Geschichten aus einem anderen Land

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Impressum

Geschichten aus einem anderen Land

Gert Holstein

Copyright: © 2015 Joachim Gerlach

published by: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-2919-8

Inhalt

Impressum

Expose

Die Wende

Onkel Fritz

Schulbank und Werkbank

NVA – Die Ernüchterung

NVA – Im Kampfkern

NVA – Kriegsspiele

Kredit und Zins

Unter Parteibefehl

Grenzwanderung

Leseprobe „Maidan – Am Vorabend der Apokalypse“

Expose

Der Autor legt nach inhaltlicher und formeller Überarbeitung seines bereits 2010 in Buchform veröffentlichten Romans „Holstein, Gert – Lebenswege im deutschen Osten“ jetzt auch eine Fassung als ebook vor. Dabei durchbricht er die bisherige streng chronologische und formelle Fassung und bietet die einzelnen Kapitel auch sich selbst tragend dar.

In engem Bezug zu seiner Autobiographie vermittelt der Auto, dies zuweilen auch mit bissigem Spott und einem Hauch von Sarkasmus, offene, ehrliche und schonungslose Einblicke in das Alltagsleben der DDR-Bürger, aber auch in Strukturen, die selbst vielen DDR- Bürgern nicht zugänglich waren wie Flottenübungen der Volksmarine, Mobilmachungs-übungen der NVA-Wehrkommandos, Arbeitsweise des Partei- und Staatsapparates und nicht zuletzt des Ministeriums für Staatssicherheit.

Im Unterschied zu den meisten nachwendigen Veröffentlichungen stellt der Autor dabei nicht ehemalige Führungseliten oder Widerständler der DRR in den Mittelpunkt seines Narrativs sondern einfache Menschen, die sich guten Glaubens und festen Willens der sozialistischen Idee verschrieben hatten.

Ein zwingendes Muss für alle zeitgeschichtlich interessierten Leser.

Vom gleichen Autor in Vorbereitung einer Veröffent-lichung:

„Maidan – Am Vorabend der Apokalypse“

Die Wende

An der Tür, welche von außen aus Sicherheitsvorschriften nicht zu öffnen möglich war, klopfte es heftig. Wird wohl Wunderlich sein, der drängelte nämlich schon sein Tagen, ob das von ihm beantragte Computerprogramm endlich einsatzbereit wäre. Ein Riesenzeitaufwand wäre die gegenwärtig manuell betriebene, permanente Auswertung hunderter Investitionsvorhaben, mit der edv-gestützten Lösung erhoffte man sich geradezu unendliche Freiräume für andere Aufgaben. Zum Beispiel säße ihm schon wieder ein Mitarbeiter von der SED-Bezirksleitung mit einer Vorlage für deren Sekretariat im Nacken: Ergebnisse bei der Senkung des Kraftstoffverbrauches, Diesel und Benzin, im Bezirk, gute und schlechte Erfahrungen galt es dabei herauszufiltern.

Wunderlich, gut zehn Jahre jünger als Holstein, von korpulenter Statur mit deutlichem Bauchansatz, galt als Nachfolgekanditat der Parteikontrollkommission, die sich als sogenannte Parteipolizei um Einheit, Reinheit und Geschlossenheit des Kampfbundes mühte. Im Vorfeld dieser Funktionsaufnahme hatte er sich schon einmal einen Rüffel eingefangen, als er, zu einer ersten Aussprache und Beratung ins Haus der Bezirksleitung gerufen, vor dem Aufzug stehend salopp von sich gab: „Was hier am besten klappt, sind wohl auch nur die Türen der Fahrstühle.“ Der Rüffel konnte ausgebügelt werden, da Wunderlichs Schwager sich einschaltete. Der verfügte als stellvertretender Kreistierarzt über ausgesprochen gute Kontakte zur territorialen Parteispitze. Allerdings verschob sich Wunderlichs Berufung in die Parteipolizei durch den vorlauten Ausrutscher um ein paar Jahre. Als sie ihn im Frühjahr 1990 dann urplötzlich doch wollten, da ihnen alle anderen schon weggelaufen waren, versagte er sich ihnen.

Nun stand er, wie es Holstein schon geahnt hatte, wirklich vor dem Computerarbeitsraum und steckte erst einmal vorsichtig schnuppernd seinen großen Kopf zwischen den Türrahmen. Und Holstein war’s zufrieden, dass es nicht dessen Chef war. Der nämlich, Leiter der Abteilung „Mittelfristige Planung“, ein eigentlich recht mickriger Mittfünfziger, leicht gehbehindert infolge einer Granatsplitterverletzung, die er sich in den letzten Kriegswochen in den eisigen Schmelzwässern inmitten des letzten Aufgebotes von Heldenklaumarschall Schörner an der Oderfront zugezogen hatte, maß den neuartigen elektronischen Rationalisierungsgeräten im Gegensatz zu den meisten seiner Leitungskollegen durchaus praktische Bedeutung zu. Nur hatte er die schlimme Angewohnheit, sich sehr schnell in den Vordergrund zu schieben, auch dann, wenn er tiefer greifend vom Sachprinzip nichts verstand. Die ihm unterstellten Mitarbeiter hatten unter seinem Regime nichts zu lachen: Noch vor Dienstaufnahme nach krankheits- oder urlaubsbedingten Ausfällen verlangte er von ihnen die Hinterlegung aller wesentlichen, während seiner Abwesenheit eingetretenen Probleme. Allesamt sauber aufbereitet auf seinem Schreibtisch abgelegt, in chronologischer Reihenfolge. Am Tage seines Dienstantrittes saß er dann Stunden bevor der erste Mitarbeiter seiner Abteilung eintraf in seinem Dienstzimmer und hatte bereits etliche Stapel Papier verarbeitet. Dann widmete er sich der Auswertung des eben Verarbeiteten. Im halbstündigen Rhythmus defilierten die Abteilungsmitarbeiter durch seinen Dienstraum, Abwäsche folgte auf Abwäsche, Nicht wenige der Gerufenen, zumal der weiblichen Geschlechts, die schon zitternd im Wissen um die Gefahren früh zur Arbeit erschienen und voller Bangen den Rufen folgten, verließen bar jeglicher Hemmungen schluchzend die Höhle des Löwen und waren für den Rest dieses Tages zu keiner Arbeit mehr zu gebrauchen. Andererseits ging beharrlich das Gerücht um, dass die attraktiveren Mitarbeiterinnen von diesen Ärgernissen weitgehend verschont blieben. Eine aus der Schar dieser Auserwählten berichtete Holstein unter dem brüchigen Siegel der Verschwiegenheit, dass er zu einer seiner Audienzen sie auf Knien um ein Schäferstündchen, vielleicht auch weniger, nur ein halbes Stündchen, ein Viertelstündchen, man könne sich ja beeilen, gleich hier im Dienstzimmer, auf dem Schreibtisch, auf dem Drehstuhl, auf dem Ledersofa, gebeten habe. Sie habe widerstanden, müsse sich nunmehr aber die üblen Prozeduren dienstlicher Schurigeleien wie alle anderen gefallen lassen, allerdings nicht allzu übel, denn sie hätte ja noch einen Trumpf dagegen, die Grenzen wären da schon gesteckt.

Wunderlich schnupperte jetzt in den Computerraum.

„Junge, Junge, da drinnen kann man ja wieder die Luft mit dem Messer schneiden! Solltest du nicht ein richtiges Zimmer kriegen, mit Fenster und so? Und wolltest du nicht eigentlich wieder aufhören zu rauchen?“

„Beides. Kommt Zeit, kommt Rat. Manchmal bin ich ganz froh darüber, in dieser Buchte zu arbeiten. Selbst der Ratsvorsitzende müsste anklopfen, um eingelassen zu werden, dank der idiotischen Sicherheitsvorkehrungen. Hab‘ ich meine Ruhe.“

Holstein und Wunderlich hatten am Ende des vergangenen Jahres gemeinsam den Rechner in einem Piratenakt beschafft. Die Bilanzzuteilung, der schriftlich fixierte, staatlich gesicherte Anspruch auf eine Ware oder Dienstleistung im Geschäftsverhältnis zwischen den Betrieben, Einrichtungen und Kombinaten, lag für den Computer schon im September 1985 auf Holsteins Tisch, zum Jahresende war mit seiner Auslieferung zu rechnen.

Gleichzeitig mit dem Auslieferungsbescheid traf kurz vor Weihnachten die Stornierungsmitteilung zum Bilanzentscheid ein, Wunderlich überbrachte beide in der Hand haltend wie die letzten Reste eines Skatblattes und streckte sie Holstein entgegen.

„Zieh, Holstein, aber der Schwarze Peter ist auch dabei.“

Holstein schnappte sich einen der Zettel: Stornierung der Bilanzzuweisung, Verdammter Mist!

Wann mit der nächsten Maschine zu rechnen war, stand in den Sternen. Wahrscheinlich würde es wieder ein ganzes Jahr dauern oder gar noch länger. Das hieß, er müsste weiter trocken programmieren und Einsatzvorbereitung betreiben. Das würde nicht nur den Kollegen auffallen, die jetzt schon neidisch auf ihn guckten, sondern auch seinem Chef. Dann wäre er wieder mit Mode bei den Agitationseinsätzen in den Betrieben und ähnlichem Schwachsinn, und da sei Gott vor und die Preußen!

„Zeig mir doch mal den anderen Wisch her.“

Mitteilung vom VEB Robotron: Personalcomputer A5130, Seriennummer 3436, steht zur Abholung bereit, bitte melden im Außenlager bei Kollegen xyz.

„Was soll das denn?“

„Na, die Linke weiß offensichtlich wieder einmal nicht, was die Rechte tut. Nichts Neues also. Gib mir die Stornierung her, ich halte sie bis morgen erst einmal zurück. Aber sieh zu, dass du die Kiste noch heute herbeiholen kannst. Bevor du dich auf die Socken machst, hier noch einer zum Aufwärmen:

Staatsbürgerkundeunterricht Klasse sieben: Was bedeuten die Symbole des Staatsemblems der DDR? Ingrid? - Der Hammer steht für die Arbeiter. - Richtig. Werner? - Der Ährenkranz für die Bauern. - Prima, auch richtig. Matthias? - Die Ingenieure bedeutet der Zirkel. - Hervorragend Kinder, alles richtig. Fritzchen, was denn noch? - Mein Vater. - Bitte? Wieso dein Vater? Was macht dein Vater? - Parteisekretär. - Und wo steckt der im Emblem? - Na die kleine Niete oben im Zirkel.

 

He, he, he, ...“

Holstein, Wunderlichs Meckern verhallend im Ohr, hastete zur Tür hinaus und raste zur Fahrbereitschaft, ein Barkas-Transporter mit Pritsche ohne Plane stand noch auf dem Hof.

„Komm Kollege, schnell, wir müssen zu Robotron, einen Comptuter abholen. Hier ist der Fahrauftrag.“

Der als Kollege Angesprochene schaute gelangweilt von seinem Fahrersitz durch die Windschutzscheibe.

„Müssen müssen wir gar nichts“, orakelte er weise. „Nur sterben müssen wir.“

„Ich mach dir gleich Feuer unter deinem Arsch, du Nicht-Müsser“, schnaubte Holstein empört.

Der Fahrdienstleiter lugte ob des einsetzenden Gelärms aus seinem Kabuff. Was ist das denn für ein Rabatz da draußen? Jeden Morgen das gleiche, alle wollen sie ein Auto haben, am Nachmittag stehen die Fahrzeuge dann ungenutzt herum.

Der Kollege Fahrer startete den Motor, Holstein kraxelte in die Kabine, schob einen alten, total mit Öl gesättigten Putzlappen vom Sitz und los ging’s. Im Außenlager von Robotron wiesen sie sich mit der Abholbescheinigung aus, suchten sich unter hunderten dort abgestellter Rechner den ihren heraus und verluden ihn auf den Barkas. Niemand von den dort Beschäftigten ahnte, dass die Bilanzzuteilung inzwischen rückgängig gemacht worden war. Also schnell quittieren und ab, so fix es geht. Keine dummen Fragen stellen, wer dumm fragt, kriegt auch dumme Antworten. Was man einmal hat, kann einem schlecht wieder weggenommen werden. Womöglich fällt in dem allgemeinen Wirrwarr die bilanzwidrige Entnahme des Rechners nicht einmal auf.

Den Erfolg galt’s zu begießen, so verabredeten sich Holstein und Wunderlich nach Dienstschluss auf ein Glas, oder auch zwei, in der neueröffneten Bierstube nahe des Rathauses. Die war als sie kamen schon randgefüllt, von außen sah man die Trauben um den Tresen stehen, kaum ein Durchkommen möglich, die wenigen Tische restlos belegt und von Wartenden umstellt. Anstelle des sonst üblichen Schildes an der Eingangstür „Bitte hier warten, Sie werden plaziert!“ hatte man vorsichtshalber einen Kellner in Livree und mit Parteiabzeichen außen postiert. Der wies jedermann ab, so auch Holstein. Wunderlich hakte nach, er kannte offenbar den Zugangsschlüssel. Das „Sesam – öffne dich“ erwies sich als ein Zwanzigmark-Schein, den Wunderlich andeutungsvoll dem Livrierten in der linken Hand versteckt zeigte. So wurden sie auch eingelassen, nicht bevor jedoch Wunderlich seine linke Hand in die etwas abstehende Jackentasche des Kellners versenkt hatte. Drinnen öffnete er die Hand wieder, neben dem Zwanziger befand sich nunmehr auch ein Fünfziger darinnen. Woher die plötzliche, gar wundersame Mehrung des Geldes in Wunderlichs Linker? Wunderlich klärte auf: „Als ich den Zwanziger in der Kellnertasche fallen lassen wollte, fühlte ich dort Scheine über Scheine. Da hab‘ ich lieber zugegriffen.“ Das brachte nur der Wunderlich fertig, frech wie Rotz. Womit sie die schon einmal die voraussichtlichen Spesen des Abends gedeckt hatten und es nicht einmal zu vermuten steht, dass der genasführte Parteikellner vom klammheimlichen Zugriff etwas bemerkte. Im oberen Raum um den Tresen war freilich nicht daran zu denken, in der nächsten halben Stunde auch nur ein Bier zu ergattern, also trabten sie nach unten und fanden dort in einem winzigen Raum überraschenderweise Platz. Nur vier Tische, einer davon belegt mit vier Damen mittleren Alters und einem Herrn, offensichtlich ein Arbeitskollektiv mit dem Herrn als Chef, eine „After-Work-Party“ wird man dazu in späteren Jahren sagen. Ein Tisch frei, die beiden anderen jeweils einfach besetzt, ein Kahlköpfiger und ein noch recht junger Bursche, beide schon ziemlich vom Alkohol beseelt. Holstein und Wunderlich setzten sich an den freien, bestellten die erste Runde, gleich darauf die zweite, die dritte ließ vorerst auf sich warten. Die Wartezeit vertreibend schauten sie sich im dämmrigen Raum um. Der Kahlköpfige spendierte eine Flasche Sekt für den Tisch der Damen und rückte seinen Stuhl etwas näher daran. Der junge Bursche gestikulierte deutlich mit Daumen und Zeigefinger in Richtung des Fünfer-Tisches, bis Holstein die Finger-Verweise auf sich und Wunderlich bezog, beim ersten flüchtigen Hinschauen aber nichts Bemerkenswertes feststellen konnte, erst beim zweiten. Nun zog der junge Bursche seine Stuhl an Holsteins Tisch und laberte stockend: „Eine Sauerei ist das, wirklich eine Sauerei. Arbeiten alle im Rathaus nebenan, sind fast jeden Tag hier, manchmal auch mittags. Wirklich richtige Schweine.“ Dann legte er eine Geldschein auf seinen Platz und entschwand, noch immer labernd: „Eine Sauerei, eine Sauerei.“ Holstein hatte die Ursache der Empörung inzwischen geortet: Der Verwaltungschef, sein Jacket lässig über die Lehne des Stuhles geworfen, das Parteiabzeichen deutlich sichtbar, saß hemdsärmelig mit zufriedenem Gesichtsausdruck zurückgelehnt, sowohl sein linker als auch sein rechter Arm waren irgendwo zwischen den Schenkeln der zu beiden Seiten neben ihm sitzenden Damen versenkt, beide Hände offensichtlich in Aktion. Die von diesem Treiben Betroffenen schien das aber nicht sonderlich zu berühren, denn sie unterhielten sich nach vorn gebeugt und so sich näher kommend über ganz sachliche Angelegenheiten, wie es den Anschein hatte sogar über dienstliche. Die dritte im Bunde, die an der Stirnseite, gluckste und kicherte ab und zu albern, ohne sichtbaren Anlass allerdings. Der vierten, der mit der mächtigen blonden Löwenmähne, war inzwischen der immerzu sektspendende Kahlkopf dicht auf den Pelz gerückt, seine eine Hand schon weit unter ihren Pulli, deutlich sichtbar einziges Kleidungsstück an ihrem Oberkörper, geschoben, nun setzte er an, auch die andere dorthin zu verbringen, nicht ohne jedoch vorher beim ab und zu vorbeischauenden Kellner eine weitere Flasche Schampus zu ordern. Holstein und Wunderlich hatten mittlerweile ihre Stühle so hingerückt, dass sie dem Treiben am Nachbartische ihre volle und gänzlich unverhohlene Aufmerksamkeit schenken konnten. Das scherte die dort Sitzenden einen feuchten Kehricht, und so erlebten Holstein und Wunderlich etwas, was sie ein paar Jahre später als Live-Show in jeder billigen Absteige hätten erleben können, allerdings diesmal nur auf das Vorspiel bezogen. Der eigentliche, der animalische Schlussakt blieb ihnen jedoch erspart, denn jäh endete das Vergnügen, als der Ehemann der Blondmähnigen den Raum betrat, nach leisem Hüsteln, das Herausfahren der Kahlkopfhände aus dem Pulli seiner Gattin und der Chefhände aus den Schenkeln seiner Tischdamen geflissentlich übersehend, bedeutete, dass er gekommen sei, seine Gemahlin nach Hause zu fahren. So erhoben sich auch die anderen und schickten sich, leicht taumelig schon, an, noch eine der umliegenden Nachtbars heimzusuchen. Die waren in aller Regel wegen Überfüllung kaum zugänglich, doch war es abzusehen, dass es dem männlichen Begleiter der verbleibenden drei Damen gelingen würde, mit Hilfe des Wunderlichen „Sesam - öffne dich“ Einlass zu finden. Vielleicht würde es dessen nicht einmal bedürfen, denn alkoholisch und erotisch solcherart vorbelastete Gäste versprachen, da auf anderweitige Dinge konzentriert, sich nur allzu leicht wie die Weihnachtsgänse ausnehmen zu lassen.

Auf diese Weise verbrachten Holstein und Wunderlich einen durchaus erlebnisreichen Abend, Essen und Trinken zumal gesponsert vom dies nicht ahnenden, den Einlass zur Bierstube regulierenden Kellner mit Parteiabzeichen.

Der im Fachorgan eingesetzte Computer erfüllte die in ihn gesetzten Erwartungen über alle Maße. Wie üblich standen zwar noch immer einige Kollegen dieser technischen Entwicklung mehr als skeptisch gegenüber, einige, die nicht einmal den längst üblichen Taschenrechnern vertrauten und die ellenlangen Spalten und Zeilen der Planungsmatrizen wie seit Urzeiten gewohnt kopftechnisch summierten und multiplizierten, andere dagegen waren nur mit sanfter Gewalt und unter dem Druck des Einsatzplanes von der neuen Technik weg zu bewegen. Als jämmerlicher Engpass stellte sich mit forcierter Nutzung die Beschaffung des erforderlichen Zubehörs wie Disketten, Druckerpapier und Druckerfarbbänder heraus. Disketten gab’s stückweise und nachweispflichtig per rationierter Zuteilung - gut, wenn man da wie Holstein wenigstens ein, zwei Flaschen Wernesgrüner Bier im Gepäck hatte. Im Frühsommer des Jahres 90, kurz vor Währungsunion und Anschluss, traten Holstein schier die Augen aus den Höhlen, da er zu Besuch bei entfernten Verwandten im Fränkischen weilte und wahrnahm, dass der Hausherr ausgemusterte, aber noch funktionstüchtige Festplatten-Laufwerke als Abstützhilfen für wackelnde Regale in seiner Werkstatt einsetzte. Von Laufwerken dieser Leistungsfähigkeit hätte Holstein zu DDR-Zeiten nicht einmal zu träumen gewagt.

Alles in allem aber war Holstein, nunmehr am Beginn in sein fünftes Lebensjahrzehnt stehend, dienstlich gesehen im Reich der Glückseligen angelengt und hatte seine Seelenbalance mit der neuen Tätigkeit wiedererlangt. Längst - Gott, dem ehernen Naturgesetz oder wem sonst auch immer, sei’s tausendfach gedankt - vergangen waren die nervenaufreibenden Tage, Wochen und Monate, da er hauptamtlich in der SED-Bezirksleitung und danach ehrenamtlich für die Aufklärungsabteilung der Stasi arbeitete.

Sohn Sven, der Pfiffikus, bereitete sich auf den Eintritt in die mathematisch-physikalische Spezialschule vor, die würde ihn direkt nach dem Abitur ohne Zeitverzug in eine der eben ins Leben gerufenen Meisterseminargruppen an einer Universität führen, von dort in eine der Forschungs- und Entwicklungsbereiche in Wissenschaft oder Industrie. Svens beruflicher Weg war klar und eindeutig vorgezeichnet. Über dessen Zukunft brauchte sich Holstein keine Sorgen zu machen, das beruhigte ungemein. Da konnte man über die Zustände im Lande meckern wie man will, berechtigt oder auch nicht, im Gegensatz zum Westen erhielten die Jungs und Mädels hier alle eine Lehrstelle, danach alle auch ohne Abstriche eine berufliche Anstellung, keiner lag auf der Straße und damit den Eltern oder der Gesellschaft auf der Tasche. Wer wollte und das Zeug dazu hatte, besuchte die höheren Bildungseinrichtungen. Dort dauerte das Studium vier, fünf oder höchstens sechs Jahre, nicht sieben, acht, neun, zehn und darüber hinaus. Und auch die Absolventen der Hochschulen und Unis standen mit ihren erfolgreichen Abschlüssen nicht arbeits- und hoffnungslos vor den Schaltern irgendeines Arbeitsamtes. War schon etwas dran am Sozialismus. Zugegeben, die Bäume wuchsen nicht in den Himmel, vor allem nicht gleich und nicht sofort und nicht überall. Die Prozesse brauchten eben ihre Zeit, Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Es würde sich trotz aller Hindernisse und Schwierigkeiten lohnen, sich weiterhin dazu zu bekennen und dafür zu streiten. Die Kaste der Parteioligarchen musste eliminiert, die Fachkompetenz zum alleinigen Sachwalter erhoben werden. Das war der Schlüssel zum Erfolg, darin wussten sich Holstein und Wunderlich einig.

Wie es schien, hatten die sowjetischen Genossen unter ihrem neuen Generalsekretär Gorbatschow in diesem Sinne die Nase dabei vorn, vielleicht konnte man es bald wieder zu Recht verkünden: Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen.

Wie üblich legte Holstein den Heimweg am späten Abend bei trockenem Wetter zu Fuß zurück, das sparte Benzin und verhalf zu klarem Denken.

Tochter Maria, mittlerweile auch schon Schülerin der vierten Klasse und Sohn Sven präsentierten heute ihre Halbjahreszeugnisse, für Sven würde es das entscheidende Sprungbrett zur Spezialschule bedeuten. Holstein musste bei beiden keine Bedenken haben. Dani und er hatten sich immer viel mit den Kindern beschäftigt, auf dass deren Anlagen nicht ungenutzt verfilen oder gar ungesteuert missbraucht wurden. Trotzdem war es kein Geheimniss, dass sich beide Kinder trotz gleichem genetischen Ausgangsmaterials und weitgehend gleicher Begleitumstände beim Aufwachsen im Elternhaus deutlich verschieden in ihrem Charakter zeigten. Während Sven ausgesprochen, manchmal geradezu beängstigend kühl und sachlich seinem schulischen und sonstigen Tagewerk nachging, zeigte sich bei Maria ein deutlicher Hang zum Extravaganten, ja zum Luxus. Diese, von Holstein stirnrunzelnd beobachtete Neigung erfuhr durch Holsteins Mutter noch beachtlichen Vortrieb. Die Oma hatte genug Zeit, hin und wieder, freilich ohne meinen Vater, der hätte diesen ihren Unternehmungen nur hinderlich im Wege gestanden, per Straßenbahn ins Stadtzentrum zufahren, um bei dem dort seit ein paar Jahren vermehrt in den Straßenunterführungen der Innenstadt postierten, wie Mutter Holstein es bezeichnete, „fahrenden Volk aus Polen“ für recht viel Geld recht billigen Tand einzuhandeln und diesen alsdann Maria bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit ins Haar zu stecken, um den Hals zu legen, an Fingern, Ohren und Handgelenken zu befestigen. Holstein nahm die zunehmende Schar der permanent aus Polen einrückenden jungen Männer mit Erstaunen und Unmut wahr: Kerle wie Gardesoldaten mit Händen zum Zupacken verhökerten Kettchen, Armreifen, Anhänger und jede Menge anderen Tinnef, von diesem selbst behangen wie Christbäume. Gab’s denn keine ordentliche Arbeit mehr im polnischen Nachbar- und Bruderland?

 

Wahlen standen wieder einmal vor der Tür und damit kam auch Holsteins moderne Rechentechnik im Wahleinsatz zum Tragen. Und das war auch gut so, denn es ersparte ihm, da diesmal als Spezialist im eigenen Haus gebraucht, den Einsatz als Wahlhelfer wie zu den letzten Wahlen. Dabei ging es zwar nur um solche im kommunalen Bereich, das Prozedere jedoch war das gleiche: Gegen vier Uhr nachmittags wurden durch den Leiter des Wahlbüros Gruppen von je zwei Mann gebildet, die suchten diejenigen Bürger des Wahlbereiches auf, die bis dahin noch nicht im Wahllokal erschienen waren und forderten sie auf, ihrer patriotischen Pflicht nachzukommen. Holstein hatte Glück, sein Partner, ein älterer Bankangestellter, kannte sich bestens aus in den Gepflogenheiten und Abläufen der Wahlrituale. Noch vor der Aufgabenstellung und Inmarschsetzung durch den Wahlbüroleiter zu den vermeintlich Säumigen nahm er Holstein zur Seite, und sie verkrümelten sich zu einem länger währenden Spaziergang durch die städtischen Parkanlagen. Erst nach Schließung des Wahllokals kehrten sie zurück und nahmen dann an der öffentlichen Auszählung der Stimmen teil. Eine immer wieder vermutete Wahlfälschung konnte Holstein in diesem Wahlbüro nicht feststellen.

Zur diesjährigen Wahl würde er also nicht als Stimmen-Zutreiber fungieren, sondern das tun, was er auch sonst immer tat: den Computer bedienen. In Vorbereitung des qualitativ neuen Rechenverfahrens wurde er vom Vorsitzenden der Wahlkommisssion vergattert: Alles, was im Zusammenhang mit der Erbringung und Zusammenstellung der Wahlergebnisse steht, unterliegt der strengsten Schweigepflicht. Was wird denn das jetzt, fragte sich Holstein? Doch nicht etwa Wahlbetrug!

Was sie jedenfalls bis in die späten Abendstunden mittels Computer als vorläufiges Wahlergebnis für den Bezirk errechneten, fand sich auch so bis auf geringe Abweichungen nach dem Komma in den Tageszeitungen am nächsten Tag wieder. Die in Holsteins Rechner einfließende Zahlen ergaben über alle Kreise und den Bezirk selbst nie weniger als 98,5 Prozent an Ja-Stimmen. Wieso und woher also der stete Verdacht auf Betrug und Fälschung? Holstein vergaß an diesem Abend die vielen Stimmen derjenigen, die im Vorfeld der Wahlen per Briefwahl oder Sonderwahllokal die Chance nutzten, dort ihren Unmut über das Regime und dessen Ablehnung kundzutun. Bei deren Stimmen-Auszählung blieb die Öffentlichkeit fern. Wo aber lag denn das Problem für die Partei- und Staatsführung, einmal zwanzig Prozent unter den angestrebten Hundert zu kassieren? Hätte das nicht auch gereicht? Hätte es nicht. Holstein wurde sich dessen erst viel später bewusst: Einmal in Fahrt gekommen, wäre die Sache nicht zu bremsen gewesen. Zur nächsten Wahl wären vierzig, fünfzig oder gar sechzig Prozent von Hundert abzuzählen gewesen.

Der Herbst zog ins Land, die Wahlen zu den örtlichen Parteiorganen standen auch wieder an. Da gab es jede Menge Agitation in Rundfunk und Fernsehen, wenig aus dem großen Sowjetlande, dafür um so mehr aus dem eigenen Politbüro.

Zur Wahlversammlung in Holsteins Parteiorganisation hörte er die gleichen Töne wie seit Jahr und Tag, Friede, Freude, Eierkuchen. Kein Wort von den Umbrüchen in Ungarn, in Polen, schon gar nicht von Glasnost und Pjerestroika. War die DDR über Nacht autark geworden, politisch, wirtschaftlich und überhaupt?

Holstein, als Diskussionsredner mit dem vorgegebenen Thema „Nutzung der Errungenschaften von Wissenschaft und Technik in der Planungsbehörde“ aufgestellt, sprach nur ganz kurz zu seinen Arbeitsergebnissen. Jetzt, so setzte er nach, möchte er lieber zu einer Frage reden, die ihn mehr berührt und eigentlich auch viel eher Thema von Parteiberatungen sein sollte, als die stereotype Wiederkäuung von Arbeitsinhalten, die bekanntlicherweise ja eigentlich Angelegenheiten dienstlicher Natur seien. Es gänge ihn um den neuen Kurs in der Sowjetunion. Ihm scheine, dass das dortige Herangehen auch engsten Bezug zur Politik der SED haben sollte. Viele der im großen Saal Versammelten senkten die Köpfe, man sah es ihnen geradezu an, dass sie sich am liebsten angstvoll unter den Stuhlreihen verkriechen würden. Der als Gast anwesende Vertreter der SED-Bezirksleitung schaute bei Holsteins Worten immer finsterer, schließlich hielt er sich nicht mehr auf dem Stuhl.

„Stopp! Was uns der Genosse Holstein hier darbietet, steht nicht im geringsten Zusammenhang mit unserer Politik, auch überhaupt nicht mit unserem heutigen thematischen Anliegen. Wenn die Führung der KPdSU der Meinung ist, sie müsse Korrekturen vornehmen, bitte, dann soll sie das tun. Wir sind dieser Meinung nicht. Der Sozialismus auf deutschem Boden entwickelt sich in den Farben der DDR, über seinen Fortgang entscheidet unsere auf der Grundlage wissenschaftlicher Führungstätigkeit arbeitende Parteiführung. Die übergroße Mehrheit der DDR-Bevölkerung steht geschlossen hinter der Politik unserer Parteiführung und stellt sich tagtäglich der Losung: Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden!“ So fügte er, sein eigentliches Redekonzept zur Seite legend, mehrstündig Stein auf Stein. Holstein erhielt durch nicht einen einzigen der anderen Diskussionsredner Unterstützung und Beistand. Das verdross ihn nicht sonderlich, wusste er doch, dass seine Arbeitsstelle im Prinzip nichts anderes war als der verlängerte Arm der Partei. Er kannte die inoffizielle Meinung vieler seiner Kollegen, auch die vieler Genossen und wusste, dass sie sich untereinander trotz der permanenten Gefahr von Denunziationen freimütig zu den aktuellen Themen unterhielten und auch im wesentlichen seine Standpunkte teilten. Nur taten sie dies nicht offiziell in den Versammlungen. Offiziell beteten sie nach wie vor die alte Litanei herunter, die sie gewohnt waren zu beten, und die man so auch gerne hören wollte, zumal auf den mit viel rotem Fahnentuch ausgestatteten Großkampfveranstaltungen.

Holstein zerrte an den Ketten, nicht gegen den Sozialismus sondern dafür. Weg mit den vom Klassenkampf verbrämten alten Zöpfen, raus mit der Ideologie, wo sie nichts zu suchen hat. Als im Folgejahr die Gewerkschaftswahlen ausgetragen wurden, forderte er die neu gewählte Leitung der Abteilungsgewerkschaftsorganisation dazu auf, sich endlich um ihre tatsächlichen Obliegenheiten ihrer Klientel zu kümmern. Nicht die Verteilung von Urlaubsplätzen sei die ihr zugewiesene Aufgabe, schon gar nicht der verlängerter Arm der Parteiorgane beziehungsweise der staatlichen Leitungen bei der Durchsetzung deren Beschlüsse und Anordnungen. Historisch gesehen hat Gewerkschaftsarbeit die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen zum Ziel, dessen gälte es sich zu erinnern. Gesenkte Köpfe, gebeugte Rücken, ganz zaghafter Beifall.

In der anschließenden kleineren Runde nahm ihn sein Vorgesetzter zur Seite. Der war etwa im gleichen Alter, hatte gleichfalls bei der Marine gedient, allerdings nur ein halbes Jahr Reserve bei den rückwärtigen Einrichtungen. Wenn er jedoch von den schier unendlichen Abenteuern und Begebenheiten, traurigen, skurrilen schnurrigen, dieser seiner Dienstzeit erzählte, schien es, als wäre er der langjährig dort Dienende gewesen und Holstein der halbjährige Reservist.

„Hör mal, Gert, sei bitte etwas vorsichtiger. Die Zeit ist noch nicht reif. Ich weiß es aus sicherer Quelle: die Auswechselung der politischen Spitze steht bevor, der Erste unserer Bezirksleitung wird wahrscheinlich zum neuen Führungskorps gehören. Auch der Dresdner. Wahrscheinlich wird Krenz der neue Parteichef. Wäre schade, wenn du dann nicht mehr dabei bist, denn du kennst es doch noch: einmal dabei – für immer dabei, einmal raus – für immer raus. Also, halte dich bereit, aber vorsichtig und diszipliniert. Jetzt machst du dich mit deinem Auftreten zum Sprecher auch solcher, die mit uns wenig oder gar nichts am Hut haben. Das kannst du beobachten, wenn du dich in Versammlungen zu Wort meldest. Die einen ziehen die Köpfe ein, die anderen frohlocken. Achtung, gleich gibt der Holstein wieder Saures!“