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Always Differently

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Aus der Reihe: Always Differently #1
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07. Dezember, 27 Tage überfällig

Der heutige Morgen begann wie die letzten Tage auch. Katarina war schwanger und von Wehen keine Spur. Was für eine Überraschung.

Seit vier Wochen ging sie jeden Abend mit der Hoffnung zu Bett, dass es endlich in dieser Nacht losgehen würde. Zumindest ein Teil von ihr hoffte das. Aber es passierte nichts. Dabei hatte sie dieses Spielchen so verdammt satt, es zehrte schrecklich an ihren Nerven und schürte ihre Ängste.

Sie sollte Hanni anrufen und ihr Bescheid geben. Andererseits, was nutzte das? Nichts. Schon bei ihrem letzten Treffen war Hanni mit ihrem Latein am Ende gewesen. Katarina überlegte nicht lange, sie entschied sich dagegen.

Irgendetwas musste sie tun, nur was. Klinik? Nein. Das war die allerletzte Option. Vielleicht das Geburtshaus, in dem sie gestern war. Dort hatten sie immerhin einen Doktor für alle Fälle.

Der Gedanke gefiel ihr. Sie griff zum Telefon und schon nach dem ersten Klingeln meldete sich prompt Maria am anderen Ende – dem Zufall sei Dank.

»Hallo, Maria. Ich war gestern eines Ihrer Nadelkissen. Die mit der Angst vor den Dingern.«

»Hallo, Frau Hanselmann-Breuer, ja klar erinnere ich mich.«

Katarina konnte förmlich sehen, wie Maria am anderen Ende grinste.

»Wie geht es Ihnen?«

»Viel zu gut. Leider. Ihr Versprechen hat sich nicht erfüllt. Keine Wehen und noch immer schwanger.«

»Hm. Das höre ich selten«, sagte Maria ernst und klang dabei nachdenklich. »Meistens funktioniert es mit der Akupunktur. Das ist beinah schon eine Garantie. Sie sind jetzt vier Wochen überfällig, und das gefällt mir gar nicht. Ich schlage vor, Sie kommen heute noch mal zu mir und anschließend sprechen Sie mit dem Doktor.«

Wieder durch die ganze Stadt fahren, doch diesmal war das nicht so schlimm. Im Gegenteil, Katarina hatte gehofft, dass Maria genau das sagen würde. Und um ehrlich zu sein, fühlte sie sich mit einem Arzt an ihrer Seite wohler als ganz allein mit Hanni.

Umgehend rief sie Felix an und bereits eine Stunde später waren sie auf dem Weg zum Geburtshaus.

Noch gestern hatte sich Katarina eins geschworen: Nie wieder Akupunktur! Und nun, keine vierundzwanzig Stunden später, saß sie erneut auf der orangefarbenen Matte mit dem orangefarbenen Kissen und mimte ein Nadelkissen. Das Gute daran, sie hatte dieses Mal schon vorher gewusst, was auf sie zukommen würde. Ihr einziger Trost war der hundertprozentige Erfolg bei solch einer zweiten Prozedur. Das wollte ihr Maria sogar schriftlich geben. Aber so kühn war sie dann doch nicht und hatte zu ihrem Glück die Finger davongelassen. Derartige Versprechungen hatte Katarina in der letzten Zeit schon öfter in Rauch aufgehen sehen.

Geschafft. Dreißig quälende Minuten waren überstanden und die Folter hatte Gott sei Dank ein Ende. Als Nächstes kam das CTG an die Reihe. Langwierig, aber wenigstens schmerzfrei. Auch das brachte sie hinter sich. Danach war es so weit. Endlich. Sie hatte ihr Gespräch mit Dr. Sorge. Nur er entschied darüber, ob sie hier entbinden durfte.

Derzeit saß sie neben Felix im Besprechungsraum und wartete darauf, wie Dr. Sorge entscheiden würde.

»Nun, die Herztöne ihres Kindes sind erschreckend schwach und ziemlich unregelmäßig, die Wehentätigkeit ist gleich null.«

Scheiße, dachte Katarina und schaute beklommen zu Felix.

»Ich sehe keinerlei Anzeichen für eine natürlich bevorstehende Entbindung. Das heißt unterm Strich, der Geburtsvorgang darf nicht länger warten, sondern muss schnellstens eingeleitet werden.«

Das war ein Schlag in die Magengrube. Doch was in Gottes Namen hatte sie sich gedacht, wie lange das so weitergehen sollte? Nichts hatte sie gedacht. Sie hatte die Verantwortung einfach abgegeben und komplett in andere Hände gelegt. In Hände, die normalerweise wissen sollten, was zu tun war. Und das wussten sie auch, jedenfalls Dr. Fleischer und Dr. Sorge. Nur hatte Katarina davon nichts hören wollen und sich die Ohren zugehalten. Bis jetzt.

»Also gut«, sagte Katarina.

Wie auch sonst hätte sie sich anders dazu äußern sollen. Ganze vier Wochen über dem Termin, das war nicht normal. Das wusste sie inzwischen selbst. Und Dr. Sorge war der Einzige, der noch auf ihrer Seite war und sie nicht wegschickte. Sie war dankbar, hier zu sein. Klar, in diesem Geburtshaus war es lange nicht so gemütlich wie bei Hanni, zu der sie mittlerweile jegliches Vertrauen über Bord geworfen hatte, aber allemal besser als eine Klinik.

»Wie genau läuft das denn ab mit der Einleitung und wann, welchen Tag wollen Sie das machen?«

Doktor Sorge sah Katarina eine ganze Weile an, ehe er antwortete.

»Frau Hanselmann-Breuer.«

Wenn er schon so anfängt, kann das nichts Gutes bedeuten.

»Ich befürchte, Sie haben mich missverstanden. Sie sind den zweiten Tag bei mir und ganze vier Wochen über dem Termin. Ich sagte Ihnen gestern bereits, zwei Wochen drüber sind das Maximum. Zudem wäre bei der Dauer Ihrer Übertragung eine ununterbrochene Beobachtung in einer Klinik notwendig gewesen beziehungsweise hätte die Geburt längst eingeleitet werden müssen.«

Boah, nicht schon wieder. Katarina hätte am liebsten die Augen verdreht. Prinzipiell wusste sie das alles und selbstverständlich war es nicht von der Hand zu weisen, was der Doktor sagte. Und trotzdem, sie wollte das nicht hören, sondern einfach nur, dass er sich um sie kümmerte. Sie hatte doch gerade einer Einleitung zugestimmt, warum musste er sie jetzt noch belehren. Schließlich konnte sie die Zeit schlecht zurückdrehen.

»Über den Verlauf Ihrer bisherigen Schwangerschaft weiß ich rein gar nichts, nur das, was in Ihrem Mutterpass steht. Sie bei mir jetzt noch aufzunehmen, wäre blanker Wahnsinn. Ich sage Ihnen das ganz offen, das Risiko ist mir schlichtweg zu hoch. Sie sollten noch heute in eine Klinik. Das heißt, sofort im Anschluss an unser Gespräch.«

Damit hatte Katarina nicht gerechnet. Das war ein Schock und ihr wurde übel. Zum Glück hatte sie noch nichts gegessen, sonst müsste sie sich womöglich übergeben. Sie war so töricht und hatte das Unausweichliche nicht kommen sehen. Nun war es so weit. Nicht links, nicht rechts, nur noch geradewegs in eine Klinik. Das hatte sie jetzt davon. Dabei war es doch gar nicht ihre Schuld. Sie wurde immer nur von einem zum anderen geschubst und jeder sagte etwas anderes, das richtig wäre. Und sie durfte das nun ausbaden. Was für eine ausgemachte Scheiße.

Für einen Moment überlegte sie, ob sie heulen und vielleicht ein theaterreifes Drama aufführen sollte, ließ es dann aber sein. Ihr war klar, dass er seine Meinung auch dadurch nicht ändern würde. Er war Arzt und entschied rein aus medizinischer Sicht.

Katarina atmete einmal tief durch. »Ich glaube, das muss ich erst verdauen. Ein Krankenhaus ist der letzte Ort, wo ich hinwollte. Tja, da bleibt mir wohl nichts anderes mehr übrig.«

»Tut mir leid, aber so ist es.«

»Okay. Dann fahre ich jetzt nach Hause, packe meine Sachen und morgen gehe ich in die Klinik.«

»Sie sind stur. Wenn Sie schon nicht heute in die Klinik gehen, dann wenigstens morgen ganz früh. Nicht erst am Abend. Auch nicht zu Mittag, sondern gleich früh. Versprechen Sie mir das?«

»Ja, versprochen. Das werde ich.«


08. Dezember, 28 Tage überfällig

Katarinas und Felix’ kleiner Schatz hatte die Geburt heute auf den Tag genau um vier Wochen verbummelt. Und wie es beide schon vorhergesehen hatten, löste sich Marias Versprechen in Rauch auf. Denn auch die zweite Akupunktur hatte nichts gebracht.

In ein paar Minuten würden sie in Richtung Krankenhaus aufbrechen. Es gab niemanden mehr, der Katarina jetzt noch betreuen wollte. Die vergangenen Wochen waren Nervenstress pur. Sie musste dieses ganze Chaos endlich hinter sich bringen.

Mit der Klinik hatte sie sich indessen abgefunden. Zumindest ergab sich noch nicht die Gelegenheit, näher darüber nachzudenken. Sie war von Dr. Sorges Abweisung noch immer geschockt.

An diesem Morgen fühlte sich Katarina hundeelend, und das lag allein an ihrer Angst. Angst vor dem Krankenhaus, Angst vor der Entbindung. Sie hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was auf sie zukommen würde. Das alles kannte sie bisher nur aus Film und Fernsehen. Doch was sagte das schon aus. Viel jedenfalls nicht. Dabei zuzusehen oder darüber zu lesen, war eine Sache, aber selbst an dieser Stelle zu stehen (oder eher zu liegen), war etwas ganz anderes. Die Realität war immer ernüchternd.

»Ich auf keinen Fall!«, rief Katarina, als sie Felix das Frühstück zubereiten sah.

Sie wollte, dass ihr Darm möglichst leer war, darum hatte sie schon gestern fast nur getrunken, anstatt zu essen. Wahrscheinlich würde sie heute entbinden. Im Film riefen sie immer: ›Und jetzt pressen!‹ Was dabei außer dem Baby noch so alles unten rauskam, zeigten sie nicht. Außerdem hatte sie vor dem Einlauf genauso Schiss. Deshalb aß sie lieber etwas weniger. Vielleicht kam sie auf die Art drumherum. Doch all das konnte Felix nicht wissen, sie sprach nicht mit ihm darüber.

Felix saß am Steuer und Katarina mit ihrer gepackten Tasche neben ihm. Trotz ihrer Angst fühlte sie so etwas wie Erleichterung. Bald würde alles vorbei sein und ihr Baby hoffentlich wohlauf.

Seit einigen Tagen schon machte sich ihr kleiner Schatz nur noch selten bemerkbar. Höchstens mal ein sanfter, kaum spürbarer Tritt, der lediglich wie eine Luftblase kitzelte. Doch heute spürte sie gar keine Bewegung. Nur Totenstille, da war absolut nichts.

 

Vorgestern war das CTG noch in Ordnung gewesen. Und gestern hatte Dr. Sorge die Entbindung in seinem Haus abgelehnt. Sie war derart durcheinander, dass sie erst jetzt realisierte, was er noch gesagt hatte.

Die Herztöne ihres Kindes sind erschreckend schwach und unregelmäßig. Das kann sich stündlich verschlechtern.‹

Wie ein rotes Warnzeichen leuchteten seine Worte jetzt vor ihr auf. Ja, so musste es sein. Warum sonst spürte sie ihr Baby plötzlich nicht mehr? Dieser Gedanke machte Katarina verrückt. Ihre Angst wurde mit jeder Minute größer. Und mit einem Mal war es okay mit dem Krankenhaus. Egal, wo sie ihr Baby bekam, sie wollte sich einfach nur in guten Händen wissen.

Sie dachte an Hanni. Die meinte, das Baby hätte keinen Platz mehr im Bauch, würde viel schlafen und wäre faul. Deshalb würde Katarina kaum Bewegung spüren. Mit dem Platz, das klang logisch und sie hoffte inständig, dass Hanni recht behielt.

»Bevor wir in die Klinik fahren, könnten wir noch mal schnell essen gehen. Was meinst du?«, sagte Felix und riss Katarina damit aus ihren Gedanken. »Diesen kleinen Luxus werden wir in nächster Zeit nicht mehr so schnell in Ruhe genießen können.«

Das klang verdammt gut. Doch Katarina war unruhig. Zu besorgt um ihr Baby. Sie brauchte Gewissheit und wollte im Augenblick nur in dieses Krankenhaus. Und zwar jetzt.

»Nein. Ich habe kein gutes Gefühl dabei.« Ihre innere Stimme gratulierte ihr leise zu dieser Entscheidung. »Ich will es hinter mich bringen.«

Felix wollte sie beruhigen und drückte ihre Hand. Er spürte, wie die Aufregung in ihr tobte. Und dafür war sie ihm dankbar. Auch wenn er ihr diese Last nicht abnehmen konnte, war es gut zu wissen, dass er ihr beistand. Sie fühlte sich so hilflos. Noch niemals im Leben war sie in einer derart ausweglosen Situation.

Nur Minuten später fuhr Felix auf den Parkplatz. Schweigend stiegen beide aus. Zu sagen gab es jetzt nichts mehr. Er nahm das Gepäck, dann gingen sie gemeinsam auf das riesige Gebäude zu.

Katarina blieb für einen Moment stehen. Die Klinik wirkte auf sie mächtig und respekteinflößend.

Keine Angst, mein kleiner Schatz, dort wissen sie ganz sicher, was zu tun ist. »Na dann mal los«, sagte sie bestimmt, fühlte sich jedoch ganz und gar nicht so.

Die schwere Tür fiel hinter ihnen krachend ins Schloss. Erschrocken drehte sich Katarina um. Der Haupteingang war das sicherlich nicht, doch das war den beiden egal. Die Klinik hatte viele Eingänge und ob sie nun durch eine moderne Drehtür gingen oder durch die Hintertür kamen, wen juckte das schon.

Drinnen war es ziemlich düster. Sie waren in einem fensterlosen Treppenhaus gelandet und Katarina kam sich plötzlich vor wie eine Gefangene, was natürlich Unsinn war. Dennoch verglich sie diesen Ort unweigerlich mit einem Gefängnis oder einer Art Anstalt. Und das machte ihre Situation nicht gerade besser.

Sie schleppte sich schnaufend zwei ganze Etagen nach oben. Dann endlich, sie war bei der Entbindungsstation angelangt. Weitere Stufen hätte sie ohne Sauerstoffgerät sicher nicht geschafft.

Sie ging mit Felix bis zur Anmeldung. Dort blieben sie stehen. Hinter dem Tresen saß eine weißhaarige Schwester. Fragend blickte sie zu ihnen auf.

»Ähm, guten Tag«, sagte Katarina, nachdem sie ihre Atmung wieder so einigermaßen im Griff hatte. »Mein Name ist Katarina Hanselmann-Breuer. Ich komme zur Entbindung.«

Von der Schwester erntete sie einen strengen Blick, aber keine Antwort.

Na prima. »Ich habe heute Morgen hier bei Ihnen angerufen. Mir wurde gesagt, dass ich einfach so herkommen kann.«

»Bei mir hat niemand angerufen«, antwortete sie gereizt.

Na hoppla, was ist das denn? Freundlich ist die ja nicht gerade. Katarina hätte am liebsten sofort kehrtgemacht, aber das ließ die Sorge um ihr Baby nicht zu.

»Na ja, ich habe nicht Sie persönlich gemeint, sondern das Krankenhaus.«

»Dann sagen Sie es doch so, wie Sie es meinen, und stehlen Sie mir nicht unnütz meine Zeit. Wir haben hier mehr als nur einen Patienten.«

Der Blick der Schwester wechselte von ernst zu grimmig. Dieses Verhalten erinnerte Katarina an eine Geschichte, die ihr die Hebamme Hanni erst kürzlich erzählt hatte.

Zu der Zeit, als sie selbst noch jung war, so berichtete Hanni, verhielten sich Ärzte und Hebammen noch sehr respektlos. Damals war es normal, dass werdende Mütter im Kreißsaal angebrüllt wurden.

›Stellen Sie sich nicht so an!‹

In manchen Kliniken stand ein Bett neben dem anderen, nur durch eine Wand aus Stoff voneinander getrennt. Jedes war von einer Schwangeren belegt, die in den Wehen lag. Für freundliche Worte gab es keine Zeit. Dafür hieß es: ›Unterlassen Sie das Geschrei. Stecken Sie Ihre Kraft lieber ins Pressen.‹

Hanni hatte auch von einem Arzt gehört, der einer Gebärenden mit Anlauf auf den Bauch gesprungen sein sollte und ihr so das Kind aus dem Leib gepresst hatte. Und das war damals wohl kein Einzelfall.

Nach der Geburt wurden die Babys weggebracht. Die Mütter sollten Ruhe haben. Sie durften ihr Kind nur zum Stillen sehen. War die ein oder andere nicht in der Lage dazu, dann sah sie ihr Kleines erst am Tag der Entlassung aus der Klinik wieder.

Obwohl die Geschichte viele Jahre her war, fand Katarina sie schrecklich, denn sie war nicht erfunden. Und genau jetzt, da sie vor dieser genervten Schwester stand, musste sie wieder daran denken.

Zu jener Zeit stand Hanni selbst kurz vor der Entbindung. Im selben Krankenhaus, in dem Katarina nun war. Ihre Hebamme hieß Schwester Else. Und sie war nicht irgendeine. Sie hatte einen Ruf, und der eilte ihr voraus. Viele meinten, sie hätte als Oberfeldwebel eine wesentlich bessere Figur abgegeben. Sie war eine von denen, die die Seiten von Hannis Geschichte füllte.

Als sie es vor Schmerzen kaum noch aushielt, kam Schwester Else und zischte Hanni zu: ›Seit Jahrhunderten bringen Frauen Kinder auf die Welt. Eine ganz normale Einrichtung der Natur. Also kein Grund zum Jammern. Sie werden es schon überleben. Sie hätten sich das Ganze überlegen sollen, bevor Sie mit ’nem Mann ins Bett gestiegen sind.‹

Das war sehr lange her, doch Schwester Else sollte es noch immer in dieser Klinik geben.

»Also was ist nun«, fragte die Schwester hinter dem Tresen. »Sind Sie hier angemeldet oder nicht?«

»Nein. Aber ich habe heute früh hier angerufen.«

»Ja, das sagten Sie bereits.«

»Ich kann doch hier entbinden, oder nicht?« Was soll das eigentlich. Sitzt diese Hexe in der Aufnahme, um Patienten abzuwimmeln?

Die Schwester stand auf und wandte sich ab. Unter ihrem Tresen holte sie einen Ordner hervor und blätterte darin. Sie ignorierte Katarina einfach.

Was für eine Unverschämtheit. So eine blöde Kuh.

Felix schüttelte nur mit dem Kopf. Zum Glück war das hier nur die Anmeldung. Er wollte sich über so viel Engstirnigkeit nicht aufregen, das lohnte sich nicht. Diese Frau war schlicht verbiestert und konnte sich wahrscheinlich selbst nicht leiden.

Die Schwester hatte sie wohl doch nicht vergessen. Mit Papieren in der Hand kam sie wieder zurück.

»Sie haben sich nicht angemeldet. Das hier ist ein Aufnahmebogen. Den fülle ich jetzt gemeinsam mit Ihnen aus. Kommen Sie mit.«

Sie kam um ihren Tresen herum und ging wortlos an den beiden vorbei. Ein paar Meter weiter blieb sie stehen und drehte sich um. »Ja, was ist«, rief sie.

Felix nahm Katarinas Tasche, dann folgten sie der Schwester bis zu einem Raum im nächsten Gang.

»Hier können Sie sich hinsetzen.«

»Wie geht es denn jetzt weiter«, fragte Katarina.

Die Schwester achtete gar nicht auf ihre Frage. Sie schloss die Tür, setzte sich an den winzigen Schreibtisch und nahm die Papiere und einen Stift zur Hand.

»Regel Nummer eins« Dabei klopfte sie unablässig mit dem Stift auf den Tisch, um so jedes einzelne ihrer Worte zu verdeutlichen. »Noch bevor eine Aufnahme in unsere Klinik überhaupt erfolgen kann, muss als Allererstes dieses Formular ausgefüllt werden. Das ist das Wichtigste. Es hat absoluten Vorrang vor jeglicher Behandlung.«

Katarina nahm ihren Mut zusammen und sprach die Schwester an, vielmehr diesen Drachen, obwohl sie sich so ziemlich eingeschüchtert fühlte.

»Zu Ihrer Priorität möchte ich gern etwas sagen«, begann sie. »Ich bin weit über dem errechneten Termin. Um genau zu sein, vier Wochen auf den heutigen Tag. Mein Arzt wollte, dass ich schon gestern hierherkomme. Er sagte, die Geburt muss schnellstens eingeleitet werden, weil die Herztöne unregelmäßig und schwach sind.«

»Gut. Im Anschluss, wenn wir hiermit fertig sind. Alles zu seiner Zeit.«

Das kann doch wohl nicht wahr sein. »Seit heute Morgen spüre ich mein Kind nicht mehr.«

Katarina sprach wirklich sehr ruhig und höflich, bis eben. Aber nun konnte sie ihre Stimme nicht mehr länger im Zaum halten und bekam einen Anflug von Hysterie.

»Da stimmt was nicht!«, kreischte sie und schlug mit den Händen auf den Tisch.

»Frau Hanselmann-Breuer, haben Sie mir gerade nicht zugehört?« Auch der Ton der Schwester wurde schärfer. »In unserer Klinik gibt es Richtlinien. Wenn jeder machen würde, wie er denkt, hätten wir hier das reinste Chaos. Und damit es dazu nicht erst kommt, gibt es den Aufnahmebogen, und der steht an oberster Stelle. Falls Ihnen das missfällt, dürfen Sie auch gern gehen.«

Katarina und Felix verschlug es die Sprache. Ihr erster Gedanke war aufstehen, gehen, Tür zuknallen. Das wäre das einzig Richtige, nur leider keine Option.

»Gut, wenn das so weit geklärt ist, dann fangen wir jetzt an.«

Frage für Frage, so arbeitete sie exakt die kompletten Papiere durch. Ihr Ton war recht schroff, wie auch sonst. Doch möglicherweise lag dieses Benehmen in ihrer Natur, dann konnte sie nicht anders. Eigentlich war sie echt zu bemitleiden.

Nein, die bemitleide ich ganz sicher nicht, dachte Katarina zornig. So eine Hexe sollte nicht auf Menschen losgelassen werden, schon gar nicht in einem Krankenhaus. Die gehört weg vom Fenster.

Letzte Seite, letzte Frage. Geschafft. Und jetzt nichts wie weg von der Alten.

»Während der Entbindung werde ich Ihre betreuende Hebamme sein.«

O mein Gott. Nichts wie weg war soeben gestorben. Der Schreck jagte durch Katarinas Körper, als stünde wie aus dem Nichts die Schwiegermutter vor ihr und spielte zur Begrüßung Haydns Paukenschlag. Die Worte nahmen ihr die Luft. Sie wollte schreien, heulen, sich übergeben, vielleicht auch alles zusammen. Damit hatten sie und Felix nicht mal ansatzweise gerechnet. Das war wie ein Fausthieb, Punktlandung Gesicht. Der Plan war, den Aufnahmebogen hinter sich zu bringen und diese Hexe schnellstens loszuwerden. Und nun das!

Die Schwester stand auf und ging zur Tür. »Wir gehen nach nebenan.«

»Was sollen wir denn jetzt machen, Felix?«, flüsterte Katarina.

»Abwarten, das wird schon«, flüsterte er zurück.

Im Nebenraum standen verschiedene Monitore, Apparate und andere Gerätschaften.

»Setzen Sie sich auf diesen Stuhl hier«, sagte die Schwester zu Katarina.

Sie legte ihr einen Gurt mit zwei Knöpfen um und startete das CTG-Gerät. Gut so. Endlich ging es vorwärts. Das beruhigte Katarina etwas. Der Drucker ratterte los und die Schwester verließ ohne ein Wort den Raum.

»Ich hoffe, dass wir mit der nicht die ganze Zeit allein bleiben«, sagte Felix.

»Es kommt noch viel schlimmer. Mit der haben wir voll in die Scheiße gegriffen. Ich sage dir mal was.« Katarina blickte kurz über ihre Schulter zur Tür, dann sprach sie weiter. Sie erzählte ihm Hannis Geschichte. »Und jetzt kommt’s. Hast du mal auf ihr Namensschild geschaut? Die heißt nicht nur zufällig genauso. Das ist diese Schwester Else.«

Felix fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.

»Das schockiert mich jetzt. Aber vielleicht kannst du ihr die Boshaftigkeit heimzahlen. Manchmal werden doch die Frauen durch die Schmerzen handgreiflich zu ihren Männern. Du könntest ihr ordentlich eine knallen und dich später entschuldigen. Aufgrund der Schmerzen wusstest du nicht, was du tust.«

Beide prusteten los. »Schöne Vorstellung. Das wäre mir tatsächlich ein Bedürfnis. Ich überleg’s mir.«

Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte Schwester Else wieder auf. Sie ging zum Drucker und sah auf die Papierrolle. Dann schüttelte sie mit dem Kopf.

 

»Hm, das CTG ist pathologisch.« Kurz und trocken, sie schaute dabei nicht einmal auf.

Entgeistert starrte Katarina zu Felix. Hatte sie das eben richtig verstanden?

Schwester Else drehte sich um und rüttelte unverhofft an Katarinas Bauch. Sie erschrak, kannte das aber bereits. Zum Glück, denn eine Erklärung seitens der Schwester kam natürlich nicht. Katarina hatte das in Dr. Fleischers Praxis schon einmal erlebt. Vielleicht schlief ihr Baby auch diesmal nur, hoffentlich.

Schwester Else sah erneut auf den Ausdruck und rüttelte noch einmal. Anschließend setzte sie sich an den Tisch und blätterte in Katarinas Anmeldeformular, in aller Ruhe. Womöglich fehlte noch irgendwo ein Punkt oder ein Komma, schließlich hatte dieses Scheißformular Vorrang. Die blöde Hexe verlor kein einziges Wort über das CTG. Warum nicht? Sie musste doch wissen, wie sehr sie damit Felix und Katarina verunsicherte.

Das Herz schlug Katarina bis zum Hals und in ihren Ohren summte ein ätzender Ton. Pathologisches CTG, was sollte das heißen?

»Was«, setzte Katarina an, doch der Ton blieb ihr im Hals stecken. Sie fühlte sich wie gelähmt vor Angst. Sie räusperte sich und begann dann noch einmal klarer und lauter. »Was«, sagte sie.

Im selben Moment stand Schwester Else auf und verließ wieder einmal den Raum.

»Um Himmels willen, Felix, hast du das gehört?«

»Ja, sicher.«

»Was soll das bedeuten? Warum sagt sie das und erklärt nichts dazu? Um warum verdammt noch mal macht sie erst diese Scheißpapiere und lässt uns dann auch noch alleine?« Jetzt wurde Katarina tatsächlich hysterisch.

»Ich weiß es doch auch nicht, aber ich bin sicher, sie holt Hilfe.«

Pathologisch, das klang eindeutig nach Tod. War ihr kleiner Schatz etwa bereits tot? Das durfte nicht sein. Nein! Bitte nicht.

»Wann kommt diese dämliche Schwester endlich zurück«, rief Katarina. »Ist die jetzt vielleicht Kaffee trinken? Ist ja nicht ihr Baby, das stirbt.«

Es ging um Sekunden. Von Schwester Else weit und breit keine Spur.

»Ich hole jemanden.«

Felix sprang auf und lief zur Tür. Dabei prallte er fast mit einem jungen Mann im Arztkittel zusammen.

»Wow, immer mit der Ruhe«, rief er.

Felix ging nicht darauf ein. »Sind Sie Arzt?«, herrschte er den Mann im weißen Kittel an.

»Ich bin Dr. Pfeiffer, Frauenarzt dieser Station.«

»Na endlich. Ein bisschen schneller wäre auch nicht schlecht gewesen.«

Dr. Pfeiffer war sichtlich irritiert. »Darf ich erfahren, wovon Sie sprechen?«

»Schwester Else, hat die Sie nicht geschickt?«

»Nein. Ich wollte hier nur rasch etwas holen.«

Felix war aufgebracht und der Doktor ahnte, dass etwas nicht stimmte. Er ging zu Katarina. »Wie geht es Ihnen? In welchen Abständen kommen die Wehen«, fragte er sie. Dabei warf er einen Blick auf das CTG.

»Ich bin hier, weil die Wehen gar nicht kommen. Ich bin genau vier Wochen drüber.«

»Du meine Güte. Seit wann sind Sie hier?«

»Seit heute Morgen.«

»Darüber wurde ich nicht informiert. Sie werden von Schwester Else betreut?«

»Ja. Aber sie erklärt uns rein gar nichts. Ich weiß nicht mal, wie das hier für mich ablaufen soll. Wir sind die ganze Zeit allein in diesem Raum.«

»Hat sie gesagt, wo sie hingeht?«

»Nein. Und es ist jetzt eine Ewigkeit her, dass sie hier im Zimmer war, und das auch nur ganz kurz. Sie hat sich das CTG geschaut und dazugesagt, es sei pathologisch. Kein Wort der Erklärung. Dann hat sie mal eben in diesem verdammt wichtigen Anmeldeformular geblättert, das ihrer Aussage nach zweifellos vor jeder Behandlung Vorrang hat. Und bevor ich fragen konnte, verschwand sie einfach wieder.«

Katarina ließ nichts aus. Sie erzählte Dr. Pfeiffer, dass sie erst das Formular ausfüllen mussten, andernfalls sollten sie wieder gehen.

»Ich habe ihr auch gesagt, dass mich Dr. Sorge gestern schon bedrängt hat, hierher zu kommen, weil die Herztöne meines Babys total schlecht waren. Das hat sie alles nicht interessiert.«

»Das klingt nicht gut, was sie sagen. Da wird sich Schwester Else erklären müssen. Doch jetzt sind erst einmal Sie und Ihr Baby wichtig.« Dr. Pfeiffer wirkte inzwischen angespannt. Er legte den Papierstreifen zur Seite. »Leider muss ich bestätigen, was die Schwester gesagt hat. Das CTG ist pathologisch. Die Kurve zeigt keinerlei Herzschläge an.«

Schwester Else kam zurück ins Zimmer.

»Wo waren Sie die ganze Zeit.« Dr. Pfeiffers Tonfall war alles andere als freundlich.

»Na, Sie werden entschuldigen, Dr. Pfeiffer«, blaffte die Schwester zurück, »aber der Papierkram macht sich nicht von allein.«

»Eins kann ich Ihnen versprechen, für Sie hat das ein Nachspiel.« Ohne ein weiteres Wort rannte er an ihr vorbei, riss die Tür auf und verschwand.

»Was nun? Jetzt ist der auch ohne Erklärung weg.« Katarina sah ungläubig zu Felix.

Er sprang auf und rannte eilig zur Tür, um Hilfe zu holen. Es konnte nicht sein, dass ihr Baby einfach so abgeschrieben wurde. Erst brachte sie diese verbitterte alte Hexe um kostbare Zeit und nun ließ sie auch noch Dr. Pfeiffer im Stich. In was für einem Affenstall waren sie hier eigentlich?

Die Tür flog auf. Diesmal lief Felix dem Doktor tatsächlich in die Arme. Denn im selben Moment kam er mit einem Gefolge in weißen Kitteln und einer fahrbaren Liege herein. Ungeachtet schob er Felix zur Seite.

»Und Sie, Schwester Else, werden hier nicht mehr gebraucht«, sagte er bestimmt.

Jep. Beleidigt verließ sie den Raum. Genau das hatte dieser Drachen verdient.

Katarina befand sich plötzlich mitten in einem heillosen Durcheinander. Jedenfalls empfand sie es so. Die Lage war ernst, doch das wusste sie ohnehin.

Was passiert hier? Was ist mit meinem Baby? Lebt es? Ist es tot? Was wird denn jetzt? Warum sagt mir keiner was!

Ihr Schädel brummte von den unzähligen Fragen, die darin herumschwirrten. Aber sie brachte kein Wort heraus. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie stand nur da und zitterte vor Angst. Währenddessen drehte ihr Gehirn voll auf und tanzte wie wild Polka. Dabei rutschte ihr Kreislauf in den Keller.

»He! Kommen Sie, machen Sie mir nicht schlapp.« Eine Schwester packte Katarina am Arm. »Sie müssen sich ausziehen und hier drauflegen.« Sie klopfte mit der Hand auf die Pritsche. »Das muss schnell gehen. Schaffen Sie das?«

Katarina nickte. Unter Mithilfe der Schwester zog sie sich aus und hievte sich auf die Liege. Sie war angespannt, nervös und ängstlich. Im Augenblick spürte sie nicht einmal ihren Ischiasnerv, obwohl er sich heftig um Aufmerksamkeit bemühte.

Felix stand an der Wand, unfähig etwas zu sagen. Tun konnte er sowieso nichts. Katarina war jetzt zum Glück in guten Händen. Doch genau wie sie bangte er um ihr gemeinsames Baby.

»Das machen Sie prima«, sagte die Schwester. »Es wird alles gutgehen.«

Sie wollte Katarina beruhigen. Sie durfte nicht zusammenklappen, ihr Kreislauf musste stabil bleiben. Katarina griff nach diesem Strohhalm und klammerte sich daran. Sie schaute zu Dr. Pfeiffer und den anderen in ihren weißen Kitteln, wahrscheinlich auch Ärzte. Dabei schnappte sie Gesprächsfetzen auf, wie Kaiserschnitt und keine Zeit für Vorbereitung. Alles ging rasend schnell. Katarina lag jetzt im OP-Hemd auf der Liege und wurde schon in der nächsten Minute hinausgeschoben.

Der arme Felix. Er blieb ganz allein in dem Raum zurück. Er wusste weder etwas über sein Baby noch was mit Katarina geschah. Niemand hatte ihn zur Kenntnis genommen. Dafür war nicht die Zeit.

Katarina war auf dem Weg in den OP.

»Ich bin Dr. Hauser«, sagte der Mann, der neben ihr herlief, »der Chefarzt in diesem Haus. Ich werde Sie operieren.«

Sie riss erschrocken die Augen auf. Der ganze Wirbel von eben reichte schon. Zudem befand sie sich gerade in einem Krankenhaus, wo sie normalerweise niemals hinwollte. Und nun sollte sie auch noch operiert werden. Versuchten die hier das ganze verpasste Programm der letzten fünfunddreißig Jahre auf einmal nachzuholen? Natürlich hatte sie das grässliche Wort Kaiserschnitt mitbekommen, aber mussten die daraus gleich eine Operation machen? Das war jetzt doch ein wenig schockierend.