Die dunkle Blume

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Die dunkle Blume
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John Galsworthy







Die dunkle Blume






Inhaltsverzeichnis





Die dunkle Blume







Erster Teil. Frühling






      Erstes Kapitel






Zweites Kapitel







Drittes Kapitel







Viertes Kapitel







Fünftes Kapitel







Sechstes Kapitel







Siebentes Kapitel







Achtes Kapitel







Neuntes Kapitel







Zehntes Kapitel







Elftes Kapitel







Zwölftes Kapitel







Dreizehntes Kapitel







Vierzehntes Kapitel







Fünfzehntes Kapitel







Sechzehntes Kapitel







Siebzehntes Kapitel







Zweiter Teil. Sommer






      Erstes Kapitel






Zweites Kapitel







Drittes Kapitel







Viertes Kapitel







Fünftes Kapitel







Sechstes Kapitel







Siebentes Kapitel







Achtes Kapitel







Neuntes Kapitel







Zehntes Kapitel







Elftes Kapitel







Zwölftes Kapitel







Dreizehntes Kapitel







Vierzehntes Kapitel







Fünfzehntes Kapitel







Sechzehntes Kapitel







Siebzehntes Kapitel







Achtzehntes Kapitel







Neunzehntes Kapitel







Zwanzigstes Kapitel







Einundzwanzigstes Kapitel







Dritter Teil. Herbst






      Erstes Kapitel






Zweites Kapitel







Drittes Kapitel







Viertes Kapitel







Fünftes Kapitel







Sechstes Kapitel







Siebentes Kapitel







Achtes Kapitel







Neuntes Kapitel







Zehntes Kapitel







Elftes Kapitel







Zwölftes Kapitel







Dreizehntes Kapitel







Vierzehntes Kapitel







Fünfzehntes Kapitel







Impressum








John Galsworthy





Die dunkle Blume




Roman





»Nimm vom Busen mir die Blume,

 bitte, nimm die Blume auch aus meinem Haare,

 dann geh fort von hinnen;

 denn die Nacht ist schön,

 und die Sterne freuen sich,

 den Weg mit dir zu gehn.«



›Der Rhapsode vom Dimbowitztal‹










Erster Teil.

 Frühling

Erstes Kapitel



An einem Nachmittag, anfangs Juni, ging er die Holywell-Straße entlang; auf seinem dichten, dunklen Haar trug er keine Mütze, und sein kurzes, talarartiges Gewand hing lose über die Arme herab. Ein Junge von mittlerer Größe und einer Gestalt, als stamme er von zwei grundverschiedenen Geschlechtern ab, das eine robust, das andere leicht und sehnig. Auch sein Gesicht zeigte eine seltsame Mischung, denn trotz der energischen Züge war sein Ausdruck sanft und nachdenklich. Seine dunkelgrauen, leuchtenden Augen mit den tief schwarzen Wimpern schienen über das, was sie sahen, hinwegzublicken, so daß es einem manchmal vorkam, als weile er ganz woanders; sein flüchtiges, lebhaftes Lächeln zeigte Zähne, die so weiß wie die eines Negers waren, und verlieh seinem Gesicht einen eigentümlichen Ausdruck steter Erwartung. Die Leute starrten ihn ein wenig an, als er vorbeiging, denn im Jahre 1880 war er seiner Zeit schon dadurch voraus, daß er keine Mütze trug. Besonders die Frauen interessierten sich für ihn; sie merkten, daß er ihnen keine Beachtung schenkte, sondern in die Ferne zu blicken und seinen Gedanken nachzuhängen schien.



Verstand er eigentlich, was er dachte, verstand er damals überhaupt etwas, da alles, was über seinen unmittelbaren Horizont hinausging, ihm so merkwürdig und interessant vorkam? Wußte er auch, was er zu sehen und zu tun gedachte, nachdem er sein Studium in Oxford beendet hatte, wo jedermann so ›furchtbar nett‹ zu ihm war und so ›ganz wie sich's gehörte‹, aber nicht gerade sehr interessant?



Er war auf dem Wege zu seinem Professor, um ihm einen Aufsatz über Oliver Cromwell vorzulesen. Unter der alten Mauer, die einst die Stadt umschlossen hatte, zog er ein Tier aus der Tasche. Es war eine kleine Schildkröte; in ihre Betrachtung  ganz versunken, verfolgte er die forschenden Bewegungen ihres kleinen Kopfes und befühlte sie die ganze Zeit über mit seinen kurzen, breiten Fingern, als hätte er ganz genau herausfinden wollen, wie sie beschaffen war. Was für einen mächtig harten Rücken sie doch hatte! Kein Wunder, daß dem armen alten Äschylus ein bißchen übel wurde, als sie ihm auf den Kopf fiel! Die Alten dachten, die Welt werde von einer Schildkröte getragen, eine Welt voll Götzen, vielleicht Menschen, Tieren oder Bäumen, wie jenes Schnitzwerk an dem chinesischen Schrank seines Vormundes. Die Chinesen schufen merkwürdig komische Tiere und Bäume, als stellten sie sich alle Dinge beseelt vor und nicht nur gerade dazu geschaffen, daß die Menschen sie essen, Wagen ziehen lassen oder Häuser damit bauen. Wenn die Kunstschule ihn nur nach seinem eigenen Kopf modellieren, anstatt immer und ewig nur kopieren ließe! Es sah geradeso aus, als ob man's dort für gefährlich hielte, einen irgend etwas selbst ausdenken zu lassen.



Er hielt die Schildkröte gegen seine Weste und ließ sie krabbeln, doch als er merkte, daß sie die Ecke seines Aufsatzes benagte, steckte er sie wieder in die Tasche. Was würde sein Professor tun, wenn er wüßte, was er da bei sich trug? Den Kopf ein wenig auf die Seite legen und sagen: »Ah, Lennan, es gibt Dinge, von denen sich meine Schulweisheit nichts träumen läßt.« Ja, es gab gar manches, wovon sich der alte Stormer nichts träumen ließ, Stormer, der sich so schrecklich vor allem Ungewöhnlichen zu fürchten, der stets über einen zu lachen schien, aus Angst, man könnte über ihn lachen. In Oxford gab's ja eine Menge solcher Leute. Es war lächerlich. Wenn man sich immer fürchten sollte, ausgelacht zu werden, wie konnte man da je etwas Vernünftiges leisten! Da war Mrs. Stormer doch ganz anders; sie tat etwas, weil – nun weil es ihr gerade so in den Sinn kam. Aber freilich, sie war ja keine Engländerin, sondern  aus Österreich und um so viel jünger als der alte Stormer.

 



Er war vor dem Hause seines Professors angelangt und zog die Glocke …





Zweites Kapitel



Als Anna Stormer in das Studierzimmer trat, sah sie ihren Gatten am Fenster stehen, den Kopf ein wenig auf die Seite geneigt, eine große langbeinige Gestalt in hübschem Tuchanzug und niedrigem Umlegkragen (damals nicht modern) mit blauseidener Krawatte, die sie gestrickt hatte und die durch einen Ring gezogen war. Er summte vor sich hin und trommelte mit seinen wohlgepflegten Fingernägeln leise auf die Fensterscheibe. Obgleich er wegen der vielen Arbeit, die er leistete, berühmt war, überraschte sie ihn doch niemals bei irgendeiner Beschäftigung in ihrem Hause, das sie gewählt hatten, weil es über einen Kilometer vom College entfernt lag, wo die lieben jungen Clowns, wie er die Studenten nannte, deren Professor er war, auch ihren Wohnsitz hatten.



Er wandte sich nicht um – es war durchaus nicht seine Gewohnheit, von irgend etwas Notiz zu nehmen, wenn es nicht unbedingt sein mußte –, doch sie fühlte, daß er sich ihrer Anwesenheit bewußt war. Sie ging zur Fensterbank und setzte sich. Da drehte er sich endlich um und sagte: »Ah!«



Fast klang es wie ein Laut der Bewunderung – etwas Ungewöhnliches bei ihm, da er, von gewissen Stellen der Klassiker abgesehen, nur selten etwas bewunderte. Doch sie wußte, daß sie keine bessere Stellung hätte wählen können: ihre wahrhaft schöne Gestalt kam voll zur Geltung, als die Sonne auf ihr braunes Haar fiel und ihre tiefliegenden eisgrünen Augen unter den schwarzen Wimpern aufleuchten ließ. Es war ihr manchmal eine große Genugtuung, daß sie schön blieb. Denn das Bewußtsein, den so schwer zu befriedigenden Geschmack ihres Gatten zu verletzen, hätte ihr in der Tat noch mehr Kummer bereitet. Für ihn waren ihre Backenknochen zu stark, ein Symbol von jenem Etwas in  ihrem Charakter, das mit dem seinen nicht harmonierte: ein Anflug von Temperament, Zügellosigkeit, der Mangel jenes gewissen spezifisch englischen Schliffs, für ihn eine Quelle steten Ärgers.



»Harold!« – daß sie das R doch niemals ganz richtig aussprach! –, »ich möchte diesen Sommer in die Berge gehn.«



Die Berge! Sie hatte sie schon seit zwölf Jahren nicht gesehen, seit jenem Aufenthalt in San Martino di Castrozza, der mit ihrer Heirat geendet hatte.



»Nostalgia!«



»Ich weiß nicht, wie das heißt – ich hab Heimweh. Können wir fahren?«



»Wenn du Lust hast, warum nicht? Aber ich werd niemand mehr auf den Cimone della Pala führen!«



Sie wußte, was er damit sagen wollte: Nur keine Romantik. Was für ein ausgezeichneter Führer war er an jenem Tag gewesen! Sie hätte ihn damals anbeten können. Welche Blindheit! Welche Verblendung! War das wirklich noch derselbe Mann, der dort stand, mit dem hellen skeptischen Blick und dem schon angegrauten Haar? Ja, mit der Romantik war es in der Tat vorbei. Und sie saß schweigend da und blickte auf die Straße hinaus, jene schmale alte Straße, in die sie Tag und Nacht hinaussah. Eine Gestalt ging draußen vorbei, kam auf die Tür zu und zog die Glocke.



»Da ist Mark Lennan«, sagte sie leise.



Sie fühlte die Augen ihres Gatten eine Sekunde lang auf sich ruhen, wußte, daß er sich umgedreht hatte und hörte ihn murmeln: »Ah, der Engel unter den Clowns!« Und ganz still wartete sie, bis die Tür aufging. Da stand der Junge mit dem lieben dunklen Kopf, schüchtern, sanft und ernsthaft und seinen Aufsatz in der Hand.



»Na, Lennan, wie geht's dem alten Cromwell? Ein genialer Heuchler, was? Schießen Sie los, damit wir mit ihm fertig werden.«



 Von ihrem Sitz am Fenster betrachtete sie regungslos die beiden Gestalten am Tisch. Der Junge las vor mit seiner seltsamen, samtweichen Baßstimme, während ihr Gatte in seinen Stuhl zurückgelehnt saß, die Fingerspitzen gegeneinander gepreßt, den Kopf ein wenig auf die Seite geneigt und jenes leise spöttische Lächeln auf den Lippen, das niemals in seine Augen kam. Ja, er träumte vor sich hin, war fast eingeschlafen; doch der Junge, der nicht aufsah, las weiter. Als er zum Schluß kam, blickte er auf. Was für Augen er hatte! Andere Jungen hätten gelacht, er aber sah fast schuldbewußt drein. Sie hörte ihn murmeln: »Ich bitte um Entschuldigung, Herr Professor.«



»Ah, Lennan, Sie haben mich erwischt! Das letzte Semester hat mich tüchtig hergenommen. Wir gehen in die Berge. Schon in den Bergen gewesen? Wie, niemals? Kommen Sie doch mit, eh? Was sagst du dazu, Anna? Meinst du nicht auch, der junge Mann da sollte mitkommen?«



Sie erhob sich und starrte die beiden an. Hatte sie recht gehört?



Dann erwiderte sie ernst:



»Ja, er soll mitkommen.«



»Gut, diesmal soll er Führer sein bei der Besteigung des Cimone della Pala!«





Drittes Kapitel



Als der Junge sich verabschiedet und Anna ihm bis auf die Straße nachgesehen hatte, stand sie einen Augenblick in dem Streifen Sonnenlicht, der durch die offene Tür hereinfiel, und preßte die Hände an ihre flammenden Wangen. Dann schloß sie die Tür und drückte die Stirn gegen die Fensterscheibe, ohne etwas zu sehen. Das Herz klopfte ihr heftig. Immer wieder vergegenwärtigte sie sich die eben durchlebte Szene. Dies alles hatte doch für sie soviel tiefere Bedeutung, als sie anfänglich geglaubt …



Obgleich sie stets an Heimweh litt, besonders gegen Ende des Sommersemesters, war es diesmal doch ein ganz anderes Gefühl, das sie zu ihrem Gatten sagen ließ: »Ich möchte in die Berge gehn!«



Zwölf Jahre schon hatte sie sich jeden Sommer nach den Bergen gesehnt, aber nie darum gebeten hinzugehen; dieses Jahr hatte sie um die Reise gebeten, ohne sich jedoch nach den Bergen zu sehnen. Es war ihr nämlich auf einmal die seltsame Tatsache klargeworden, daß sie England gar nicht zu verlassen wünschte, und gerade aus diesem Grunde hatte sie gebeten, weggehen zu dürfen. Warum aber hatte sie gesagt: »Ja, er soll mitkommen«, da sie doch den Jungen unbedingt vergessen wollte. Freilich, das Dasein war ja immer ein unerklärlicher Kampf zwischen Pflichtgefühl und dem Wunsch, sich auszuleben, ein sonderbarer, stets wechselnder, qualvoller Zustand. Wie lang war es jetzt her seit jenem Tage, an dem er zum erstenmal zu Tisch gekommen war, still und scheu, und wie er plötzlich lächelte, als wäre es in seinem Innern auf einmal hell geworden, seit jenem Tage, da sie zu ihrem Gatten gesagt: »Ah, er ist ein Engel!« Noch kein Jahr, war es doch zu Anfang des letzten Semesters im Oktober gewesen. Er war anders als alle übrigen Jungen;  nicht etwa, daß er ein Wunderknabe mit ungekämmtem Haar, schlechtsitzenden Kleidern und einem klugen Kopf gewesen wäre, sondern er besaß etwas – etwas – – ah, er war eben ganz anders; weil er eben – er war; weil sie sich danach sehnte, seinen Kopf zwischen ihre Hände zu nehmen und zu küssen. Sie erinnerte sich noch genau des Tages, an dem diese Sehnsucht zuerst über sie gekommen war. Er war zum Tee bei ihr, es war ganz zu Anfang des Ostersemesters; er streichelte ihre Katze, die stets zu ihm gelaufen kam, und erzählte ihr, daß er Bildhauer werden wolle, sein Vormund es aber nicht erlaube, so daß er natürlich nicht beginnen könne, bevor er mündig sei. Die Lampe auf dem Tisch hatte einen rosenfarbenen Schirm; er hatte gerudert – es war ein sehr kalter Tag –, und sein Gesicht glühte, während er sonst etwas blaß war. Und plötzlich lächelte er und sagte: »Es ist abscheulich, warten zu müssen, nicht wahr?« In diesem Augenblick hätte sie fast die Arme nach ihm ausgestreckt, um seine Stirn an ihre Lippen zu pressen. Damals hatte sie gedacht, daß sie ihn küssen möchte, weil es doch so schön gewesen wäre, seine Mutter zu sein – sie hätte gerade seine Mutter sein können, wenn sie mit sechzehn Jahren geheiratet hätte. Nun aber wußte sie schon lange, daß sie nicht seine Stirn, sondern seine Lippen zu küssen verlangte. Er war das in ihrem Leben, was ein Feuer in einem kalten, verschlossenen Hause ist; sie konnte kaum noch begreifen, wie sie diese ganzen Jahre ohne ihn hatte existieren können. Sie hatte ihn so sehr vermißt während der sechswöchigen Osterferien, hatte in seinen drei kurzen, sonderbaren Briefen, die halb schüchtern, halb vertraulich waren, geschwelgt, hatte sie geküßt und in ihrem Kleid getragen. Und als Antwort ihm lange, vollkommen korrekte Episteln in ihrem noch immer seltsamen Englisch geschrieben. Sie hatte ihn nie etwas von ihren Gefühlen merken lassen; der Gedanke daran flößte ihr einen unaussprechlichen Schauder ein. Als das Sommersemester  anfing, schien ihr ganzes Dasein nur aus Gedanken an ihn zu bestehen. Wäre vor zehn Jahren ihr Kind am Leben geblieben; hätte ein grausamer Tod, nach all ihren Qualen, nicht ein für allemal den Wunsch, ein zweites zu haben, in ihr ausgelöscht; wäre es ihr nicht schon jahrelang klar gewesen, daß sie keine Zärtlichkeit mehr zu erwarten hatte, daß die Liebe für sie vorbei war; hätte das Leben in der schönsten aller alten Städte etwas Anziehendes für sie gehabt – dann wäre sie wohl imstande gewesen, diesem Gefühl Einhalt zu tun. So aber konnte nichts in der Welt den Strom eindämmen. Und sie war so übervoll von Energie und wußte genau, daß ihre ganze Lebenskraft vergeudet wurde! Manchmal hatte sie dies Gefühl, leben zu wollen, ein Betätigungsfeld für ihre Kräfte zu finden, geradezu gefoltert. So viele hundert einsame Spaziergänge hatte sie während all dieser Jahre unternommen, hatte versucht, sich in der Natur zu verlieren, war allein umhergelaufen, war in die Wälder geflüchtet, hinaus auf die Felder, wo keine Menschen hinkamen, hatte versucht, jenes Gefühl der überschüssigen Kraft loszuwerden, hatte versucht, wieder so zu empfinden, wie sie als Mädchen empfunden, als noch die ganze Welt vor ihr lag. Nicht umsonst war ihre Gestalt so herrlich, ihr Haar so glänzend braun, waren ihre Augen so leuchtend geblieben. Sie hatte viele Zerstreuungen versucht: Arbeit im Armenviertel, Musik, Theaterspielen, Jagen; eines nach dem andern hatte sie fallenlassen, um es dann leidenschaftlich wieder aufzugreifen. Früher hatte das geholfen, dieses Jahr jedoch war alles vergebens … Eines Sonntags, als sie aus der Beichte kam, ohne gebeichtet zu haben, hatte sie sich selbst unter die Lupe genommen. Es war sündhaft! Sie mußte dies Gefühl in sich ertöten, sie mußte vor dem Jungen fliehen, der sie so sehr in Aufruhr brachte. Handelte sie nicht schnell, so würde sie davon fortgerissen werden. Und dann war ihr der Gedanke gekommen: Warum nicht? Das  Leben war dazu da, um gelebt zu werden, nicht um es stumpfsinnig zu verträumen in dieser sonderbaren Pflegestätte der Kultur, wo einem die Überlieferung geradezu im Blut lag. Das Leben war zum Lieben da, zum Genießen! Und nächsten Monat würde sie sechsunddreißig! Sie kam sich schon ungeheuerlich alt vor. Sechsunddreißig! Bald würde sie alt sein, tatsächlich alt, ohne je die Leidenschaft gekannt zu haben! Die Anbetung, die aus dem vornehm aussehenden, zwölf Jahre älteren Engländer, der eine Gesellschaft auf den Cimone della Pala führen konnte, einen Helden gemacht, war keine Leidenschaft gewesen. Sie wäre vielleicht zur Leidenschaft geworden, wenn er es gewollt hätte. Er aber war nichts weiter als Form, Eis, Bücher. Hatte er überhaupt ein Herz? Floß Blut in seinen Adern? Gab es denn irgendwelche Lebensfreude in dieser viel zu schönen Stadt und den Leuten, die darin wohnten, in dieser Stadt, wo selbst die Begeisterung nur Formsache zu sein schien und keine Schwingen hatte, wo alles festgelegt und ausgeklügelt war wie in ihren Kirchen und Klöstern? Und dennoch, solche Gefühle für einen Knaben zu empfinden, der jung genug war, ihr Sohn zu sein! Es war so – schamlos! Dieser Gedanke verfolgte sie förmlich, ließ sie im Dunkeln erröten, wenn sie nachts wachlag. Und voll Verzweiflung betete sie dann – denn sie war fromm – um ihre Reinheit, um die heiligen Gefühle einer Mutter, bat darum, nur von dem herrlichen Bewußtsein erfüllt zu werden, alles zu seinem Besten tun zu können, alles für ihn leiden zu dürfen. Nach diesen langen Gebeten fühlte sie sich beruhigt und wie betäubt, als hätte sie ein Schlafmittel genommen. Stundenlang pflegte sie so dazuliegen. Und dann überkamen sie alle diese Empfindungen wieder von neuem. Nie dachte sie daran, ob auch er sie lieben könnte; das wäre – unnatürlich. Warum auch sollte er sie lieben? Sie war darin sehr bescheiden. Seit jenem Sonntag, als sie die Beichte vermieden, brütete sie unausgesetzt  darüber, wie sie ein Ende machen, wie sie von dieser Sehnsucht, die zu mächtig für sie wurde, loskommen könne. Da war sie auf den Plan verfallen, um eine Reise in die Berge zu bitten, dorthin zurückzukehren, wo ihr Gatte in ihr Leben getreten war und wo jenes Gefühl vielleicht wieder schwinden würde. Wenn es nicht besser würde, wollte sie, dieser Gefahr entrückt, dort bei ihren Angehörigen bleiben. Und nun hatte dieser Narr, dieser blinde Narr, dieser überlegene Narr mit seinem spöttischen Lächeln und seinem ewigen Gönnertum sie dahin gebracht, ihren eigenen Plan umzustoßen! Gut, mochte er die Folgen tragen, sie hatte ihr Bestes getan. Sie wollte wenigstens einmal wissen, was Freude ist, selbst wenn sie dann dort bleiben mußte und den Jungen niemals wiedersehen sollte.

 



Wie sie so in dem dämmerigen Vorraum dastand, wo man einen leisen Geruch von altem Holz wahrnahm, sobald die Fenster und Türen geschlossen waren, bebte sie am ganzen Körper vor heimlicher Glückseligkeit. Mit ihm in ihren Bergen zu sein! Ihm alle jene wund