Nachsommer

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Aus der Reihe: Die Forsyte Saga #2
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Nachsommer
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John Galsworthy

Nachsommer

Die Forsyte Saga - Band 2

Inhaltsverzeichnis

I

II

III

IV

V

Impressum

I

Am letzten Tage des Monats Mai, zu Anfang der Neunzigerjahre, saß der alte Jolyon Forsyte gegen sechs Uhr abends unter dem Eichenbaum vor der Terrasse seines Hauses in Robin Hill. An diesem herrlichen Nachmittag wollte er so lange draußen bleiben, bis die Mücken anfangen würden zu stechen. Er hielt eine fast zu Ende gerauchte Zigarre in der magern braunen Hand, an der die Adern blau hervortraten und deren schmale Finger lange Nägel hatten – die Mode der spitzgeschnittenen, polierten Nägel stammte noch wie er selber aus jenen frühviktorianischen Tagen, als es für besonders vornehm galt, nichts zu berühren, nicht einmal mit den Fingerspitzen. Seine gewölbte Stirn, der lange weiße Schnurrbart, die magern Wangen und das lange magere Kinn wurden vor der tiefstehenden Sonne durch einen alten braunen Panamahut geschützt. Wie er so mit übereinandergeschlagenen Beinen dasaß, lag in seiner ganzen Haltung eine heitere Ruhe; man sah ihr die Eleganz eines alten Herrn an, der jeden Morgen Eau de Cologne auf sein seidenes Taschentuch spritzt. Zu seinen Füßen lag ein wolliger, schwarz-weißer Hund, der sich Mühe gab, wie ein Spitz auszusehen – das war der Hund Balthasar; die ehemalige Abneigung zwischen ihm und dem alten Jolyon hatte sich mit den Jahren in Freundschaft verwandelt. Dicht bei seinem Stuhl hing eine Schaukel, und auf dieser saß eine von Hollys Puppen, ›die dumme Alice‹ genannt, die mit dem Oberkörper vornüber gefallen war und ihre kleine Nase trübselig in einem schwarzen Unterrock versteckte. Sie war stets in Ungnade und so konnte es ihr gleichgültig sein, wie sie dasaß. Unter dem Eichenbaum zog sich der Rasen über eine Böschung hinunter bis zu einer Farnkrautpflanzung; jenseits dieser Anlage begannen dann die Felder, die zum Teich abfielen, das Wäldchen, und man genoß jene Aussicht, ›sehr schön, merkwürdig‹, auf die Swithin Forsyte gerade von diesem Baum aus hingestarrt hatte, als er vor fünf Jahren mit Irene hinausgefahren war, um das Haus zu besichtigen. Der alte Jolyon hatte von seines Bruders Heldentat gehört, von jener Fahrt, die auf der Forsyte-Börse berühmt geworden war. Swithin! Im vergangenen November hatte sich dieser Bursche hingelegt und war gestorben und war doch erst neunundsiebzig; sein Tod hatte von neuem den Zweifel wachgerufen, der zuerst aufgetaucht war, als Tante Ann diese Welt verlassen hatte, den Zweifel daran, daß die Forsytes wirklich ewig leben würden. Tot! Und nun waren nur noch Jolyon und James übrig, Roger, Nicholas und Timothy – Julia und Hester! Und der alte Jolyon dachte: ›Fünfundachtzig! Ich spüre nichts davon – oder doch nur dann, wenn jener Schmerz kommt!‹

Er suchte in seiner Erinnerung. Er hatte sein Alter nicht mehr gefühlt, seit er das Unglückshaus seines Neffen Soames gekauft und sich vor drei Jahren hier in Robin Hill niedergelassen hatte. Es war gerade, als ob er mit jedem Frühjahr jünger geworden wäre, seit er auf dem Lande lebte mit seinem Sohn und seinen Enkeln – June, und den beiden Kleinen aus der zweiten Ehe, Jolly und Holly; seit er hier draußen lebte, fern vom Londoner Lärm und dem Geschnatter der Forsyte-Börse, frei von allen Aufsichtsratssitzungen, in einer köstlichen Atmosphäre, in der es keine Pflichten, sondern nur Vergnügungen gab; er war vollauf damit beschäftigt, das Haus mit den Feldern noch vollkommener und besser herzurichten und den Launen von Holly und Jolly nachzukommen. All das Verbitterte und Absonderliche seines Wesens, das sich in ihm während des langen tragischen Konfliktes zwischen June, Soames, dessen Frau Irene und dem armen jungen Bosinney in ihm gesammelt hatte, war lange schon wie ausgelöscht. Sogar June hatte endlich ihre Melancholie überwunden, machte sie doch gerade jetzt mit ihrem Vater und ihrer Stiefmutter eine Reise durch Spanien. Ein seltsamer, völliger Friede herrschte seit ihrer Abreise, glückselig und dennoch leer und öde, weil sein Sohn nicht da war. Jetzt war ihm Jo stets nur ein Trost und eine Freude – so ein lieber Junge! Aber Frauen, sogar die besten, gingen einem irgendwo immer ein wenig auf die Nerven, nur dann selbstverständlich nicht, wenn man sie bewunderte.

In der Ferne rief ein Kuckuck; auf der ersten Ulme im Feld girrte eine Wildtaube, und so viele Gänseblümchen und Butterblumen waren nach dem letzten Mähen aufgeblüht! Auch wehte der Wind von Südwesten her – eine köstliche, würzige Luft! Er schob den Hut ins Genick und ließ die Sonne Wange und Kinn bescheinen. Er wußte selbst nicht warum, aber heute wünschte er sich Gesellschaft, wünschte er, in ein hübsches Gesicht zu schauen. Alte Leute behandelt man immer so, als ob sie keine Wünsche mehr hätten. Noch niemals hatte er Gedanken gehabt wie jetzt, die so wenig zu der Forsyte'schen Weltauffassung paßten: ›Man kann doch nie genug haben! Es sollte mich nicht wundern, wenn man – einen Fuß schon im Grabe – sich immer noch nach etwas sehnt!‹ Hier draußen, fern von dringenden Geschäften, hatten seine Enkelkinder, die Blumen, Bäume und Vögel des kleinen Gutes, gar nicht zu reden von der Sonne, dem Mond und den Sternen über ihnen, Tag und Nacht zu ihm gesagt: ›Sesam öffne dich!‹ Und Sesam hatte sich geöffnet, wie sehr, das wußte er vielleicht selber nicht. Er hatte stets Empfänglichkeit besessen für das, was man jetzt ›Natur‹ zu nennen anfing, echte, fast religiöse Empfänglichkeit, obwohl er einen Sonnenuntergang nie anders als ›Sonnenuntergang‹ und eine Aussicht nie anders als ›Aussicht‹ genannt hatte, wie tief sie ihn auch immer bewegen mochten. Aber nun war er schon so weit, daß die Natur ihm ein wehes Gefühl verursachte, sie griff ihm so sehr ans Herz. An jedem dieser ruhigen, klaren, immer länger werdenden Tage schlenderte er umher, Hollys Hand in der seinen, während der Hund Balthasar, der stets etwas zu suchen schien, was er niemals finden konnte, vor ihnen herlief; er beobachtete, wie die Rosen sich öffneten, das Spalierobst an den Mauern Knospen ansetzte, wie das Sonnenlicht die Blätter der Eichen und die jungen Bäume in dem Wäldchen vergoldete, und wie die Blätter der Wasserlilien sich aufrollten und glänzten, oder er blickte über das silbrige junge Korn des einzigen Weizenfeldes; er horchte auf die Stare und Lerchen und auf die wiederkäuenden, hellbraunen Kühe, die langsam mit den Schwänzen schlugen; und an jedem dieser schönen Tage tat ihm ein wenig das Herz weh vor lauter Liebe zu den Dingen und vielleicht auch, weil er ganz im Innern spürte, daß ihm nicht mehr sehr viel Zeit geblieben war, sich ihrer zu freuen. Er mußte daran denken, daß eines Tags – vielleicht schon in weniger als zehn Jahren, vielleicht in weniger als fünf – diese ganze Welt von ihm genommen sein würde, noch ehe seine Kraft, sie zu lieben, erschöpft war, und es erschien ihm als eine Ungerechtigkeit, die einen Schatten auf sein Leben warf. Was immer auch nach diesem Leben käme, es würde nicht das sein, wonach er sich sehnte: nicht Robin Hill und Blumen und Vögel und hübsche Gesichter – von denen er schon jetzt zu wenig um sich hatte! Mit den Jahren hatte sich sein Widerwille gegen jede Art von Humbug verstärkt; die Orthodoxie, die er in den Sechziger jähren zur Schau getragen, war für ihn längst schon abgetan, wie auch die Koteletts, die er aus purem Übermut zur selben Zeit getragen hatte, und er verehrte heute nur mehr dreierlei: Schönheit, aufrechtes Benehmen und den Sinn für Eigentum; doch als Höchstes galt ihm nun die Schönheit. Er hatte stets die verschiedenartigsten Interessen gehabt und konnte auch heute noch die ›Times‹ lesen; aber in dem Augenblick, da er eine Amsel singen hörte, legte er unweigerlich die Zeitung aus der Hand. Aufrechtes Benehmen, Eigentum – das ermüdete ihn irgendwie. Aber der Amseln und des Sonnenuntergangs war er niemals müde; sie verursachten ihm nur ein unbestimmtes Gefühl, als ob er ihrer nie überdrüssig werden könnte. Wie er so in den stillen Glanz des frühen Abends schaute und auf die kleinen goldenen und weißen Blumen auf dem Rasen, kam ihm ein Gedanke: Dieses Wetter war die Musik des ›Orpheus‹, die er kürzlich im Covent Garden Opernhaus gehört hatte. Ein wunderschönes Werk, nicht wie Meyerbeer, und auch nicht ganz wie Mozart, sondern in seiner Art vielleicht noch lieblicher; es war etwas Klassisches, etwas vom goldenen Zeitalter darin, etwas Reines und Gereiftes, und die Ravogli ›fast würdig der alten Tage‹, – das höchste Lob, das er spenden konnte. Die Sehnsucht Orpheus' nach der Schönheit, die er verloren hatte, nach seiner Liebe, die zum Hades hinabgestiegen war, so wie im Leben Liebe und Schönheit dahinschwanden, dieselbe Sehnsucht, die in der herrlichen Musik sang und bebte, vibrierte auch in der leise verklingenden Schönheit der Natur an diesem Abend. Unwillkürlich stieß er die Spitze seines korkbesohlten Zugschuhs dem Hund Balthasar in die Rippen, sodaß das Tier erwachte und nach seinen Flöhen suchte, denn obgleich man zu wissen glaubte, daß er gar keine habe, konnte doch nichts Balthasar zu dieser Überzeugung bringen. Als er fertig war, rieb er die Stelle, wo er sich gekratzt, an seines Herrn Wade und legte sich wieder nieder, die Schnauze auf dem Spann des Fußes, der ihn gestört hatte. Und plötzlich mußte der alte Jolyon an ein Gesicht denken, das er vor drei Wochen in der Oper gesehen – Irene, die Frau seines feinen Neffen Soames, dieses ›reichen Mannes‹! Obgleich er sie nicht wieder getroffen seit jenem ›Empfang‹ in seinem alten Haus in Stanhope Gate, bei dem die unselige Verlobung seiner Enkelin June mit dem jungen Bosinney gefeiert worden war, hatte er sie doch sofort wiedererkannt, denn er hatte sie stets bewundert – eine sehr schöne Frau. Er hatte gehört, daß sie nach dem Tode des jungen Bosinney, dessen Geliebte sie so sträflicherweise geworden war, Soames sofort verlassen hatte. Der Himmel mochte wissen, was sie seither getrieben. Der Anblick ihres Gesichtes, im Profil, in der Reihe vor ihm, hatte ihn buchstäblich zum ersten Mal seit drei Jahren wieder daran erinnert, daß sie noch am Leben war. Niemand hatte je von ihr gesprochen. Und doch, Jo hatte ihm einmal etwas erzählt, etwas, das ihn ganz aus der Fassung gebracht. Wahrscheinlich hatte es der Junge von George Forsyte gehört, der Bosinney an dem Tage, da er überfahren worden war, im Nebel gesehen hatte – es mußte etwas, das die Verzweiflung des jungen Menschen erklärte – etwas, das Soames seiner Frau angetan – etwas Entsetzliches gewesen sein. Jo hatte auch sie selbst an jenem Nachmittag gesehen, nachdem die Nachricht schon bekannt geworden war, hatte sie für einen Augenblick gesehen und der alte Jolyon hatte seine Worte nie vergessen können – ›verirrt und verloren‹ hatte er sie genannt. Und am nächsten Tag war June hingegangen – ihre eigenen Gefühle unterdrückend – war hingegangen, da hatte die Jungfer geweint und ihr gesagt, wie ihre Herrin in die Dunkelheit hinausgeschlüpft und verschwunden sei. Eine traurige Geschichte – wahrhaftig! Eines war sicher: Soames hatte ihrer niemals wieder habhaft werden können. Er lebte nun in Brighton, fuhr täglich nach London und wieder zurück, ein wohlverdientes Schicksal – der reiche Mann! Denn wenn der alte Jolyon einen einmal nicht leiden konnte – und seinen Neffen konnte er nicht leiden – dann kam er nie mehr wieder darüber hinweg. Er erinnerte sich noch, mit welchem Gefühl der Erleichterung er die Nachricht von Irenens Verschwinden aufgenommen. Es war entsetzlich gewesen, sie sich als Gefangene in jenem Hause vorzustellen, wohin sie zurückgekehrt sein mußte, wie ein verwundetes Tier sich in seine Höhle schleppt, als Jo sie gesehen hatte, für wenige Minuten zurückgekehrt – nachdem sie auf einem Zeitungsplakat in der Straße die Nachricht gelesen: ›Tragischer Tod eines Architekten‹. Unlängst, an jenem Abend hatte ihn ihr Antlitz seltsam berührt; es war noch schöner, als er es in der Erinnerung hatte, aber wie eine Maske, die das Leben darunter verbarg. Eine junge Frau noch, vielleicht achtundzwanzig. Na ja! Höchstwahrscheinlich hatte sie jetzt schon einen andern Liebhaber. Aber bei diesem rebellischen Gedanken – denn verheiratete Frauen sollten kein zweites Mal lieben, einmal war schon zu viel gewesen – schnellte sein Fuß in die Höhe und mit ihm der Kopf des Hundes Balthasar. Das kluge Tier stand auf und blickte dem alten Jolyon ins Gesicht. ›Spazierengehen?‹ schien er zu fragen; und der alte Jolyon erwiderte: »Gehen wir, alter Bursche!«

 

Langsam, wie es die beiden gewöhnt waren, schritten sie über die Sternbilder von Butterblumen und Gänseblümchen und betraten die Farnkrautpflanzung. Diese Anlage, wo noch sehr wenig wuchs, war wohlbedacht tiefer als der übrige Rasen angelegt worden, so daß sie wieder bis zu seiner Höhe emporwachsen und so den Eindruck der Unregelmäßigkeit erwecken konnte, was ja bei der Anlage eines Gartens so wichtig war. Der Hund Balthasar liebte die Felsblöcke und die Erde dazwischen, wo er manchmal einen Maulwurf fand. Der alte Jolyon ging immer eigens hindurch, nur, weil die Pflanzung einmal schön werden sollte, wenn sie es auch einstweilen noch nicht war; und er dachte oft: ›Varr muß herausfahren und danach schauen, er ist tüchtiger als Beech!‹ Denn Pflanzen verlangten genau wie Häuser oder wie menschliche Gebrechen die beste fachmännische Fürsorge. In der Pflanzung gab es viele Schnecken, und wenn seine Enkelkinder ihn begleiteten, wies er manchmal auf eine hin und erzählte die Geschichte des kleinen Jungen, der einmal fragte: ›Kann eine Pflaume laufen, Mutter?‹ ›Nein, mein Kind.‹ ›Pfui Teufel, dann hab' ich sicher einen dicken Schneck hinuntergeschluckt.‹ Und wenn sie vor Entsetzen in die Höhe sprangen und seine Hand packten, weil sie sich vorstellten, wie der dicke Schneck die Kehle des kleinen Jungen hinunterrutschte, dann zwinkerte er vergnügt mit den Augen. Sie verließen die Pflanzung: er öffnete die Zauntür, die gerade dort in das erste Feld hinausführte, ein großes, parkähnliches Gelände, von dem man mittels einer Ziegelmauer einen Gemüsegarten abgetrennt hatte. Diesen vermied der alte Jolyon, da er nicht zu seiner Stimmung paßte und ging den Hügel hinunter nach dem Teich zu. Der Hund Balthasar, der wußte, daß dort eine oder zwei Wasserratten hausten, hüpfte voraus in der Gangart eines alten Hundes, der jeden Tag denselben Spaziergang macht. Am Rande des Teiches blieb der alte Jolyon stehen und betrachtete eine Wasserlilie, die sich seit gestern geöffnet hatte; er wollte sie morgen Holly zeigen, sobald ›sein kleiner Liebling‹ die Magenverstimmung überstanden haben würde, die dem Genuß einer Tomate zum Frühstück gefolgt war – ihr kleiner innerer Mechanismus war so zart. Nun, da Jolly die Schule besuchte – es war sein erstes Semester – war Holly fast den ganzen Tag bei ihm, und heute fehlte sie ihm sehr. Er fühlte auch wieder den Schmerz, der ihn in letzter Zeit öfters behelligte – ein leises Ziehen in der linken Seite. Er sah zurück, den Hügel hinan. Der arme junge Bosinney hatte mit diesem Haus wirklich einen schönen Besitz geschaffen; wenn er am Leben geblieben wäre, hätte er sicher Karriere gemacht. Und wo war er jetzt? Vielleicht ging sein Geist noch hier um, an dem Orte seines letzten Wirkens und seiner tragischen Liebesgeschichte. Oder hatte sich der Geist Philip Bosinneys im All aufgelöst? Wer konnte es sagen? Der Hund da machte sich die Beine schmutzig! Und er wandte sich nach dem Wäldchen. Dort hatten die herrlichsten Glockenblumen geblüht, er wußte noch einige Stellen, wo die Sonne nicht hindrang; es sah aus, als wären kleine Stückchen blauen Himmels zwischen die Bäume gefallen. Er ging an den Kuhställen und Hühnerhäusern vorüber, die dort lagen, und verfolgte einen kleinen Pfad in das Dickicht der jungen Bäume hinein, um zu einer der Glockenblumenstellen zu gelangen. Balthasar, der wieder vor ihm herlief, stieß ein leises Knurren aus. Der alte Jolyon berührte ihn mit dem Fuß, der Hund jedoch stand regungslos, gerade mitten auf dem Weg, den er versperrte, und über den wolligen Rücken hin sträubte sich langsam das Haar. Ob es nun das Knurren und der Anblick des gesträubten Hundehaares oder ob es das Empfinden war, das den Menschen in einem Wald beschleicht, auch der alte Jolyon fühlte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Und dann bog der Pfad um eine Ecke; da lag ein alter, moosbewachsener Block, und darauf saß eine Frau. Ihr Gesicht war abgewandt, und sein erster Gedanke war: ›Diesen Weg hätte sie nicht betreten dürfen – ich muß eine Tafel ›Verbotener Weg‹ anbringen lassen!‹ – da wandte sie sich um. Grundgütiger Himmel! Dasselbe Antlitz, das er in der Oper gesehen – dieselbe Frau, an die er gerade gedacht hatte! In diesem Augenblick der Verwirrung sah er alles verschwommen, als ob ein Geist – ein sonderbarer Effekt, den das gleitende Sonnenlicht auf ihrem grau-violetten Kleid hervorrief! Und dann erhob sie sich und stand lächelnd da, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt. Der alte Jolyon dachte: ›Wie hübsch sie ist!‹ Sie sprach nicht, und er schwieg ebenfalls; und mit einer gewissen Bewunderung verstand er plötzlich den Grund dieses Schweigens. Sie war zweifellos um irgend einer Erinnerung willen hergekommen und dachte gar nicht daran, es mit einer herkömmlichen Ausrede zu verschleiern.

»Gib acht, daß der Hund nicht dein Kleid berührt,« sagte er, »er hat nasse Beine. Hierher, du!«

Aber der Hund Balthasar lief zu der Besucherin hin, die sich niederbeugte und seinen Kopf streichelte. Der alte Jolyon sagte rasch:

»Ich habe dich neulich abends in der Oper gesehen, aber du hast mich nicht bemerkt.«

»O doch!« entgegnete sie.

Er fühlte eine feine Schmeichelei in ihren Worten, als hätte sie hinzugefügt: ›Glaubst du denn, daß man dich übersehen kann?‹ »Die andern sind alle in Spanien,« bemerkte er unvermittelt. »Ich bin allein hier; ich bin unlängst in die Stadt gefahren, in die Oper. Die Ravogli ist gut. Hast du schon die Kuhställe gesehen?«

Instinktiv lenkte er in einer so geheimnisvollen, fast aufregenden Situation seine Schritte nach seinem Besitztum zurück, und sie ging neben ihm her. Sie hatte einen etwas wiegenden Gang, wie ihn sehr schöne Französinnen oft haben; auch die Farbe ihres Kleides war eine Art französisches Grau. Er bemerkte zwei oder drei silberne Fäden in ihrem bernsteingelben Haar, das so seltsam mit den dunklen Augen und dem elfenbeinfarbenen Gesicht kontrastierte. Ein plötzlicher schräger Blick aus den samtbraunen Augen beunruhigte ihn. Er schien aus der Tiefe und von weither zu kommen, fast aus einer andern Welt oder wenigstens von jemand, der in dieser Welt nicht allzu heimisch ist. Und er fragte aufs Geratewohl:

»Wo lebst du jetzt?«

»In einer kleinen Etagenwohnung in Chelsea.«

Er wollte gar nicht wissen, womit sie sich beschäftigte, er wollte überhaupt nichts wissen; und doch entschlüpfte ihm die unmögliche Frage:

»Allein?«

Sie nickte. Es war eine Erleichterung, das zu wissen. Und es ging ihm durch den Sinn, daß, hätte das Schicksal es ein wenig anders gewollt, sie heute Herrin dieses Besitzes wäre und ihm, als dem Besucher, die Kuhställe zeigen würde.

»Lauter Aldernaykühe,« murmelte er; »sie geben die beste Milch. Die da ist ein schönes Tier. He, Myrtle!«

Die rehfarbene Kuh, deren Augen so sanft und braun wie die Irenens waren, stand vollkommen unbeweglich da; sie war gerade erst gemolken worden. Sie schaute sich nach ihnen um aus dem Winkel ihrer glänzenden, gutmütig-spöttischen Augen, und aus ihrem grauen Maul tröpfelte ein Faden Speichel in das Stroh hinunter. In dem dämmerigen Licht des kühlen Kuhstalls umgab sie ein Duft von Heu, Vanille und Ammoniak. Der alte Jolyon sagte:

»Bleib zum Dinner hier. Ich lasse dich im Wagen nach Hause fahren.«

Er sah, wie sie mit sich kämpfte; es war ja natürlich, daß Erinnerungen in ihr aufstiegen. Aber er wünschte ihre Gesellschaft; ein hübsches Gesicht, eine reizende Gestalt, Schönheit! Er war den ganzen Nachmittag allein gewesen. Vielleicht bemerkte sie seinen sehnsüchtigen Blick, denn sie erwiderte: »Danke, Onkel Jolyon, ich bleibe gern.«

Er rieb sich die Hände und sagte:

»Ausgezeichnet! Dann wollen wir hinaufgehn!« Und der Hund Balthasar lief vor ihnen her, wie sie langsam durch das Feld hinanstiegen. Die Sonne schien ihnen ins Gesicht, so daß er nicht nur jene silbernen Fäden sehen konnte, sondern auch zarte Linien, gerade tief genug, um, wie die Linien einer fein geprägten Münze, ihre Schönheit hervorzuheben – so wie ein Mensch aussieht, der sein Leben nicht mit andern teilt. ›Ich will sie über die Terrasse hineinführen,‹ dachte er, ›ich will sie nicht wie einen gewöhnlichen Besucher behandeln.‹

»Was treibst du den ganzen Tag?« fragte er.

»Ich gebe Musikunterricht; und außerdem interessiere ich mich noch für etwas anderes.«

»Arbeit!« sagte der alte Jolyon, hob die Puppe aus der Schaukel und glättete ihren schwarzen Unterrock. »Es gibt nichts Besseres, nicht wahr? Ich arbeite jetzt gar nichts mehr. Es geht mir gut. Wofür interessierst du dich sonst noch?«

»Ich suche Frauen zu helfen, die zu Schaden gekommen sind.« Der alte Jolyon verstand nicht gleich. »Zu Schaden?« wiederholte er. Plötzlich empfand er mit einem heftigen Schreck, daß sie genau dasselbe meinte, was er selbst mit diesem Ausdruck bezeichnet hätte. Sie half den Magdalenen von London! Was für ein unheimliches und erschreckendes Interesse! Doch da seine Neugier größer war als seine natürliche Abneigung, fragte er:

»Auf welche Art? Was tust du für sie?«

»Nicht viel. Ich habe kein überflüssiges Geld. Ich kann nur Sympathie geben und manchmal etwas zu essen.«

Unwillkürlich griff der alte Jolyon nach seiner Börse. Hastig sagte er: »Wie machst du sie denn ausfindig?«

»Ich gehe in ein Krankenhaus.«

»In ein Krankenhaus! Mein Gott!«

»Am meisten schmerzt mich, daß fast an allem einmal irgend etwas Schönes war.«

Der alte Jolyon strich das Kleid der Puppe glatt. »Schönheit!« rief er aus, »jawohl! Eine traurige Sache!« und er schritt auf das Haus zu. Er ging ihr durch eine Glastür mit noch nicht emporgezogener Markise voran und trat in das Zimmer, in dem er gewöhnlich die ›Times‹ studierte und eine landwirtschaftliche Zeitschrift mit riesigen Illustrationen der Mangoldwurzel und dergleichen, die von Holly mit Wasserfarben bunt bemalt wurden.

 

»In einer halben Stunde ist das Dinner fertig. Möchtest du dir inzwischen die Hände waschen? Ich werde dich in Junes Zimmer führen.«

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