Erwachen

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Aus der Reihe: Die Forsyte Saga #4
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John Galsworthy

Erwachen

Die Forsyte Saga - 4. Band

Inhaltsverzeichnis

Über den Autoren:

Erwachen

Impressum

Über den Autoren:

John Galsworthy war ein englischer Schriftsteller und Dramatiker. Seine Romanreihe The Forsyte Saga gilt als ein Klassiker der modernen englischen Literatur. 1932 erhielt Galsworthy den Literaturnobelpreis.

Erwachen

Durch das breite Oberlicht in der Halle von Robin Hill fiel die Junisonne um fünf Uhr nachmittags gerade auf die Stelle, wo die breite Treppe eine Biegung machte; und in diesem hellen Lichtstrahl stand der kleine Jon Forsyte im blauen Leinwandanzug. Sein Haar leuchtete, und auch seine Augen unter der gerunzelten Stirn, denn er überlegte gerade, wie er dieses letztemal noch von den unzähligen Malen die Treppe hinunterkommen sollte, das letztemal, ehe seine Eltern nach Hause kamen. Vier auf einmal und fünf zum Schluß? Alt! Das Geländer hinunterrutschen? Aber wie? Auf dem Gesicht, die Füße zuerst? Uralt! Auf dem Bauch, seitwärts? Kleinigkeit! Auf dem Rücken, die Arme links und rechts herunterhängend? Verboten! Oder Gesicht nach unten, Kopf voraus, etwas, das bis jetzt nur er fertigbrachte? Deshalb das Stirnrunzeln auf dem Antlitz des kleinen Jon, das von der Sonne beschienen war ...

In jenem Sommer des Jahres 1909 hatten die einfachen Leute, die damals schon die englische Sprache vereinfachen wollten, natürlich keine Ahnung von der Existenz des kleinen Jon, sonst hätten sie ihn zu ihrem Jünger erkoren. Aber man kann in diesem Leben auch zu einfach sein, denn sein wirklicher Name war Jolyon; sein Vater und verstorbener Stiefbruder hatten schon längst die andern möglichen Abkürzungen, Jo und Jolly, mit Beschlag belegt. Und tatsächlich hatte der kleine Jon sein möglichstes getan, sich der Konvention zu fügen und seinen Namen anfangs Jhon und dann John geschrieben. Erst als sein Vater ihm erklärt hatte, warum er durchaus Jon schreiben müsse, fügte er sich.

Bis jetzt hatte dem Vater der kleine Teil seines Herzens gehört, den Bob, der Stallknecht, der Harmonika spielte, und seine Amme »Da« noch übriggelassen hatten. »Da«, die am Sonntag das violette Kleid trug und in jenem Privatleben, das merkwürdigerweise auch die Hausangestellten in manchen Stunden führen, Spraggins hieß. Es kam ihm fast vor, daß seine Mutter ihm nur in Träumen erschienen war, von einem süßen Duft umgeben, ihm über die Stirn strich, gerade ehe er einschlief, und ihm manchmal das Haar schnitt, das von goldbrauner Farbe war. Als er sich an dem Ofenvorsetzer der Kinderstube ein Loch in den Kopf geschlagen hatte, war sie zur Stelle, um mit Blut überströmt zu werden; und hatte er Alpdrücken, dann saß sie an seinem Bett und preßte seinen Kopf an ihre Wange. Sie war etwas Köstliches, aber sie war weit fort, während »Da« so nahe war, und für zwei Frauen gleichzeitig ist kaum Platz im Herzen eines Mannes. Mit seinem Vater verbanden ihn natürlich noch ganz besondere gemeinsame Interessen, denn Jon wollte auch Maler werden, wenn er groß war, nur mit dem kleinen Unterschied, daß sein Vater Bilder malte, und der kleine Jon wollte Decken und Wände bemalen, in einer schmutzig-weißen Schürze auf einem Brette stehend, das auf zwei Leitern gelegt war, während alles so herrlich nach Tünche roch! Er durfte auch mit seinem Vater ausreiten, in den Richmondpark, auf seinem Pony, das wegen seiner grauen Farbe »Maus« genannt ward.

Der kleine Jon war mit einem silbernen Löffel im Mund geboren, und dieser Mund war ziemlich groß, aber sehr hübsch. Niemals hatte er seinen Vater oder seine Mutter ein ärgerliches Wort sagen hören, nicht zueinander, nicht zu ihm und auch zu sonst niemand; Bob, der Stallknecht, Jane, die Köchin, Bella und die übrige Dienerschaft, sogar »Da«, die einzige, die seinem Unternehmungsgeist Grenzen zog, alle diese hatten einen ganz besonderen Klang in der Stimme, wenn sie zu ihm sprachen. Deshalb war er der Meinung, die Erde sei ein Ort, wo nichts als Vornehmheit und ewige Freiheit herrsche.

Als Kind des Jahres 1901 kam er zum Bewußtsein seiner selbst, gerade als sein Land nach dem Burenkrieg, diesem schlimmen Fieberanfall, sich für die liberale Ära des Jahres 1906 vorbereitete. Jeder Zwang war unpopulär geworden, und die Eltern übertrieben den Gedanken, ihren Sprößlingen ein angenehmes Leben zu bereiten. Sie zerbrachen ihre Ruten, schonten die Kinder und schwelgten in den zu erwartenden Erfolgen. Jon war ein außerordentlich gescheites Kind gewesen, sich einen so liebenswürdigen Mann von vierundfünfzig Jahren zum Vater zu erwählen, der seinen einzigen Sohn schon verloren hatte, und zu seiner Mutter eine Frau von achtunddreißig, deren erstes und einziges Kind er war. Was ihn davor bewahrt hatte, so ein Mittelding zwischen einem verwöhnten Schoßhund und einem Herrensöhnchen zu werden, das war die Verehrung seines Vaters für seine Mutter, denn sogar der kleine Jon konnte sehen, daß sie nicht gerade nur seine Mutter war, und daß er im Herzen seines Vaters die zweite Geige spielte. Was er im Herzen seiner Mutter spielte, daß wußte er noch nicht. »Tante« June, seine Halbschwester (aber so alt, daß sie schon nicht mehr seine Schwester war), die liebte ihn, gewiß, aber sie war zu hitzig. Auch seine ihm sehr ergebene »Da« hatte einen spartanischen Zug. Sein Bad war kalt und seine Knie nackt; er wurde nicht darin ermutigt, sich selbst zu bemitleiden. Und was die verzwickte Frage seiner Erziehung anbetraf, so teilte der kleine Jon die Ansicht derer, die dafür waren, daß man Kinder nicht zwingen solle. Mademoiselle, die jeden Morgen zwei Stunden mit ihm Französisch lernte und ihn auch in Geschichte, Geographie und Rechnen unterwies, hatte er ganz gern; und die Musikstunden, die ihm seine Mutter gab, waren auch nicht unangenehm, denn sie verstand es, ihn von Melodie zu Melodie zu locken, und ließ ihn nie eine üben, die ihm nicht gefiel. So verlor er nie den Ehrgeiz, zehn Daumen in acht Finger zu verwandeln. Bei seinem Vater lernte er zeichnen: Glücksschweinchen und andere vergnügliche Tierchen. Er war kein sehr wohlerzogener kleiner Junge; und doch, im großen ganzen hat der silberne Löffel seinem Kindermund nichts geschadet, wenn auch »Da« manchmal sagte, daß mehr Kinder »ein wahrer Segen für ihn wären«.

Es war daher eine Zerstörung all seiner Illusionen, als sie eines Tages den fast Siebenjährigen auf den Rücken legte und in dieser Stellung unbeweglich festhielt, weil er etwas tun wollte, das sie nicht billigte. Dieser erste Eingriff in die Persönlichkeitsrechte eines freien Forsyte machte ihn schier rasend. Die gänzliche Hilflosigkeit seiner Lage war entsetzlich, und die Ungewißheit, ob er überhaupt lebendig davonkommen würde. Wenn sie ihn nun nie wieder losließe! Fünfzig Sekunden lang litt er diese Höllenqualen und schrie mörderisch. Schlimmer als alles war die Erkenntnis, daß »Da« diese ganze Zeit gebraucht hatte, um seine Todesangst zu begreifen. So kam es ihm mit erschreckender Klarheit zu Bewußtsein, wie wenig Verständnis die Menschen füreinander haben! Als er wieder aufstehen durfte, war er überzeugt, daß »Da« ein Verbrechen begangen hatte. Obgleich er sie nicht verklatschen wollte, mußte er doch ganz einfach aus Angst vor einer Wiederholung zu seiner Mutter gehen und sagen: »Mam, erlaub es nicht, daß »Da« mich noch einmal auf den Rücken legt.«

Seine Mutter steckte gerade mit erhobenen Armen ihre Zöpfe fest, ihr schönes Haar – » couleur de feuille morte«, wie der kleine Jon es zu nennen damals noch nicht gelernt hatte; sie schaute zu ihm hin mit Augen wie kleine Fleckchen seiner braunen Samtjacke und erwiderte:

»Nein, Liebling, ich werd' es nicht erlauben.«

Da die Mutter nur zu wollen brauchte und es geschah, so war der kleine Jon beruhigt; besonders als er, unter dem Frühstückstisch versteckt, wo er darauf lauerte, einen Pilz zu stibitzen, die Mutter zum Vater sagen hörte:

»Willst du mit ›Da‹ sprechen, Liebster, oder soll ich es tun? Sie hängt so sehr an ihm.«

Und sein Vater entgegnete:

»So darf sie's ihm nicht beweisen. Ich weiß genau, was es heißt, hilflos niedergehalten zu werden. Kein Forsyte hält das eine Minute aus.«

Als er sich bewußt ward, daß sie ihn nicht unter dem Tisch vermuteten, überkam den kleinen Jon ein ganz neues Gefühl der Verlegenheit, und er blieb regungslos sitzen, von Sehnsucht nach dem Pilz verzehrt.

Das war sein erster Sturz in die dunklen Abgründe des Menschenlebens gewesen. Danach war ihm nichts Besonderes mehr enthüllt worden, bis er eines Tages in den Kuhstall ging, wo Garrat gerade gemolken hatte, um sich seinen Trunk Milch frisch von der Kuh zu holen, und da sah er Clovers Kalb tot daliegen. Ganz außer sich und von dem erschreckten Garrat gefolgt, war er davongelaufen, um »Da« zu suchen; aber plötzlich ward ihm klar, daß sie jetzt nicht die richtige Person war, er wollte zu seinem Vater und rannte statt dessen in die Arme seiner Mutter. »Clovers Kälbchen ist tot! Oh! Oh! Es sieht so lieb aus!«

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