner Mama, verhalte ich mich vollkommen leise. Die Logik dahinter ist wohl klar, oder? Wenn die mich nicht hören, können sie mich auch nicht bespitzeln. Isso, geschnallt? Niemand lässt sich bewusst freiwillig überwachen.

Doch allmählich habe ich die Befürchtung, mein Plan geht nach hinten los. Die Observierung läuft jetzt schon seit ein paar Tagen und bisher haben die von mir noch nicht einen Ton gehört. So weit, so gut. Das war schließlich das Ziel meiner Überlegung. Aber inzwischen weiß ich, das war dumm von mir. Hinterher ist man bekanntlich immer ein bisschen schlauer.

Ich habe ihre Dreistigkeit unterschätzt. Ein schrecklicher Fehler. Ich habe einfach nicht damit gerechnet, dass sie zu weiteren und radikalen Mitteln greifen würden. Sie haben mir gedroht. Ja, wirklich. Sie sagen, ich soll raus aus meiner Wohnung. Ich will aber nicht. Die sind tatsächlich mit allen Wassern gewaschen. Eine derartige Nummer finde ich ziemlich fies.


Ich habe kein Wahlrecht

Es gibt Kinder, die können selbst bestimmen, wann sie zur Welt kommen. Habe ich von denen da draußen gehört. Sie haben sich laut darüber unterhalten. Und da ist es nur natürlich, dass ich das auch will. Die Frage erübrigt sich also.

Und doch läuft bei mir mal wieder nichts reibungslos. Sie wollen es mir verbieten und mir offensichtlich das Recht auf Mitsprache verweigern. Warum? Das ist mir noch nicht ganz klar. Allerdings habe ich da eine Vermutung. Sie haben keine Hobbys und ihr einziges Vergnügen besteht aus reiner Schikane. Vielleicht ist auch die Schikane deren Hobby. So oder so. Jedes Mal, wenn ich auf die treffe, wollen sie mich bespitzeln oder aus meiner Wohnung rauswerfen. So etwas ist doch nicht normal.

In letzter Zeit attackieren sie mich sogar mit Stinkbomben, aber dazu komme ich gleich.

Ich nehme an, die treffen ihre Auswahl rein zufällig, nur dummerweise fiel sie dabei diesmal auf mich. Anders kann ich mir diesen Zirkus nicht erklären.

»Das ist Mobbing. Nicht mit mir«, brülle ich und kann es kaum fassen. »Dafür habt ihr euch den Falschen ausgesucht. Verpisst euch oder ich nehme mir ’nen Anwalt. Dann verklage ich euch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld.« Doch mein Mund ist voll mit Fruchtwasser und so blubbere ich nur.

Ich glaube ganz fest daran. Denn ich bin der Meinung, auch ich habe Rechte. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, alles zu tun, damit sie mich nicht zwischen ihre Finger bekommen. Wie ich jedoch weiterhin feststellen muss, ist das nicht so einfach.

Die Mama geht ziemlich oft in so ein Haus. Sie nennt es Geburtshaus und findet es da gemütlich. Das sagt sie zumindest andauernd. Sie trifft sich dort immer mit einer anderen Frau. Der Name von ihr ist Hebamme und manchmal heißt sie Hanni. Mama hat aber auch schon Hebamme-Hanni zu ihr gesagt. Keine Ahnung, wie die nun tatsächlich heißt. Jedenfalls finde ich sie sympathisch. Und das liegt nicht nur an ihrer Stimme, sondern sie steht auf meiner Seite – als Einzige!

Bei meiner Mama war das nur in den vergangenen neun Monaten so gewesen. Sie hat gemacht, was sie wollte, und sich von niemandem reinreden lassen. Da war sie noch schwer in Ordnung. Jetzt ist das nicht mehr so. Sie hat sich verändert und macht nur noch das, was andere ihr sagen. Manchmal denke ich, sie ist ein Feigling.

Die Hebamme, Hanni oder Hebamme-Hanni ist da ganz anders. Sie hat eine feste Meinung und bleibt auch dabei. Wenn es nach ihr ginge, dürfte ich sogar das Wahlrecht für mich beanspruchen. So wie es sich gehört. Sie will, dass ich meine Wohnung erst verlasse, wenn ich so weit bin. Zwar gibt sie meiner Mama ’ne Menge Ratschläge, wie sie mich eher herauslocken kann, doch ich denke, das ist lediglich eine Art Ablenkungsmanöver.

Seither befolgt meine Mama die Tipps von der Hebamme, Hanni, Hebamme-Hanni oder wie auch immer die heißt. Logisch. Doch was sie dabei veranstaltet, ist alles andere als angenehm, bis auf das warme Badewasser. Ich liebe Wasser.

Mama schluckt nun ständig so ein Zeug. Das sind voll die Stinkbomben. Wenn die in meine Wohnung knallen, müffelt und schmeckt einfach alles nur eklig.

Mist. Wenn man vom Teufel spricht … Und zack, gerade rutscht der nächste stinkende Haufen von oben in meine Hütte.

»Himmel, nein!«, gurgele ich und schlucke davon versehentlich eine ordentliche Ladung.

Pfui Spinne. Mir wird schlecht. Schon wieder dieses abscheuliche Gesöff. Mein schönes fruchtiges Wasser schmeckt jetzt komplett nach diesem Zeug. Gleich muss ich würgen. Nichts wie raus aus der Bude, und zwar schnell. Das halte ich keine Sekunde länger aus. Was ich mir hier gefallen lassen muss, ist echt filmreif, und das bei den heutigen Mietpreisen.

Nee, stopp mal, ich zahle ja gar keine Miete. Egal, solange die das nicht merken, ihr Pech. Ist eh zu spät, ich hau ab. Bloß weg hier. Und Tschüss.

Ha, der Ausgang, da ist er ja. Da unten bei der Riesenrutsche. So, ab geht er, auf Nimmerwiedersehen. Und los.

Halt, Moment. Nicht so schnell, Baby-Schatz. Denk erst mal nach. Das ist doch genau das, was die wollen. Ich soll raus aus meinem Apartment. Ich glaube, die versuchen mich eiskalt auszutricksen. Bestimmt lauern die am Ausgang der Riesenrutsche auf mich. Oje, was wenn die mich verhaften wollen? Vielleicht soll ich gar nicht ausziehen, weil ich nicht mehr trainiere, sondern weil ich bis jetzt noch keine Miete bezahlt habe.

Ach du heiliger Furz, schießt es mir durch Kopf und Gedärm und zischt am hinteren Ende meines zarten Körpers mit leisem Pfiff und dezenter Duftnote wieder heraus.

Na denen werde ich einen schönen Strich durch die Rechnung machen. Damit kommen die nicht durch. Mit ihren radikalen Methoden werden sie keinen Erfolg haben, dafür sorge ich. Ab sofort reiße ich mich zusammen und bleibe, wo ich bin. Egal, wie viele Stinkbomben sie nach mir werfen. Wir werden ja sehen, wer länger durchhält.

Ich glaube, meine Mama ist ein Fakir. Vielleicht gehört sie auch einer Sekte an, aber das finde ich noch heraus. Sie ist zusammen mit Papa gerade bei einem Treffen. Die sitzen dort alle im Kreis auf dem Boden. Frauen und Männer, Mama neben Papa. Die haben jede Menge echte Nadeln im Körper stecken. Mann, ist das krank. Aber nur die Frauen, die Männer sind wahrscheinlich zu feige. Wird Zeit, dass ein richtiger Kerl wie ich herzukommt. Seitdem sitzen sie steif da und meditieren, sieht zumindest so aus, eben wie bei ’ner Sekte.

Verrückte Welt. Möchte mal wissen, warum meine Mama das mitmacht. Ha, ich hab’s. Die steht womöglich drauf.

Sollte ich mich irgendwann doch entschließen, meine Wohnung zu verlassen, das kann allerdings noch eine Weile dauern, werde ich das mal ausprobieren und sie ordentlich kneifen. Vielleicht bringt mir das ein paar Pluspunkte.


Ich bleibe noch ’n Weilchen

Beinah hätte ich laut losgelacht, aber ich habe meinen Mund mal wieder voll mit fruchtigem Wasser. Also steigen nur ein paar Blubberblasen auf, die meine Mama im Bauch kitzeln. Sie kratzt sich dann immer, genau wie eben.

Meine Eltern, das ist eine kleine Gruppe von Menschen. Quasi eine Minderheit, denn sie besteht nur aus zwei Personen, nämlich meiner Mama und meinem Papa.

Die beiden denken tatsächlich, nur weil ich mein Apartment nicht verlasse, will ich einen Rekord aufstellen und als Baby Nummer fünftausend zur Welt kommen. Echt jetzt? Wer bitteschön glaubt denn so einen Scheiß? Darüber kann ich nur lachen. Und die wollen erwachsen sein.

Bisher war ich immer schwer davon überzeugt, die Lulatsche – so nenne ich die Erwachsenen manchmal, das klingt lustig – wären intelligent und handeln überlegt. Inzwischen weiß ich es besser. Sie tun eigenartige Dinge, sprechen seltsam und benehmen sich auch so. Sagen nein, wenn sie ja meinen, oder putzen das Haus, bevor sie sich Gäste einladen, die dann wieder alles schmutzig trampeln. Und die Frauen, die sind vielleicht komisch. Die haben ganz lange, dünne Stäbchen an ihren Schuhen, auf denen sie nicht einmal richtig laufen können. Könnte ich allerdings auch nicht. Und was noch verrückter ist, die schmieren sich Farbe ins Gesicht. Wozu? Weiß ich nicht. Ich denke, die sind inkognito unterwegs. Aber wehe, wenn du als Kind ihre Wände bunt malst, voll unfair.

Ehrlich gesagt, es gibt einen triftigen Grund, warum ich nicht aus meiner Bude ausziehen will. Er ist nur nicht so spektakulär, wie meine Eltern glauben. Simpel ausgedrückt, ich fühle mich einfach nur sauwohl da, wo ich bin. In letzter Zeit hocke ich hier drin zwar wie ein Knödel in seiner Verpackung, aber dafür ist es umso gemütlicher.

Heute ist mir was passiert. Und das hat mich beinah dazu veranlasst, meinen aktuellen Wohnsitz aufzugeben. Ob ihr es glaubt oder nicht, ich hatte Durchfall. Jetzt ist mein Wasser so übel verdreckt, dass ich kaum noch atmen kann, vom Geschmack ganz zu schweigen. Wodurch das passiert ist? Na ja, das liegt doch völlig klar auf der Hand. Schuld daran ist dieses eklige Zeug, was meine Mama immerzu trinkt, diese Stinkbomben. Sie rührt da Rizinus mit hinein und davon bekommt man Durchfall, schon mal gehört?

Ich verstehe Hebamme, Hebamme-Hanni oder nur Hanni nicht. Ich dachte bisher, sie ist auf meiner Seite. Warum musste sie dann meiner Mama ausgerechnet Rizinus einreden? Warum nicht Haselnuss, Nutella oder Milchschnitte? Ist zudem viel gesünder.

Vom dauernden Kopfschütteln über die Lulatsche erleide ich noch irgendwann ein Schleudertrauma.


Zwangsräumung, ich werde obdachlos

Mein Wasser ist der reinste Modder. Ich will mich ja nicht beschweren, denn Schlammbäder sind grundsätzlich gut für die Haut, lösen Verspannungen und helfen gegen Stress. Im Prinzip also gerade richtig in meiner derzeitigen Situation. Ist nur blöd, wenn du das Zeug die ganze Zeit schlucken musst und auch noch einatmest, so wie ich.

Mein Hals fühlt sich an wie zugeschnürt und ich bekomme kaum noch Luft. So sieht’s im Moment aus bei mir. Und das Einzige, was aktuell bei mir perfekt läuft, ist mein Durchmarsch.

Ich bewege mich nicht mehr, um meine Körperfunktionen auf dem untersten Level zu halten. Das spart Energie und kostbare Atemluft. Darum liege ich die meiste Zeit nur rum und schlafe.

»Was ’n jetzt los?«

Plötzlich werde ich aus meinem Schlaf gerissen und schrecke hoch. Ein Höllenlärm bricht um mich herum aus. Wer ist denn das?

»Menschenskinder, ich will schlafen!«

Aber außer mir interessiert das niemanden. Erst einmal versuche ich zu mir zu kommen. Solch eine Hektik bin ich nicht gewöhnt. Was ist da draußen bloß los? Ich verstehe kein Wort bei dem ganzen Gegacker. Bin ich hier etwa in einen Hühnerstall geraten? Das würde dieses Chaos jedenfalls erklären. Halt! Nein! Ich habe mich geirrt. Das sind keine Hühner. Ich höre Stimmen. Verdammt. Stimmen sind gar nicht gut. Kann gewaltig nach hinten losgehen, wenn du davon jemandem erzählst.

 

Gerade habe ich den Namen Doktor gehört. Was macht der denn schon wieder hier? Obwohl, bei den Erwachsenen heißt sowieso jeder Zweite Doktor.

Warum reden die bloß alle so durcheinander? Das hält doch kein Mensch aus. Trotz dieses furchtbaren Lärms schnappe ich ein paar Wortbrocken auf. Das darf nicht wahr sein, denke ich, und verliere soeben das letzte Quäntchen Vertrauen in die da draußen. Diese hinterhältigen Lulatsche wollen mich gewaltsam aus meiner Wohnung zerren, und zwar jetzt!

Vor Schreck bekomme ich wieder Durchfall. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, ruhig zu bleiben, da ich sowieso kaum noch atmen kann. Aber daran ist im Augenblick nicht zu denken. Ich bin total panisch und schlucke versehentlich eine große Menge von dem verdreckten Modder, der mal mein Fruchtwasser war. Lang ist’s her.

Der Mensch gewöhnt sich normalerweise an so einiges, nur ich bin noch ein Baby, na ja fast. Deshalb haut es mich prompt um und ich werde ohnmächtig. Das war dann doch etwas zu viel von dem Zeug.

Das Nächste, was ich mitbekomme, das Dach meiner Wohnung ist verschwunden. Es ist scheißkalt und ich friere. Rasch versuche ich, meine Augen zu öffnen, aber mehr als einen Spaltbreit bekomme ich sie nicht auf. Sie sind total mit Modder verklebt.

Aus dem kleinen Augenschlitz heraus sehe ich über mir zwei Maskierte. Ach du Scheiße, denke ich, bin ich nun auch noch in einen Banküberfall geraten? Der eine hat ein Messer in der Hand. Jetzt bloß nicht bewegen. Doch die beiden starren mich nur an. Bin ich etwa ansteckend? Wissen die denn nicht, dass ich aus einer keimfreien Zone komme?

Verdammt, am Ende sind die selber infiziert. Scheiß Corona. Soeben fällt mir ein, vielleicht sind die aber auch sauer, weil ich noch keinen Test gemacht habe. Um Himmels willen! Na das gibt garantiert Knast.

Ich versuche aus der Situation das Beste herauszuholen und stelle mich besser tot. Nicht dass dem noch einfällt, mich abzustechen. Mein Plan funktioniert, denn mit einem Mal legt er das Messer zur Seite. Was nun kommt, ist allerdings auch nicht besser. Er packt mich am Genick und zerrt mich nach oben.

Die Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen und sehe mich kurz um. Mit etwas Glück sind die Kollegen der Abteilung Freund und Helfer bereits eingetroffen und retten mich hoffentlich aus den Fängen meines Angreifers. Weit gefehlt. Dafür weiß ich auf einmal, woher der Wind weht. Das hier ist gar keine Bank. Ich bin in einem Krankenhaus.

Mama hat mich ganz oft davor gewarnt. ›Niemals in eine Klinik‹, hat sie gesagt.Dort ist alles nur weiß und kahl. Die Wände, der Boden, das Licht, die Kittel. Einfach schrecklich.‹ Und sie hatte recht. Ich bin an einen Ort des Grauens gelangt.

Plötzlich wickelt der seine Wurstfinger um meine Fußgelenke und lässt mich kopfüber nach unten baumeln. Helft mir, will ich schreien, doch dazu komme ich gar nicht. Unvermittelt erfahre ich bisher noch nie erlebte Schmerzen. Ich werde brutal und rücksichtslos verdroschen. Vermutlich haben meine Eltern vergessen, die Krankenversicherung zu zahlen. Zum Glück trete ich noch mal weg und muss diese Demütigung nicht länger über mich ergehen lassen.

Als ich wieder zu mir komme, geht es weiter mit der Tortur. Ein anderer Maskierter schlägt ununterbrochen auf meinen Brustkorb ein. Gleichzeitig drückt der Typ, der danebensteht, so ein Plastikdings auf mein Gesicht. Ich nehme an, es dient allein dazu, um meine Schreie zu unterbinden, falls ich mich dagegen wehre.

Verdammte Hacke. Was habe ich denen getan, dass die mich um die Ecke bringen wollen? Das Einzige, was mir dazu einfällt, ist, weil ich nun alles spitzbekommen habe und ihre Tarnung aufgeflogen ist. Ich glaube, bei Geheimdiensten ist es so üblich, dass sie einen foltern und anschließend abmurksen.

Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Endlich sind die Folterknechte befriedigt und lassen mich in Ruhe. Ich habe Glück, ich lebe noch. Leise heule ich vor mich hin.

Kurz danach wird mir klar, ich habe mich geirrt. Das war doch noch nicht alles. Ich muss in ein Nest geraten sein. Denn ein Nächster mit Maske erscheint, packt mich und wirft mich in eine Schale. Hinter der Tarnkleidung verbirgt sich eine Frau, das höre ich an ihrer Stimme.

»Drei Komma acht Kilo und fünfzig Gramm«, ruft sie. Dann legt sie mir ein Stirnband an, nimmt es aber sofort wieder ab. Findet mich damit wohl nicht hübsch genug. Gleich darauf probiert sie einen neuen Look. Sie versucht das Band von den Zehenspitzen über meinen Kopf zu ziehen, was natürlich nicht funktioniert. So ein Dummerchen.

»Kopf sechsunddreißig, Länge zweiundfünfzig«, brüllt sie dem Schreiberling zu und reicht mich an den nächsten Maskierten weiter.

Ich werde untersucht. Keine Ahnung, was der zu finden glaubt. »Und? Schon mal ’nem nackten Mann in die Tasche gegriffen?«, frage ich kess.

Keine Antwort. Höflich ist der nicht gerade. O nein, jetzt packt er meinen Dumbo bei den Ohren. Ohne zu fragen. Was fällt dem denn ein? Erschrocken überlasse ich meinem Rüssel das Wort und pinkle dem Typ in hohem Bogen auf die Maske.

Ha, na das hat gesessen. Sofort lässt er los und schnappt sich ein Tuch. Damit würgt er Dumbo ab und versteckt ihn schnell darunter.

Den Trick werde ich mir für später merken.

Jetzt nimmt er einzeln nacheinander jeden meiner Füße, jede Hand und beginnt zu zählen.

»Überraschung«, rufe ich. »Es sind immer fünf.«

Hätte ich ihm gleich sagen können. Hab ich schon vor Wochen alles überprüft, aber mit mir will ja dieser unhöfliche Typ nicht reden.

Nachdem sie mich nun genug gedemütigt haben, sperren sie mich in eine durchsichtige Plastikkiste mit winzigen Fenstern. Muss eine Art Gefängnis aus der Neuzeit sein, komplett ohne Gitterstäbe. Die wollen wahrscheinlich sichergehen, dass ich nicht weglaufe. Dabei weiß ich nicht einmal, wie das geht. Ich habe bisher immer nur Purzelbäume geschlagen.

Hier in dem Knast geht die Überwachung weiter. Ich werde an Kopf und Brust verkabelt und meine Hände und Füße werden gefesselt. Zumindest schlingen sie mehrere Drähte drum.

Eins steht fest, später, wenn sie mal nicht hinsehen, dann befreie ich mich.


Am Ende dieses Tages muss ich einsehen, meine Gutgläubigkeit an die Erwachsenen hat sich nun leider als falsch erwiesen. Mit denen ist nicht zu spaßen.

Ich glaube, meine Chancen lagen von Anfang an bei null. Es ist eingetreten, wovor ich mich immer gefürchtet habe. Sie haben mich total rücksichtslos aus meiner Wohnung gezerrt und letztlich ihr Ziel damit erreicht. Im Anschluss bin ich verprügelt, gefoltert, hin- und hergeschubst worden und danach haben sie mich in eine Zelle geworfen. Ich bin also gezwungenermaßen hier angekommen.

Rückblickend muss ich sagen, die ersten Minuten waren meine schlimmste Erfahrung. In der Zeit hatte ich nur einen einzigen Gedanken: Diese Welt ist kalt und grausam. Seither frage ich mich: Wie konnte es passieren, dass ich ausgerechnet hier gelandet bin?