Die dunkle Blume

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Siebentes Kapitel

Für den jungen Lennan brach eine seltsame Zeit an, eine Zeit, da er keinen Augenblick lang recht wußte, ob er glücklich war – stets bemüht, mit ihr zusammen zu sein, ruhelos, wenn es nicht möglich war, betrübt, wenn sie mit andern sprach und sie anlächelte; aber auch wenn er mit ihr zusammen war, fühlte er sich ruhelos, unbefriedigt und litt unter seiner Schüchternheit.

Eines Morgens, als es regnete, spielte sie auf dem Klavier des Hotels, er hörte zu und glaubte mit ihr allein sein zu können. Da kam ein junger deutscher Geiger herein, blaß, in einem braunen Rock mit enger Taille, mit langen Haaren und kurzem Backenbart – ein Ekel, wahrhaftig! Natürlich forderte sie dieses junge Ekel bald auf, ihn zu begleiten, als hätte irgend jemand sein widerliches Gefiedel hören wollen! Jedes Wort, das sie an den Geiger richtete, und jedes Lächeln verletzte ihn furchtbar, da er deutlich merkte, um wieviel interessanter dieser Fremde als er selbst war. Und das Herz ward ihm schwerer und schwerer, und er dachte: Es sollte mir eigentlich nichts dran liegen, daß er ihr gefällt – 's liegt mir aber doch was dran! Was kann ich dafür? Es war abscheulich, zusehen zu müssen, wie sie lächelte und wie sich das junge Ekel zu ihr herabbeugte. Und obendrein sprachen sie deutsch miteinander, so daß er keine Ahnung hatte, was sie sagten, und alles noch unerträglicher wurde. Er hatte bisher nicht gewußt, daß solche Qualen möglich waren.

Und dann empfand er das Bedürfnis, sie zu verletzen. Aber das war ein häßlicher Gedanke – und übrigens, wie konnte er sie denn verletzen? Ihr lag ja nichts an ihm, für sie war er nur – ein Kind! Wenn sie ihn, der sich so alt fühlte, wirklich für ein Kind hielt, so wäre das einfach entsetzlich! Der Gedanke durchzuckte ihn, daß sie vielleicht den jungen Geiger gegen ihn ausspielte! Nein, so was würde sie niemals tun! Aber das junge Ekel sah gerade so aus wie einer, der ihr Lächeln falsch auslegen könnte. Wenn er doch nur etwas Ungehöriges täte, wie herrlich wär's, ihn zu einem Gang in den Wald aufzufordern und ihn nach der nötigen Aufklärung ordentlich zu verprügeln! Er wollte ihr nichts davon erzählen, er würde sich dadurch in ihren Augen nicht besser machen wollen. Er würde sich von ihr fernhalten, bis sie ihn wieder zurückrief. Doch plötzlich wurde der Gedanke, was er wirklich fühlen würde, wenn sie diesen jungen Mann statt seiner zum Freunde nähme, so lebendig, so schmerzhaft, so entsetzlich qualvoll, daß er unerwartet aufstand und zur Tür ging. Wollte sie ihm denn kein Wort sagen, ehe er das Zimmer verließ, wollte sie nicht versuchen, ihn zurückzuhalten? Tat sie es nicht, dann war gewiß alles zu Ende; das würde ihm beweisen, daß ihr jeder andere mehr bedeutete als er. Dieser kurze Weg zur Tür dünkte ihm wirklich wie der Gang zum Schafott. Wollte sie ihm nicht nachrufen? Er blickte zurück. Sie lächelte. Doch er konnte nicht lächeln; sie hatte ihn zu sehr verletzt! Er wandte den Kopf weg und stürmte zur Tür hinaus, barhäuptig in den Regen. Das Gefühl der Feuchtigkeit auf den Wangen gewährte ihm eine klägliche Genugtuung. Bald würde er bis auf die Haut durchnäßt sein! Vielleicht würde er noch krank! Hier, weit weg von seinen Angehörigen, würde sie ihn pflegen müssen; und vielleicht – vielleicht würde er ihr in seiner Krankheit nach und nach doch interessanter scheinen als jenes junge Ekel, und dann –! Ach, wenn er nur krank werden könnte!

Unter den triefenden Bäumen stieg er rasch zum Fuße des niederen Berges empor, der sich hinter dem Hotel erhob. Er schlug den Pfad ein, der zum Gipfel führte, und eilte sehr schnell vorwärts. Das Gefühl, daß ihm Unrecht widerfahren war, begann nachzulassen; er verspürte keine Lust mehr, krank zu werden. Der Regen hatte aufgehört, die Sonne kam hervor; er stieg weiter, immer höher. Er wollte rascher zum Gipfel kommen als jemals einer vor ihm! Das war wenigstens etwas, das er besser konnte als jenes junge Ekel! Die Fichten machten verkrüppelten Lärchen Platz und diese wieder dem Krummholz und Geröll; ganz außer Atem kletterte er weiter, wobei er sich an dem zähen Gebüsch emporzog; das Herz schlug ihm hörbar, der Schweiß strömte ihm vom Gesicht. Sein einziger Gedanke war jetzt, ob er die Spitze erreichen würde, ehe er erschöpft hinfiel. Er glaubte vor lauter Herzklopfen sterben zu müssen, aber lieber sterben als jetzt stehenbleiben und sich wenige Schritte vor dem Ziele besiegt erklären! Endlich stolperte er zu dem kleinen Plateau am Gipfel empor. Volle zehn Minuten lag er dort regungslos auf dem Gesicht, dann kugelte er sich auf die Seite. Sein Herz hatte aufgehört, so furchtbar zu schlagen; er atmete aus voller Brust auf, streckte die Arme über das dampfende Gras hin, fühlte sich wieder glücklich! Hier oben war's wundervoll! Die Sonne brannte heiß aus dem schon wieder hellblauen Himmel nieder. Wie winzig alles da drunten aussah, das Hotel, die Bäume, das Dorf, die Sennhütten, wie kleines Spielzeug! Noch nie zuvor hatte er die Freude, auf der Höhe zu sein, empfunden. Die zerrissenen Regenwolken, die längs der Berge nach Süden trieben, glichen in ihren gigantischen, weißen Gestalten einer flüchtenden Armee von Riesen mit Streitwagen und weißen Rossen. Plötzlich fiel ihm ein: Wie, wenn ich gestorben wäre, als mir das Herz so furchtbar schlug? Hätte es den geringsten Unterschied gemacht? Alles ginge geradeso wie bisher weiter, die Sonne schiene, der Himmel über mir wäre ebenso blau, und diese Spielsachen lägen ebenso im Tale unten. Seine ganze Eifersucht vor einer Stunde – ach, sie zählte nicht, er selbst zählte nicht! Was lag daran, ob sie zu dem Kerl im braunen Rock nett war? Was lag an irgend etwas, da doch das Weltall so groß war und er nichts weiter als ein Atom?

Am Rande des Plateaus war, um den höchsten Punkt zu bezeichnen, ein rohgezimmertes Kreuz errichtet worden, das sich deutlich vom blauen Himmel abhob. Es sah da oben häßlich aus und ganz am unrichtigen Platz, wie es so verkrümmt und hinfällig dastand; es schien ihm eine Taktlosigkeit, als hätten die Leute, von einer einzigen Idee besessen, es hier heraufgezerrt, ohne sich darum zu kümmern, ob es auch in die Umgebung paßte. Ebensogut hätte man einen jener Felsen in die schöne dunkle Kirche hineinstellen können, wo er Anna neulich zurückgelassen hatte, als hier ein Kreuz aufzurichten!

Das Bimmeln kleiner Glocken, Geschnüffel und Schlurfen weckte ihn aus seinen Gedanken; ein großer grauer Ziegenbock war heraufgekommen und roch an seinem Haar – der Führer einer Herde von Tieren mit sonderbar gelben Augen, länglichen Pupillen und possierlichen kleinen Bärten und Schwänzen, die sich voll ernsthafter Neugier bald um ihn sammelten. Furchtbar nette Biester – und freundlich! Was für famose Dinger zum Modellieren! Er lag still (diese in Gegenwart aller Tiere nötige Gewohnheit kannte er von seinem Vormund, der Fischer war), während der Führer eine Probe vom Geruch seines Nackens nahm. Es war ein angenehmes Gefühl, wie die lange rauhe Zunge über seine Haut fuhr, und erweckte in ihm ein merkwürdiges Bewußtsein guter Kameradschaft. Er unterdrückte den Wunsch, dem Tiere die Nase zu streicheln. Jetzt wollten sie scheinbar alle seinen Hals kosten; aber ein paar von ihnen waren zu schüchtern, und die Berührung ihrer Zunge kitzelte ihn nur, so daß er lachen mußte; bei diesem sonderbaren Laut wichen sie etwas zurück und starrten ihn an. Niemand schien bei ihnen zu sein, bis er in einiger Entfernung den Ziegenhirten gewahrte, einen Jungen von ungefähr seinem Alter, der ganz bewegungslos im Schatten eines Felsens saß. Wie einsam er hier oben den ganzen Tag sein mußte! Vielleicht unterhielt er sich mit seinen Ziegen. Er sah auch ganz danach aus. Hier oben mußte man auf seltsame Gedanken kommen, die Felsen und Wolken und Tiere und ihre eigentliche Bedeutung kennenlernen. Der Ziegenhirt stieß einen eigentümlichen Pfiff aus und etwas, Lennan konnte nicht recht sagen, was, war unter den Ziegen zu bemerken, ein Ruf wie ›Hier sind wir, Herr!‹ schien von ihnen zu kommen. Dann kam der Hirt aus dem Schatten hervor und ging zum Rande des Plateaus hinüber, und zwei Ziegen, die dort weideten, drückten ihre Nase in seine Hand und rieben sich an seinen Beinen. Es sah wunderschön aus, wie die drei so am Bergrand standen und wie die Gruppe sich vom Himmel abhob …

An jenem Abend wurde das Speisezimmer nach dem Diner zum Tanzen ausgeräumt, so daß sich die Gäste fröhlich und unbehindert fühlen konnten. Und bald darauf begann tatsächlich ein Paar in der schüchternen Art, wie sie Hotelgästen eigen ist, über den Boden hin und her zu walzen. Dann stürzten sich plötzlich drei Paare von Italienern in den Tanz, sie wirbelten in einem fort dahin und sahen einander heiß in die Augen; von ihrem Beispiel angeregt, fingen einige Amerikaner an, sich leicht hin und her zu drehen. Danach setzte sich ein englisches ›Moralheldenpaar‹ mit vorsichtig amüsierten Mienen in Bewegung. Lennan schien es, daß sie alle recht gut tanzen konnten, viel besser als er. Wagte er es, sie aufzufordern? Da sah er, wie der junge Geiger auf sie zuging, wie sie sich erhob, seinen Arm nahm und mit ihm in den Tanzsaal verschwand; mit einem wehen Gefühl des Besiegtseins preßte er die Stirn gegen eine Fensterscheibe und blickte ins Mondlicht hinaus, ohne etwas zu sehen. Er hörte seinen Namen, sein Professor stand neben ihm.

»Wir beide, Lennan, müssen einander trösten. Das Tanzen ist für die Jugend, eh?«

Glücklicherweise halfen Instinkt und Erziehung dem Jungen, seine Gefühle zu verbergen und auch dann nett zu sein, wenn er innerlich nicht im Gleichgewicht war.

»Gewiß, Herr Professor. Schönes Mondlicht da draußen, nicht wahr?«

»Ach ja, recht schön. Als ich in Ihrem Alter stand, schwang ich das Tanzbein mit den Besten. Aber nach und nach, Lennan, sah man ein, daß es ohne eine Partnerin nicht ging – da lag der Hase im Pfeffer! Sagen Sie mal: Nehmen Sie die Frauen überhaupt ernst? Ihre Ansicht darüber würde mich interessieren.«

 

Es war natürlich ironisch gemeint, doch lag etwas in diesen Worten – zweifellos!

»Ich glaube, Herr Professor, Sie sollten mir zuerst Ihre Ansicht sagen.«

»Mein lieber Lennan, meine Erfahrung auf diesem Gebiet zählt nicht.«

Das sollte ein Hieb auf sie sein. Er wollte lieber nichts entgegnen. Wenn Stormer ihn nur allein lassen wollte! Die Musik hatte aufgehört. Gewiß saßen sie irgendwo draußen und plauderten miteinander! Er nahm sich zusammen und sagte:

»Heute morgen war ich auf dem Berg hinterm Hotel, wo das Kreuz steht. Ich hab ein paar schöne Ziegen dort gesehn.«

Und plötzlich sah er sie allein daherkommen. Sie war erhitzt und lächelte; es fiel ihm auf, daß ihr Kleid den gleichen Schimmer wie das Mondlicht hatte.

»Harold, willst du tanzen?«

Jetzt würde er gewiß ja sagen, und sie würde wieder fortgehn! Aber sein Professor machte ihr nur eine kleine Verbeugung und sagte mit einem eigentümlichen Lächeln:

»Lennan und ich sind zu dem Schluß gekommen, daß das Tanzen nur für die Jugend ist.«

»Manchmal müssen sich die Alten opfern. Mark, wollen Sie tanzen?«

Er hörte seinen Professor hinter sich murmeln:

»Ah, Lennan, Sie verraten mich!«

Der kurze schweigsame Gang mit ihr zum Tanzsaal war vielleicht der seligste Augenblick, den er je gekostet hatte. Und er hätte wegen des Tanzes gar nicht solche Angst zu haben brauchen. Freilich war er nicht sehr vollendet, hinderte sie aber nicht, so leicht, sicher, so schwebend reigte sie dahin. Es ließ sich herrlich mit ihr tanzen! Erst als die Musik aufhörte und sie sich niedersetzte, fühlte er, wie ihm der Kopf wirbelte. Es war ihm sonderbar zumute, wirklich recht sonderbar! Er hörte sie sagen: »Was ist Ihnen nur, lieber Junge? Sie sind ja kreideweiß!«

Ohne recht zu wissen, was er tat, beugte er das Gesicht auf die Hand herab, die sie auf seinen Arm gelegt hatte, dann benahm ihm eine Ohnmacht die Sinne.

Achtes Kapitel

Die Überanstrengung des Morgens – da er sich doch im Wachstum befand! Weiter war es nichts! Er kam sehr rasch wieder zu sich und ging ohne Hilfe zu Bett. Zu dumm! Noch nie hatte sich jemand über eine kleine Schwäche so geschämt wie dieser Junge. Nun, da er sich wirklich etwas unwohl fühlte, fand er die Idee, sich pflegen oder warten zu lassen, einfach unerträglich. Mit fast verletzender Eile war er weggegangen. Erst nachdem er im Bette lag, erinnerte er sich an den Ausdruck ihres Gesichtes, als er sie verlassen hatte. Wie gedankenvoll. und unglücklich, als schiene sie ihn anzuflehen, ihr zu verzeihen! Als ob es etwas zu verzeihen gäbe! Als ob sie ihn nicht ganz selig gemacht hätte, wie sie mit ihm tanzte! Er sehnte sich, ihr zu sagen: Könnte ich jeden Tag eine einzige Minute so dicht bei dir verbringen, dann läge mir nichts an allem übrigen! Vielleicht würde er den Mut haben, ihr das morgen zu sagen. Wie er so dalag, fühlte er sich noch immer etwas schwindlig. Er hatte vergessen, die Rippen der Jalousien zu schließen, und das Mondlicht strömte voll herein; aber er fühlte sich zu träge, zu schlaftrunken, um jetzt noch aufzustehen. Man hatte ihm Kognak gegeben, vielleicht zu viel, das konnte die Ursache sein, warum er sich so sonderbar fühlte; nicht gerade krank, sondern betäubt, als träume er, als wünsche er gar nicht mehr, sich jemals wieder bewegen zu können. Nur so dazuliegen und das fließende Mondlicht zu betrachten und weit entfernte Musik heraufzittern zu hören und noch immer ihre Berührung zu fühlen, wie sie mit ihm im Tanze schwebte, und immerfort den Duft von Blumen einzuatmen! Seine Gedanken waren Träume, seine Träume die Verkörperung seiner Gedanken – alles herrliche Unwirklichkeit. Und dann war ihm, als ob sich das Mondlicht zu einem einzigen blassen Streifen verdichtet hätte – es hämmerte und bebte lauter, und der Streif Mondlicht kam auf ihn zu. Er kam ihm so nahe, daß er es warm an seiner Stirne wehen fühlte; er seufzte, schwebte hin und her, wich lautlos zurück und war wieder verschwunden. Danach mußte er in traumlosen Schlaf gesunken sein …

Wie spät war's eigentlich, als er, durch ein schwaches Klopfen aufgeweckt, seinen Professor, eine Tasse Tee in der Hand, in der Tür stehen sah?

War Lennan wieder ganz wohl? Ja, er fühlte sich wieder vollkommen wohl – er würde gleich unten sein! Es war ganz ungeheuer nett vom Herrn Professor, zu ihm zu kommen! Er brauchte wirklich nichts.

Schön, schön, aber Lahmen und Krüppeln müsse man beistehen!

Sein Gesicht schien dem Jungen in diesem Augenblick recht gütig, ihn nur ein wenig anzulächeln, aber gerade genug. Und es war doch höchst anständig von ihm, gekommen zu sein und zu warten, bis er den Tee ausgetrunken hatte. Es fehlte ihm wirklich nichts, nur ein wenig Kopfweh hatte er noch. Beim Ankleiden hielt er oft inne und versuchte sich zu erinnern. Jener weiße Streifen Mondlicht – war es wirklich Mondlicht, oder war es nur ein Traum gewesen? Oder war es, konnte sie es gewesen sein, in ihrem mondlichtfarbenen Kleid? Warum war er nicht wach geblieben? Er würde nicht den Mut haben, sie zu fragen, und daher auch nie erfahren, ob der warme Hauch auf seiner Stirn, an den er sich dunkel erinnerte, ein Kuß gewesen war.

Er frühstückte allein in dem Saal, wo sie getanzt hatten. Zwei Briefe waren für ihn angekommen, der eine von seinem Vormund, der ihm Geld sandte und sich über die Furchtsamkeit der Forellen beschwerte, der zweite von seiner Schwester. Der Mann, mit dem sie verlobt war – ein angehender Diplomat und der Gesandtschaft in Rom zugeteilt –, befürchtete, daß man ihm den Urlaub verkürzen würde. Dann müßten sie sofort heiraten. Nötigenfalls müßten sie sogar um eine Speziallizenz nachsuchen. Es träfe sich gut, daß Mark so bald zurückkäme. Sie müßten ihn einfach zum Brautführer haben! Die einzige Brautjungfer würde Sylvia sein … Sylvia Doone? Ach, die war ja noch ein Kind! Und in seiner Erinnerung tauchte ein kleines Mädchen in einem ganz kurzen Röcklein von ungebleichtem Leinen, mit flachsblondem Haar, hübschen blauen Augen und einem so hellen Gesicht auf, daß man fast hindurchsehen konnte. So hatte sie freilich vor sechs Jahren ausgesehen; jetzt würde sie gewiß kein Röcklein mehr tragen, das ihre Knie freiließ, oder bunte Perlen, oder sich vor Stieren fürchten, die gar nicht existierten. Zu dumm, Brautführer sein zu müssen, gewiß hätte sich noch ein anderer anständiger Kerl dazu gefunden! Und dann vergaß er alles, denn sie stand draußen auf der Terrasse. In der Eile, sie zu treffen, ging er an ein paar ›englischen Moralhelden‹ vorbei, die ihn von der Seite anstarrten. Sein Betragen vom vorigen Abend war tatsächlich dazu angetan gewesen, sie aus der Fassung zu bringen. Ein Student aus Oxford – der in einem Hotel ohnmächtig wurde! Da war etwas nicht in Ordnung! …

Und dann, als er sie erreicht hatte, fand er doch den Mut, sie zu fragen:

»War es wirklich Mondlicht?«

»Nur Mondlicht.«

»Es war aber warm.«

Und als sie ihm darauf nichts erwiderte, empfand er genau das gleiche, fast berauschende Gefühl, wie wenn er in der Schule Sieger bei einem Wettlauf geblieben war.

Jetzt aber kam ein furchtbarer Schlag. Nach einer Klettertour mit einer deutschen Gesellschaft war der alte Führer seines Professors plötzlich erschienen. In Stormer regte sich wieder der einstige Kampfgeist. Er wollte noch am Nachmittag nach einer gewissen Schutzhütte aufbrechen und in der Dämmerung des nächsten Morgens eine gewisse Spitze erklettern. Lennan jedoch sollte nicht mitgehen. Warum nicht? Weil er vorigen Abend ohnmächtig geworden war und weil er noch nicht den dummen Titel ›Sachverständiger‹ beanspruchen konnte. Als ob …! Wo sie hingehn konnte, da konnte auch er hingehn! Man behandelte ihn ja wie ein Kind! Natürlich hätte er auch diesen verdammten Berg besteigen können! Es lag ihr nur nichts daran, ob er mitging! Er schien ihr nicht Mann genug dafür zu sein! Glaubte sie, er könne einen Berg nicht bewältigen, wenn – ihr Gatte es konnte? Und wenn es wirklich gefährlich war, dann sollte auch sie nicht gehn und ihn zurücklassen, das war geradezu grausam! Sie aber lächelte nur, und er stürzte von ihr fort, ohne zu merken, daß sie sein ganzer Jammer nur um so glücklicher machte.

Und am Nachmittag gingen sie tatsächlich ohne ihn weg. Welche finsteren, abgrundtiefen Gedanken erfüllten ihn da! Wie leidenschaftlich haßte er seine eigene Jugend! Was für Pläne heckte er da nicht aus, daß sie zurückkommen und ihn nicht antreffen sollte, weil er unterdessen auf einen noch viel gefährlicheren und anstrengenderen Berg geklettert war! Traute man ihm keine solche Klettertour zu, so würde er einfach allein eine solche Tour unternehmen! Jeder gab zu, daß wenigstens das gefährlich sei. Und sie würde Schuld daran tragen! Dann würde es ihr leid tun. Er wollte vor der Dämmerung aufstehn und sich auf den Weg machen; er legte sich die Sachen bereit und füllte seine Flasche. An diesem Abend war das Mondlicht wundervoller denn je zuvor, die Berge standen da wie riesenhafte Geister ihrer selbst. Und sie war droben auf der Schutzhütte, so nah bei ihnen! Es dauerte recht lange, bis er einschlief, denn er brütete unablässig über das ihm widerfahrene Unrecht – er wollte überhaupt nicht schlafen, damit er um drei Uhr morgens aufbrechen könnte. Statt dessen wachte er um neun Uhr auf. Sein Zorn war verraucht, er fühlte sich nur ruhlos und beschämt. Wenn er, anstatt davonzustürzen, sich damit hätte abfinden wollen, so hätte er mit ihnen bis zur Schutzhütte gehen und dort die Nacht verbringen können. Und nun verwünschte er sich, daß er ein solcher Narr, ein solcher Idiot gewesen war. Vielleicht konnte er seine Dummheit zum Teil noch gutmachen. Wenn er sofort nach der Hütte aufbrach, konnte er vielleicht noch rechtzeitig hinkommen, um sie auf dem Rückweg zu treffen, und sie heimbegleiten. Er stürzte den Kaffee hinunter und machte sich auf den Weg. Den ersten Teil des Aufstiegs kannte er gut, verlor sich dann in den Wäldern, fand endlich den richtigen Pfad wieder, erreichte die Hütte jedoch nicht viel früher als zwei Uhr. Jawohl, die Gesellschaft wäre heute morgens aufgestiegen, man hatte sie auf dem Gipfel gesehn, sie dort jodeln gehört. Gewiß, gewiß! Sie würden aber nicht denselben Weg herunterkommen. Bestimmt nicht! Sie würden in westlicher Richtung absteigen und über den andern Paß zurückkehren. Sie würden sicherlich schon lange vor dem jungen Herrn wieder im Hotel zurück sein.

Seltsam, daß er dies fast mit Erleichterung vernahm! War es der lange einsame Weg gewesen, oder weil er so hoch oben war? Oder einfach, weil er sich sehr hungrig fühlte? Oder nur wegen dieser netten, freundlichen Leute in der Schutzhütte und ihrer jungen Tochter mit dem frischen Gesicht, dem seltsamen, langbebänderten Matrosenhütchen aus schwarzem Tuch, dem Samtmieder und ihrem entzückend einfachen Benehmen? Oder war's der Anblick der kleinen silbergrauen Kühe, die ihre breiten, schwarzen Schnauzen gegen die Hand des Mädchens rieben? Was hatte ihn eigentlich von seiner ganzen Ruhelosigkeit befreit, was machte ihn glücklich und zufrieden? … Er wußte nicht, daß immer nur das Allerneueste ein junges Hündchen auf seinen Sprüngen amüsiert … Er saß lange nach dem Mittagessen da, versuchte die kleinen Kühe zu zeichnen, beobachtete, wie die Sonne auf den Wangen jenes hübschen Kindes spielte, und gab sich Mühe, mit ihr deutsch zu sprechen. Und als er endlich »Adieu!« sagte und sie »Küß die Hand! Adieu!« murmelte, gab es ihm förmlich einen Stich … Das Herz des Mannes ist doch sonderbar und unergründlich … Als er sich dem Hotel wieder näherte, fing er trotz alledem zu eilen an, bis er buchstäblich rannte. Warum war er dort oben so lange geblieben? Sie war gewiß schon zurück, glaubte, daß er im Hotel sein würde, und dieses junge Ekel von einem Geiger war vielleicht statt seiner wieder mit ihr zusammen! Er kam noch gerade rechtzeitig ins Hotel zurück, um auf sein Zimmer zu eilen, sich umzuziehen und zum Abendessen hinunterzugehen. Ah! Sie waren gewiß müde – ruhten sich auf ihrem Zimmer aus. Er nahm das Essen, so ruhig er konnte, erhob sich vor dem Dessert vom Tisch und flog die Treppe empor. Eine Minute stand er zweifelnd da: An welche Tür sollte er klopfen? Dann pochte er schüchtern an die ihre. Keine Antwort! Er pochte fest an die Tür seines Professors. Wieder keine Antwort! Sie waren also noch nicht zurück. Noch nicht zurück? Was sollte das nur heißen? Oder vielleicht schliefen sie gar beide? Er klopfte noch einmal an ihre Tür; dann drückte er verzweifelt auf die Klinke und warf einen flüchtigen Blick ins Zimmer. Leer, in voller Ordnung, unberührt! Noch nicht zurück! Er wandte sich um und lief wieder hinunter. Die Gäste strömten aus dem Speisesaal, und er verwickelte sich in ein Gespräch mit einer Gruppe von ›englischen Moralhelden‹, die einen Touristenunfall in der Schweiz diskutierten. Wie er zuhörte, wurde ihm auf einmal ganz schlecht. Einer von ihnen, der kleine graubärtige ›Moralheld‹ mit der flüsternden Stimme, sagte zu ihm: »Heute abend wieder ganz allein? Die Stormers sind noch nicht zurück?« Lennan versuchte zu antworten, aber etwas hielt ihm die Kehle wie zugeschnürt; er konnte nur den Kopf schütteln.

 

»Sie hatten doch einen Führer?« fragte der ›englische Moralheld‹.

Diesmal konnte Lennan »Jawohl« hervorbringen.

»Soviel ich weiß, ist Stormer doch ein geübter Kletterer.« Und sich an die Dame wendend, welche die jungen ›Moralhelden‹ mit ›Madre‹ angeredet hatten, setzte er hinzu:

»Der hohe Reiz des Bergsteigens liegt für mich stets in dem Abgeschiedensein von den übrigen Menschen, in der Einsamkeit.«

Die Mutter der jungen ›Moralhelden‹, die Lennan mit ihren halbgeschlossenen Augen ansah, erwiderte:

»Das ist mir gerade unsympathisch; ich schließe mich immer gerne meinesgleichen an.«

Der graubärtige ›Moralheld‹ murmelte gedämpft: »Gefährlich, so was in einem Hotel zu sagen!«

Und sie redeten weiter, doch Lennan, ganz krank vor Angst, wußte nicht mehr, wovon. In der Gegenwart dieser ›englischen Moralhelden‹, die sich über alle niedrigen Gefühlsausbrüche so erhaben dünkten, durfte er seiner Unruhe keine Worte verleihen; sie betrachteten ihn sowieso schon als nicht ganz normal, weil er in Ohnmacht gefallen war. Dann kam es ihm zum Bewußtsein, wie sich die Leute um ihn her den Kopf darüber zerbrachen, was den Stormers zugestoßen sein könnte. Der Abstieg war höchst unangenehm; ein gewisser Übergang war besonders schwierig. Der ›Moralheld‹, dessen Kragen jetzt nicht zerknüllt war, sagte, er halte es nicht für richtig, daß die Frauen auf die Berge klettern. Es wäre ein Zug der Zeit, den er am meisten bedauere. Die Mutter der jungen ›Moralhelden‹ parierte sofort den Hieb: In der Praxis stimmte sie ihm bei, daß es nicht geschmackvoll war, in der Theorie aber konnte sie nicht einsehen, warum sie nicht klettern sollte. Ein Amerikaner, der daneben stand, versetzte alle in einen gelinden Schrecken durch den Einwurf, daß es am Ende zur Entwicklung ihrer Beine beitragen könnte. Lennan ging nach der Eingangstür. Der Mond war soeben im Süden aufgegangen, und genau darunter konnte er ihren Berg erblicken. Was für Vorstellungen stiegen da in ihm auf! Er sah sie tot daliegen, sah sich selbst im Mondlicht herunterklimmen und ihren noch atmenden, aber halb erstarrten Körper aus irgendeinem gefährlichen Felsspalt herausziehen. Selbst das schien ihm fast besser, als überhaupt nicht zu wissen, wo sie sich befand und was geschehen war. Die Leute traten ins Mondlicht hinaus und blickten neugierig in sein starres Gesicht, das so unbeweglich dreinsah. Einer oder der andere fragte ihn, ob er sich ängstige, und er erwiderte: »Ach nein, gar nicht!« Man würde bald eine Rettungsexpedition aussenden müssen. Wie bald? Er wollte, er mußte sich ihr anschließen! Diesmal sollten sie ihn nicht zurückhalten. Und plötzlich dachte er: Ach, das alles geschieht ja nur, weil ich heute nachmittag dort oben so lange mit jenem Mädchen gesprochen, nur deshalb weil ich sie vergessen hatte!

Und dann vernahm er ein Geräusch hinter sich. Da waren sie, kamen gerade den Gang herunter, in den sie durch eine Seitentür eingetreten waren; mit Alpenstock und Rucksack ging sie voraus, ein Lächeln auf dem Gesicht. Instinktiv verbarg er sich hinter einer Pflanzengruppe. Sie schritten an ihm vorbei. Ihr sonnengebräuntes Antlitz mit den tiefliegenden Augen sah so glücklich aus, müde, doch lächelnd, triumphierend. Das konnte er nicht ertragen, und nachdem sie fort waren, stahl er sich in den Wald hinaus, warf sich im Dunkeln zu Boden, vergrub sein Gesicht und bemühte sich, ein furchtbares trockenes Schluchzen, das ihm immer wieder in der Kehle emporstieg, herunterzuwürgen.