Die dunkle Blume

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Viertes Kapitel

Als Mark ein leises Pochen an seiner Tür vernahm, war er zwar schon aufgestanden, kleidete sich jedoch nur langsam und verträumt an – es war so lustig, die Berge zu betrachten, die im Morgenlicht wie ungeheure Tiere dalagen. Der Kerl da, der den Kopf gerade über die Tatzen erhoben hatte und den sie heute besteigen wollten, schien sehr weit entfernt zu sein. Er öffnete die Tür nur einen Spalt weit und flüsterte:

»Ist es schon so spät?«

»Fünf Uhr; sind Sie noch nicht fertig?«

Es war furchtbar unhöflich von ihm, sie warten zu lassen! Und schnell war er unten in dem leeren Speisezimmer, wo eine verschlafene Kellnerin schon den Kaffee hereinbrachte. Anna saß allein da. Sie trug eine flachsblumenblaue Hemdbluse, die den Hals frei ließ, einen kurzen grünen Rock und einen kleinen graugrünen Samthut mit einer Birkhahnfeder. Warum konnten die Frauen nicht immer so hübsche Sachen tragen und so famos aussehen? Und er sagte:

»Wie prachtvoll Sie aussehn, Mrs. Stormer!«

Sie gab ihm lange keine Antwort, so daß er fürchtete, seine Bemerkung wäre vielleicht unhöflich gewesen. Aber sie sah wirklich prachtvoll aus, so lebhaft, kernig und glückstrahlend!

Sie gingen durch einen Lärchenwald den Hügel hinunter nach dem Bach, schritten über die Brücke und begannen sofort den Aufstieg auf einem Pfad durch die Heufelder. Wie konnte nur der alte Stormer an einem solchen Morgen im Bette bleiben! Bauernmädchen in blauleinenen Röcken waren schon an der Arbeit, in Bündel zu sammeln, was die Männer gemäht. Eines der Mädchen, das am Rande des Feldes rechte, hielt inne und nickte ihnen schüchtern zu. Sie hatte ein Madonnengesicht, so ruhig, ernst und lieb, mit feingeschwungenen Brauen – es war eine Freude, dies Antlitz zu betrachten. Der Junge sah sich nach ihr um. Ihm, der zum erstenmal von England fort war, schien alles seltsam und märchenhaft. Die Hütten mit ihren langen, breiten, dunkelbraunen Holzgalerien und den weit vorstehenden Strohdächern, die tief herunterreichten; die hellen Kleider der Bauersfrauen; die freundlichen, kleinen, braunweißen Kühe mit den stumpfen, rauchgrauen Mäulern. Sogar die Luft empfand man anders, diese frische, köstliche, brennende Wärme, die nur leicht das eisige Schweigen dort oben zu streifen schien; und die entzückende Anmut der Dörfer am Fuße der Berge – Duft von Fichtenharz, sonnige Lärchenwälder und die Blumen und Gräser der Matten! Doch am seltsamsten war das Gefühl in ihm: etwas wie Stolz, ein Bewußtsein von Wichtigkeit, eine sonderbare Freude, mit ihr allein, von einer so herrlichen Frau zum Gefährten erwählt zu sein.

Sie überholten alle übrigen Wanderer, die denselben Weg gingen, breitschultrige, unrasierte Deutsche, die ihre Röcke aufgeschnallt hatten, schwere Alpenstöcke nachschleiften, grüne Rucksäcke trugen und schwerfällig immer in gleichem Tempo marschierten. Sie brummten, als Anna und der Junge vorbeikamen: »Nur keine Eile!«

Diese beiden aber konnten nicht schnell genug gehen, um mit ihrer Begeisterung Schritt zu halten. Es war kein schwieriger Aufstieg, sondern eigentlich nur ein Trainingsmarsch zur Spitze der Nuvolau empor; noch vor Mittag waren sie oben, und bald darauf begannen sie, beide sehr hungrig, den Abstieg. Als sie in das kleine Eßzimmer der Cinque-Torre-Hütte traten, fanden sie es von einer Gesellschaft von Engländern besetzt, die Omeletten aßen. Man konnte merken, daß sie Anna wiedererkannten, obwohl sie ihr Gespräch nicht unterbrachen, das mit gleichem Eifer weitergeführt wurde, und doch noch immer mit jenem affektierten müden Tonfall, der ihnen so vornehm schien. Die meisten von ihnen hatten Feldstecher umgehängt, und das Zimmer war besät mit Photographenapparaten. Ihre Gesichter sahen sich zwar nicht sehr ähnlich, doch ließen sie alle beim Lächeln die Mundwinkel hängen und zogen auf ganz eigene Art die Augenbrauen in die Höhe, so daß sie einem wie Vervielfältigungen eines einzigen Typus vorkamen. Auch hatten die meisten etwas vorstehende Zähne, als hätte das beständige Verziehen des Mundes sie nach vorne gedrängt. Und sie aßen, wie Leute zu essen pflegen, die ihre leiblichen Gelüste nicht gern zur Schau tragen und es vorziehen, überhaupt nichts riechen oder schmecken zu müssen.

»Aus unserm Hotel«, flüsterte Anna. Sie nahmen Platz und bestellten Rotwein und Schnitzel. Die Dame, die das Kommando der englischen Gesellschaft zu führen schien, erkundigte sich jetzt nach Mr. Stormers Befinden, er wäre doch hoffentlich nicht krank? Nicht? Nur zu bequem? Wirklich! Er wäre doch ein so ausgezeichneter Kletterer, wie sie gehört hätte. Dem Jungen schien es, als hätte die Dame etwas an ihnen auszusetzen. Die ganze Konversation wurde von ihr, einem Herrn mit zerknülltem Kragen, der ein Tuch zum Schutz gegen die Sonne um den Kopf gewickelt trug, und einem kleinen, untersetzten, graubärtigen Mann in dunkler Norfolk-Jacke geführt. Sobald ein jüngeres Mitglied der Gesellschaft sprach, nahm man die Bemerkung mit hochgezogenen Brauen und gesenkten Augenlidern hin, als hätte man sagen wollen: Ah! Aus dir kann noch was werden!

»Nichts in meinem Leben bereitet mir größeren Kummer als der Hang der menschlichen Natur, im Formwesen zu erstarren.« Die Dame, die das Kommando führte, sprach diese Worte, und die jungen Leute nickten wie zustimmend mit den Köpfen. Sie sehen genau wie Perlhühner aus, dachte der Junge, mit den kleinen Köpfen, den abfallenden Schultern und den gesprenkelten grauen Jacken!

»Ah, meine verehrte gnädige Frau« – der Herr mit dem zerknüllten Kragen sprach jetzt –, »ihr Schriftstellerinnen verhöhnt stets den löblichen Zustand der Gleichförmigkeit. Dieser Geist des Zweifels ist die traurigste Erscheinung unsrer Zeit. Noch nie ist der Aufruhr größer gewesen, besonders unter der Jugend. Daß ein jedes Individuum ein selbständiges Urteil haben soll, ist ein ernstliches Symptom nationaler Degeneration. Aber das ist kein Thema …«

»Das Thema ist zweifellos von höchstem Interesse für alle jungen Leute.« Und wieder erhoben die jungen Leute ihre Köpfe und bewegten sie langsam hin und her.

»Meine verehrte gnädige Frau, wir sind nur zu sehr geneigt, alles, was unser Interesse erregt, auch ohne weiters diskutabel zu finden. Wir lassen diese Theorien sich in unser Gedankenleben einschleichen, bis sie nach und nach unsern Glauben unterwühlen und am Ende vernichten.«

Einer der jungen Leute unterbrach ihn plötzlich: »Madre« – und schwieg sogleich.

»Ich hoffe«, fing die Dame wieder an, »man wird mich nicht der Zügellosigkeit beschuldigen, wenn ich – was stets meine Meinung war – erkläre, daß Gedanken nur dann gefährlich sind, sobald man sich nur von der rohen Intelligenz leiten läßt. Wenn uns die Kultur nichts zu bieten hat, dann fort mit aller Kultur! Wenn jedoch die Kultur, wie ich überzeugt bin, unentbehrlich ist, dann müssen wir die Gefahren, welche sie nach sich zieht, auch mit in den Kauf nehmen.«

Wieder nickten die jungen Leute mit den Köpfen, und wieder begann der jüngere der beiden jungen Männer: »Madre …«

»Gefahren? Gibt es für kultivierte Menschen überhaupt Gefahren?«

Wer hatte das gesagt? Jede Augenbraue ging in die Höhe, jeder Mundwinkel zog sich nach abwärts, und Schweigen trat ein. Der Junge starrte seine Gefährtin an. Mit welch seltsamer Stimme sie diese paar Worte dazwischengerufen hatte! Und in ihren Augen schien eine Flamme aufzulodern. Da sprach der kleine graubärtige Mann – seine etwas flüsternde Stimme klang hart und schneidend:

»Wir sind alle nur Menschen, meine verehrte Gnädige.«

Der Junge fühlte sein Herz heftig schlagen, als Anna auflachte. Es war geradeso, als hätte sie damit gesagt: Freilich! Aber ihr auf keinen Fall! Und er erhob sich und folgte ihr zur Tür hinaus.

Die Gesellschaft der Engländer hatte bereits angefangen – vom Wetter zu sprechen.

Die beiden gingen eine Zeitlang schweigend nebeneinander, bis Anna sagte:

»Es war Ihnen wohl peinlich, daß ich lachte?«

»Ich fürchte, Sie haben sie verletzt.«

»Das hab ich ja gewollt – diese ›englischen Moralhelden‹! Bitte, seien Sie mir nicht böse! Es waren doch ›englische Moralhelden‹, nicht wahr – jeder einzelne?«

Sie blickte ihn scharf an, so daß er fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen schoß und ihn ein Schwindel ergriff, als ob ihn etwas vorwärts zöge.

»Sie haben kein Blut, diese Leute! Ihre Stimme, ihre hochmütigen Blicke, die einen auf und ab begaffen! Oh, ich kenne sie durch und durch! Diese Person mit ihrem Liberalismus – um kein Haar besser als die andern! Wie ich sie alle hasse!«

Er hätte sie auch gern gehaßt, weil sie es tat, aber ihn hatten sie nur amüsiert.

»Sie sind keine Menschen! Sie fühlen nicht! Eines Tages werden Sie sie kennenlernen. Dann werden sie Ihnen nicht mehr amüsant vorkommen!«

Sie fuhr mit ruhiger, fast träumerischer Stimme fort:

»Warum kommen sie eigentlich her? Hier ist die Welt noch immer jung und warm und schön. Warum bleiben sie nicht bei ihrer Kultur, wo keiner weiß, was Schmerz und was Hunger ist, und die Menschen kein Herz im Leibe haben? Fühlen Sie nur!«

Der Junge war so verwirrt und bestürzt, daß er nicht recht wußte, ob es in ihrem Herzen oder in seiner Hand so heftig pulsierte. Freute er sich, oder tat es ihm leid, als sie seine Hand losließ?

»Ach was! Diesen Tag können sie uns nicht verderben. Ruhen wir ein wenig aus.«

Am Rande des Lärchenwaldes, wo sie sich niederließen, blühten kleine Bergnelken mit zackigen Rändern und von wunderbar süßem Duft rund um sie her, und Anna erhob sich bald, um einen Strauß zu pflücken. Er jedoch blieb liegen, und ein seltsames Gefühl ergriff ihn. Das Blau des Himmels, das grüne Gefieder der Lärchenbäume und die Berge kamen ihm ganz anders vor als am frühen Morgen.

 

Sie kam zurück, beide Hände voll von den kleinen Bergnelken, und ließ sie zwischen ihren Fingern niederrieseln. Sie fielen ihm alle über Antlitz und Nacken. Noch nie hatte er solch süßen Duft verspürt, niemals ein solch sonderbares Empfinden wie in diesem Augenblick erlebt. Sie hängten sich in sein Haar, bedeckten seine Stirn, seine Augen, eine hatte sich sogar auf seine Lippen niedergelassen, und er blickte durch die gezackten Blütenblätter zu ihr auf. In seinem Auge mußte dabei etwas Wildes aufgeleuchtet haben, etwas von den Gefühlen, die sein Herz verwirrten, denn ihr Lächeln erstarb; sie trat ein paar Schritte von ihm zurück und stand mit abgewandtem Gesichte da. Bestürzt und unglücklich sammelte er die zerstreuten Blumen; und erst als er jede einzelne aufgelesen hatte, erhob er sich und brachte sie schüchtern zu ihr, die noch immer an demselben Fleck stand und in die Tiefen des Lärchenwaldes starrte.

Fünftes Kapitel

Was wußte er denn von Frauen, daß er sie hätte verstehen sollen? Während seiner Schulzeit hatte er keine kennengelernt, in Oxford nur diese einzige. Wenn er in den Ferien zu Hause war, sah er nur seine Schwester Cicely. Die zwei Liebhabereien ihres Vormunds, Fischen und das Sammeln von Antiquitäten seiner heimatlichen Grafschaft, machten ihn jeder Gesellschaft abhold, so daß sein kleines Herrenhaus in Devonshire, mit dem dunkeln eichenen Holzwerk und dem verwilderten, von Steinmauern umschlossenen Park am Bach, jahrein, jahraus keine Weiberröcke zu sehen bekam, ausgenommen die von Cicely und der alten Gouvernante Miß Tring. Zudem war der Junge schüchtern. Nein, nichts hatte sich in seiner kaum neunzehnjährigen Vergangenheit ereignet, wonach er sich hätte richten können. Er gehörte nicht zu jenen Jünglingen, die stets an Eroberungen denken. Schon der bloße Gedanke an eine Eroberung schien ihm niedrig, gemein, entsetzlich. Es mußten schon viele Anzeichen vorhanden sein, ehe es ihm einfiel, daß eine Frau in ihn verliebt sein könnte, ganz besonders eine, zu der er emporsah und die ihm so herrlich dünkte. Denn angesichts der Schönheit war er demütig, kam er sich schwerfällig und unbeholfen vor. Unbewußt fühlte er, daß diese Seite des Lebens heilig war und man sich ihr nur zitternd nahen dürfe. Je mehr seine Bewunderung wuchs, um so scheuer und furchtsamer wurde er. Und daher fühlte er sich eingeschüchtert nach dem einen leidenschaftlichen Augenblick, als sie die Blüten gepflückt und über ihn gestreut hatte; und auf dem Heimweg ging er schweigsamer denn je neben ihr her, verlegen und in tiefster Seele aufgewühlt.

Wenn sein Herz, dem bisher jede Sorge fremd geblieben war, jetzt in Aufruhr geriet, was mußte dann in ihr vorgehen, die schon so lange im geheimen auf das Erwachen dieser Wirrnis gehofft hatte? Auch sie sprach kein Wort.

Als sie kurz vor dem Dorf an einer offenstehenden Kirchentür vorbeikamen, sagte sie:

»Warten Sie nicht auf mich, ich möchte eine Zeitlang hierbleiben.«

In dem Zwielicht der leeren Kirche war nur eine Gestalt zu sehen, eine Bäuerin in schwarzem Schal, die wunderbar regungslos auf den Knien lag. Er wäre gern dort geblieben. Die kniende Gestalt, das Glitzern des Sonnenlichts, das sich in das Halbdunkel ergoß! Lange genug zögerte er, bis er sah, wie auch Anna in der Stille niederkniete. Betete sie? Wieder empfand er die wilde Unruhe, die ihn erfaßt hatte, als sie die Blumen pflückte. Herrlich sah sie aus, wie sie so auf den Knien lag! Doch es war häßlich von ihm, sie zu bewundern, wo sie im Gebet versunken war! Und rasch wandte er sich um und ging weiter. Aber jenes heftige, wehe und doch süße Gefühl ließ ihn nicht mehr los. Er schloß die Augen, um ihr Bild nicht mehr vor sich zu haben – doch sofort stand sie zehnmal deutlicher vor ihm, wurde dies Gefühl zehnmal stärker. Er stieg zum Hotel empor; dort traf er auf der Terrasse seinen Professor. Und sonderbarerweise ließ ihn sein Anblick so kühl, als wäre er der Portier des Hotels gewesen. Stormer schien einfach gar nicht in Betracht zu kommen; er schien es gar nicht zu wünschen, in Betracht gezogen zu werden. Und obendrein war er ja so alt, fast fünfzig!

Der Mann, der so alt war, stand in charakteristischer Haltung da, die Hände in den Taschen seiner Norfolk-Jacke, die eine Schulter etwas in die Höhe gezogen und den Kopf ein ganz klein wenig auf die Seite geneigt, als hätte er über etwas spötteln wollen. Wie Lennan auf ihn zukam, lächelte er, ohne daß sich der Ausdruck seiner Augen veränderte.

»Nanu, junger Mann, wo haben Sie denn meine Frau gelassen?«

»In einer Kirche, Herr Professor.«

»Aha! Davon läßt sie nicht ab! Haben Sie sich die Beine ablaufen müssen? Nicht? Dann wollen wir ein wenig herumspazieren und plaudern.«

Mit ihrem Gatten so auf und ab zu gehen und sich zu unterhalten schien ganz natürlich, geriet mit jenen neuen Gefühlen nicht einmal in Konflikt, ließ ihn auch nicht die leiseste Scham darüber empfinden. Er wunderte sich nur ein wenig, daß sie ihn hatte heiraten können, doch nur ein ganz klein wenig. Nur ganz schattenhaft und akademisch war diese Verwunderung, so wie er sich in früheren Tagen darüber gewundert hatte, daß seine Schwester mit Puppen spielen konnte. Wenn noch ein anderes Gefühl daneben aufkam, so war es nur der Wunsch, von ihm loszukommen und wieder den Berg hinunter zur Kirche zu gehen. Alles schien jetzt kalt und einsam zu sein, nach dem langen mit ihr verbrachten Tage, als ob er sich dort oben zurückgelassen hätte, stundenlang mit ihr wandernd oder neben ihr in der Sonne liegend. Worüber redete der alte Stormer eigentlich? Über den Unterschied der Ehrbegriffe bei den alten Griechen und Römern. Stets in der Vergangenheit – schien rein zu glauben, daß die Gegenwart nichts mehr vom ›guten Ton‹ wüßte. Und er sagte:

»Auf dem Berge haben wir ein paar ›englische Moralhelden‹ getroffen, Herr Professor.«

»Ah! Irgendeine besondere Sorte?«

»Ein paar von ihnen modern, die andern nicht – waren sich aber eigentlich alle gleich, glaub ich.«

»Soso! ›Moralhelden‹ heißen Sie die Leute?«

»Jawohl, Herr Professor, aus unserm Hotel. Mrs. Stormer gab ihnen diesen Namen. Sie taten so großartig.«

»Aha!«

Es lag etwas Ungewöhnliches in dem Ton, womit er dieses kleine Wort äußerte. Und der Junge starrte ihn an, zum erstenmal schien ein wahrer Mann vor ihm zu stehen. Dann schoß ihm das Blut in die Wangen, denn sie kam daher. Würde sie zu ihnen kommen? Wie prachtvoll sie aussah, von der Sonne verbrannt, und ihr Gang so elastisch, als wäre sie eben erst aufgebrochen! Sie trat jedoch ins Haus, ohne sich nach ihnen umzuwenden. Hatte er sie vielleicht verletzt, beleidigt? Er entschuldigte sich und ging auf sein Zimmer.

Wieder stand er am Fenster, von dem er am selben Morgen die Berge betrachtet hatte, die im Dämmerlicht wie Löwen hingestreckt lagen, und blickte in die Sonne, die hinter dem Horizont versank. Was war ihm nur geschehen? Er kam sich so ganz anders vor, so ganz anders! Es war eine andere Welt. Und die seltsamste Empfindung beschlich ihn: als ob die Blumen wieder über Antlitz, Nacken und Hände rieselten, ihre weichen, ausgezackten Ränder ihn kitzelten, als ob er wieder ihren verwirrenden Duft einsöge. Und er schien ihre Stimme zu hören, wie sie sagte: ›Fühlen Sie nur!‹, und ihren Herzschlag wieder unter seiner Hand zu spüren.

Sechstes Kapitel

Anna, die mit der Bäuerin im schwarzen Schal in der Kirche allein war, betete nicht. Während sie auf den Knien lag, empfand sie nur ein schmerzhaftes Gefühl der Auflehnung. Warum hatte das Schicksal dies Empfinden in ihrem Herzen erweckt, ihr Dasein plötzlich aufgehellt, wenn Gott ihr die Erfüllung versagte? Ein paar halbzerdrückte Bergnelken waren in ihrem Gürtel steckengeblieben, und ihr Duft suchte sich gegen den leisen Geruch von Moder und Weihrauch zu behaupten. Solange sie diese verführerischen Blumen trug, die so voll von Erinnerungen waren, konnte sie unmöglich beten. Aber wollte sie denn beten? Wünschte sie in der Stimmung jener armen Seele im schwarzen Schal zu sein, die sich auch nicht um Haaresbreite von ihrem Platz gerührt hatte, seit sie sie betrachtete, sondern die ganz in demütiger, ruhevoller Andacht aufging, wie befreit von des Lebens Bürde, als ob sie in völligem Vergessen Erlösung fände? Aber ach, was wäre ein so mühsames, ein so wenig aufregendes Leben wert, tagein, tagaus, Stunde für Stunde, wenn es die höchste Freude sein sollte, in ergebener Gedankenlosigkeit so dazuknien? Ihr Anblick war schön, aber traurig. Und Anna überkam ein Verlangen, zu ihrer Nachbarin zu gehen und sie zu bitten: Sag mir doch deine Sorgen, wir sind ja beide Frauen! Vielleicht hatte sie einen Sohn verloren, vielleicht jemand, den sie liebte oder sich nur einbildete zu lieben. Die Liebe! … Warum sollte sich ein Geist unendlich sehnen, warum sollte ein Körper voll Kraft und Freude aus Mangel an Liebe langsam verschmachten? War in dieser weiten Welt nicht genug vorhanden, daß auch für sie, Anna, ein wenig übrigblieb? Sie wollte ihn nicht unglücklich machen, denn sie würde genau wissen, wann er von ihr genug hatte; sie würde dann sicher noch soviel Kraft und Stolz haben, ihn freizugeben. Denn natürlich würde er ihrer müde werden. In ihrem Alter konnte sie nicht mehr hoffen, einen jungen Menschen mehr als wenige Jahre, vielleicht nur wenige Monate festzuhalten. Aber würde sie ihn überhaupt jemals festhalten können? Die Jugend war so grausam, sie hatte kein Herz! Und darin kam ihr wieder die Erinnerung an seine Augen, wie sie verwirrt, fast wild zu ihr aufgeblickt, als sie die Blumen über ihn hatte rieseln lassen. Diese Erinnerung versetzte sie in eine Art Taumel. Ein Blick von ihr, eine Berührung nur – und er hätte sie in die Arme geschlossen. Dessen war sie sicher, doch wagte sie kaum an das zu glauben, was ihr so viel bedeutet hätte. Und plötzlich schien ihr alle Pein und Qual, die ihr bevorstand, welche Wendung die Sache auch nehmen mochte, doch zu grausam und unverdient! Sie erhob sich. Der letzte Sonnenstrahl fiel gerade durch die offene Tür; er war nur ein ganz kleines Stück von der Bäuerin entfernt, und Anna beobachtete ihn. Würde er sich weiterschleichen und sie berühren, oder würde die Sonne hinter den Bergen versinken und der Strahl erlöschen? Ohne etwas von dieser Frage an das Schicksal zu ahnen, lag die Gestalt im schwarzen Schal unbeweglich auf den Knien. Und der Sonnenstrahl schlich weiter. Wenn er sie berührt, wird er mich lieben, wenn auch nur für eine Stunde; wenn er zu früh vergeht … Und der Sonnenstrahl schlich weiter. Dieser schwache Lichtstreif mit den tanzenden Stäubchen, war er wirklich ein Bote des Schicksals, war er wirklich der Prophet der Liebe oder der Verzweiflung? Langsam bewegte er sich weiter und stieg empor, als die Sonne sank; er erhob sich über jenem gebeugten Haupt, schwebte wie in einem goldenen Nebel, strich weiter und war auf einmal erloschen.

Unsichern Schrittes, ohne etwas deutlich zu sehen, verließ Anna die Kirche. Warum sie auf der Terrasse an ihrem Gatten und dem Jungen vorbeiging, ohne sie anzusehen, hätte sie nicht genau sagen können – vielleicht, weil der Gefolterte die Folterknechte nicht grüßen mag. Als sie auf ihr Zimmer kam, fühlte sie sich todmüde, legte sich auf ihr Bett hin und schlief fast sofort ein.

Ein Geräusch weckte sie auf, und da sie das rücksichtsvolle Klopfen ihres Gatten erkannte, gab sie keine Antwort, denn es war ihr gleichgültig, ob er hereinkam oder nicht. Er trat leise ein. Wenn sie ihm nicht zeigte, daß sie wach war, würde er sie auch nicht wecken. Sie lag still und beobachtete ihn, wie er sich rittlings auf einen Stuhl setzte, die Arme auf der Lehne kreuzte, sein Kinn darauf ruhen ließ und sie anstarrte. Es fügte sich so, daß sein Gesicht das einzige war, was sie durch den Schleier ihrer Wimpern genau sehen konnte, und um so deutlicher schien es, weil sie sonst nichts andres wahrnahm. Sie schämte sich gar nicht dieser langen gegenseitigen Betrachtung, bei der ihre Lage so vorteilhaft war. Er hatte ihr nie gezeigt, was in ihm vorging, hatte ihr nie enthüllt, was hinter jenen hellen, spöttischen Augen sich abspielte. Vielleicht würde sie es jetzt zu sehen bekommen! Und sie lag da und vertiefte sich in seinen Anblick mit dem gespannten Interesse, mit dem man ein kleinwinziges Unkraut durch ein Mikroskop betrachtet und gewahr wird, wie seine unbedeutende Gestalt die Größe und Wichtigkeit eines Treibhausgewächses annimmt. Der Gedanke arbeitete in ihr: Er sieht mich mit seinem wahren Selbst an, da er jetzt keinen Grund hat, sich vor mir zu verstellen. Zuerst schienen seine Augen durch ihren gewöhnlichen hellen Ausdruck maskiert, sowie sein ganzes Gesicht durch seine gewohnte schickliche Förmlichkeit; allmählich aber veränderte er sich so sehr, daß sie ihn kaum wiedererkannte. Diese Förmlichkeit, dieser helle Ausdruck lösten sich von dem los, was hinter ihnen lag, wie sich Reif und Tau vom Gras loslösen. Und ihr war's, als ob sich ihre innerste Seele zusammenkrampfte, als ob sie wirklich zu dem würde, was er in ihr sah: ein Etwas, das man einfach übergehen konnte, ein Garnichts. Ja, sein Gesicht verriet deutlich, daß er etwas ihm Unverständliches und daher nicht Beachtenswertes betrachtete; etwas, das keine Seele hatte; etwas von einer andern und inferioren Gattungsart, das einen Mann nicht sonderlich interessieren konnte. Sein Gesicht war wie das lautlose Geständnis eines von ihm gezogenen Schlusses, ein so intimes und bestimmt ausgeprägtes Geständnis, daß es unbedingt aus seinem innersten Herzen kommen, instinktiv, unabänderlich sein mußte. Das also war sein wahres Selbst! Ein Mann, der das Weib verachtet! Ihr erster Gedanke war: Und der ist verheiratet – welch ein Los! Ihr zweiter: Wenn er das fühlt, fühlen es vielleicht Tausende von anderen Männern! Bin ich und sind alle übrigen Frauen tatsächlich das, wofür sie uns halten? Die Überzeugung in seinem starren Blick, die felsenfeste, unerschütterliche Überzeugung, hatte sie angesteckt; und einen Augenblick lang fühlte sie sich darunter wie vernichtet. Dann revoltierte ihr Geist mit solcher Heftigkeit dagegen, und das Blut pulsierte so stark in ihr, daß sie kaum richtig dazuliegen vermochte. Wie wagte er es, sie für so etwas zu halten – für ein Nichts, für ein Bündel unerklärlicher Launen, Stimmungen, für seelenlose Materie? Tausendmal: nein! Er war der Prosaische, der Seelenlose, der Gottlose, der in seiner widerlichen Überlegenheit ihr Sein und mit ihr das Sein aller Frauen so leugnen konnte! Sein starrer Blick schien ihr zu sagen, daß er in ihr – nur eine Puppe sah, die mit soundso vielen Gewändern herausgeputzt war, als da hießen: Seele, Geist, Rechte, Verantwortung, Würde, Freiheit – nichts weiter als so viele leere Worte. Es war schändlich, es war entsetzlich, daß er sie in diesem Licht betrachten sollte! Und ein wahrhaft furchtbarer Kampf hob in ihr an zwischen dem Wunsch, aufzuspringen und es laut herauszuschreien, und dem Bewußtsein, daß es lächerlich, jeder Würde bar, geradezu verrückt wäre, ihm zu zeigen, daß sie etwas verstünde, was er nie zugeben, ja nicht einmal wissen würde, daß er's ihr enthüllt hatte. Und dann kam ihr etwas wie Zynismus zu Hilfe. Wie komisch doch das Eheleben war – all die langen Jahre mit ihm verbracht zu haben und nicht zu ahnen, was sich im Grunde seines Herzens verbarg! Sie hatte das Gefühl, daß, wenn sie jetzt auf ihn zuginge und ihm sagte: Ich bin in den Jungen verliebt, er nur die Mundwinkel hängen lassen und mit der denkbar spöttischsten Stimme erklären würde: Wirklich! Das ist aber interessant!, daß es nicht um ein Jota seine Meinung von ihr ändern und ihn nur in seiner Überzeugung bestärken würde, daß sie nicht der Beachtung wert, unverständlich, nur eine inferiore, sonderbare Abart von Lebewesen und von keinem wirklichen Interesse für ihn wäre.

 

Und als sie gerade fühlte, daß sie sich nicht länger zurückhalten könne, stand er auf, schlich auf den Zehen zur Tür, öffnete sie geräuschlos und ging hinaus.

Im nächsten Augenblick sprang sie auf. So! Sie war also an einen gekettet, für den sie nicht, für den gewissermaßen kein Weib zu existieren schien! Es war ihr, als hätte sie jetzt unvermutet eine Erfahrung von geradezu überwältigender Wichtigkeit gemacht und damit den Schlüssel zu allem gefunden, was ihr bisher so rätselhaft und hoffnungslos in ihrer Ehe erschienen war. Wenn er sie wirklich aus ganzem Herzen heimlich verachtete, brauchte auch sie für einen so trockenen, so engherzigen und von vornherein stupiden Menschen nur ein Gefühl der Verachtung übrig zu haben. Aber sie wußte recht gut, daß sogar Verachtung das nicht erschüttern könnte, was sie in seinem Gesicht gelesen hatte; durch seine pedantische, langweilige Überzeugung von seiner Überlegenheit hatte er sich wie mit undurchdringlichen Mauern umgeben. Er hatte sich auf immer verschanzt, und sie würde stets Sturm gegen ihn laufen müssen. Doch – was lag jetzt noch daran?

Während sie sich sonst rasch und fast sorglos ankleidete, verwandte sie an diesem Abend lange Zeit auf ihre Toilette. Ihr Hals war von der Sonne stark verbrannt, und sie zögerte, ungewiß, ob sie seine Zigeunerfarbe durch Puder verbergen oder sie zeigen sollte. Sie puderte sich am Ende doch nicht, denn sie merkte, daß ihr die braune Farbe zu ihren Gletschereisaugen unter den schwarzen Wimpern und ihrem Haar mit seinem oft überraschend aufblitzenden Flammenglanz besonders gut stand.

Als die Glocke zum Abendessen läutete, schritt sie an der Zimmertür ihres Mannes vorbei, ohne wie gewöhnlich anzuklopfen, und ging allein hinunter.

In der Vorhalle bemerkte sie einige von der englischen Gesellschaft aus der Schutzhütte. Sie grüßten sie nicht, sondern zeigten auf einmal Interesse für das Barometer, doch konnte sie fühlen, daß sie sie scharf ins Auge faßten. Sie setzte sich nieder, um zu warten, und merkte sogleich, wie der Junge von der andern Seite des Saales fast wie schlafwandelnd herüberkam. Er sprach kein Wort. Aber wie er aussah! Und das Herz begann ihr zu klopfen. War das der Augenblick, nach dem sie sich gesehnt? Wenn er jetzt wirklich gekommen war, würde sie es wagen, ihn auszunützen? Dann sah sie ihren Gatten die Treppe herunterkommen, sah ihn die englische Gesellschaft begrüßen, hörte ihre langgezogene schläfrige Unterhaltung. Sie blickte den Jungen an und sagte rasch: »War es schön heute?« Es bereitete ihr einen so unaussprechlichen Genuß, diesen Blick in seinem Gesicht festzubannen, diesen Blick, als hätte er in ihrer Betrachtung alles andere vergessen! Aus seinen Augen schien in dem Moment etwas Heiliges, etwas von der Wundersehnsucht der Unschuld und Natur zu sprechen. Das Bewußtsein war entsetzlich, daß dieser Blick im Handumdrehn verschwinden mußte, um vielleicht nie wieder in seinem Antlitz zu erscheinen – dieser herrlich schöne Blick! Ihr Gatte kam jetzt auf sie zu. Er sollte es nur sehen, wenn es ihm Vergnügen machte! Er sollte sehen, daß jemand sie bewundern konnte, daß sie nicht für jeden bloß eine Art von minderwertigem Lebewesen war. Ja, er mußte das Gesicht des Jungen gesehen haben; und dennoch veränderte sich sein Ausdruck nicht im geringsten. Er hatte also nichts bemerkt! Oder hielt er's für unter seiner Würde, etwas zu bemerken?