Geschichten aus einem anderen Land

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Zwischen Weihnachten und Silvester des scheidenden Jahres machte sich Holstein nebst Daniela per PKW auf seine erste Reise in Richtung Westen, angestiftet durch Danielas heißes Begehren, auch endlich in den Besitz von Westgeld zu gelangen. Bis dahin wusste Holstein nicht einmal, wie diese Münzen und Scheine aussahen. Mit an Bord auch Vater Holstein, der war von Mutter Holstein beauftragt, sich nach ordentlichem Frischfisch jenseits der Grenze umzuschauen. Sie machten sich gegen Mittag auf die Reise und kamen im nächsten Ort nach der Grenze gegen sieben Uhr am Abend an. Knappe einhundert Kilometer legten sie in knapp sieben Stunden zurück. Diesmal aber lag’s nicht am Fahrzustand der „Soljankaschüssel“, schon vor Plauen gerieten sie auf der Autobahn in den Rückstau.

Holstein, der während seiner Militärdienstzeit an verschieden Ladungsmanövern der Warschauer Vertragsstaaten im Ostseeraum teilnahm und dabei zu Zeiten mehrere hundert, vielleicht sogar tausend Luft-, Wasser- und Landfahrzeuge gleichzeitig im Einsatz sah, konnte es nicht fassen, was er durch die vereisten Scheiben des PKW erblickte: eine nicht übersehbarer Masse von Fahrzeugen mit Kfz-Kennzeichen von Rostock bis Dresden quälten sich bei zunehmend eisiger Winterluft in das Abendrot, aus allen möglichen Richtungen einherkriechend, riesigen Lindwürmern gleich über die sich im fürchterlichen Zustand befindlichen Straßen der kürzlich geöffneten Grenze entgegen.

Holstein bog gleich nach der Grenzdurchbruch auf einen Feldweg seitlich der Autobahn in die nächste Ortschaft ab. Vor dem Gemeindeamt im Talgrund warteten im benzindurchtränkten Abendnebel die noch auf Westgeld erpichten DDR-Bürger mehrfach an die fünfhundert Meter in einer Reihe nebeneinanderstehend mit Geduld auf die ersehnten Geldscheine, begafft dabei von den schaulustigen Altbundesbürgern. Die fuhren in ihren Wagen an der im abendlichen Dunst stehenden Menge vorbei, klotzten ungläubig und überheblich aus dem warmen Inneren ihrer Fahrzeuge auf die Reihen ihrer Brüder und Schwestern aus dem Osten, als wären diese Tiere im Zoo und verpesteten mit ihren Abgasen die Luft noch zusätzlich, so dass das Atmen in der Talsenke immer schwerer fiel. Holstein schämte sich in der Masse eingekeilt seiner selbst und seiner Landsleute wie ein Bettnässer, doch an Umkehr war angesichts Daniela Begehrlichkeiten nicht zu denken. Gegen acht Uhr Abends hatten auch die Holsteins endlich ihr Begrüßungsgeld in der Tasche, an Frischfisch freilich wurde um diese Zeit nicht einmal ein Gedanke mehr verschwendet. Für die Heimfahrt inmitten der unübersehbaren Fahrzeugkolonnen verbrauchten sie wiederum Stunden über Stunden, etwa drei Uhr nachts kamen sie völlig übermüdet und verklammt zu Hause an.

Die Ergebnisse der ersten freien Volkskammerwahlen im März des Jahres 1990 versetzten Holstein einen herben Schlag. Wohl hatte er den deutlichen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung zur Kenntnis genommen, hatte die nur mäßige Resonanz auf Christa Wolfs Aufruf zum Erhalt der DDR mit großer Verdrossenheit vermerkt, hatte vor allem in den Stadtvierteln, wo massiv die Arbeiterschaft zu Hause war, die schier unendlichen Fahnenmeere schwarz-rot-goldener Prägung ohne Emblem gesehen, hatte wohl bemerkt, dass zur Wahlkundgebung der SPD mit Willy Brandt als Gastredner gerade einmal zehntausend Zuhörer gezählt wurden, während zur Veranstaltung der CDU mit Helmut Kohl weit über Zweihunderttausend schon Stunden vor Beginn der Veranstaltung in der eisigen Kälte auf dem Platz fahnenschwenkend und die erste Strophe des Deutschlandliedes singend ausharrten, war sich aber dennoch sicher, dass der Wahlausgang übergewichtig von den linken Kräften, die PDS darin eingeschlossen, getragen werden würde. Er sah sich bitter enttäuscht. Dass die Mehrheit der Arbeiterklasse ihrem ihr zugeschriebenen Führungsanspruch in der sozialistischen Gesellschaft und der ihr zugedachten historischen Mission im Rahmen dieser Wahlen nicht nachkam sondern statt dessen den schnellen Weg zur harten Westwährung vorzog, verwunderte Holstein allerdings nicht, hatten ihn doch seit Jahren schon seine Erfahrungen und Erkenntnisse an diesen Postulaten der Parteiführung fortschreitend die erheblichsten Zweifel aufkommen lassen.

Nun war ihm auch eindeutig klar, es würde in Richtung Anschluss an die alte BRD keine Alternative mehr geben. Entschieden hatte das Volk der DDR, der Souverän, so wie auch er es seit dem stürmischen Herbst des vergangenen Jahres nachhaltig forderte. Das nun vom Volk in freier Entscheidung erbrachte Wahlergebnis, wie immer auch stimuliert und beeinflusst, musste und würde er akzeptieren, so schlimm ihm diese Wahl-Entscheidung auch aufstieß. Jetzt war ihm klar, es würde keine Demokratisierung und wirtschaftliche Konsolidierung der DDR mehr geben. Nach Lage der Dinge würde es die DDR, sein Vaterland, für welches er drei Jahrzehnte gearbeitet, gestritten und gekämpft hatte, schon bald selbst überhaupt nicht mehr geben. Die zahllosen und namenlosen Opfer, die freiwillig getragenen Entbehrung der vielen selbstlos und ehrlich am Menscheitsexperiment Sozialismus Mitwirkenden würden versanden und zeitweilig in Vergessenheit geraden, das Ideal aber wird bleiben. Seit Menschen Geschichte schreiben hat es den Kampf gegeben zwischen den unzähligen und ohnmächtigen Nichtprivilegierten einerseits und den wenigen Privilegierten und ihren Machtorgane auf der anderen Seite. Es wird ihn immer geben, diesen Kampf, den Marx den Kampf der Klassen nennt. In seinen zukünftigen Formen aber werden auch die Erfahrungen und Lehren aus dem ein Drittel der Weltbevölkerung umfassenden Versuch zur Errichtung einer gerechteren Menschenordnung Eingang finden, so kläglich der Versuch am Ende auch scheiterte.

Bereits vor dem Anschluss an die Alt-BRD wurde das Land mit Hasardeuren und Bauernfängern aller Couleur, die in lila oder kleinkarierte Jackets gewandet als Versicherungsvertreter, Finanzdienstleister und anderweitig dubiose Berater daherkamen, überschwemmt, welche die auf diesem Terrain bislang völlig unbeleckten und untrainierten Neubundesbürgern über den Tisch zogen, dass es nur so seine Art hatte, und Holstein überkam ein Gefühl des ohnmächtigen Ekels.

Mit Entsetzen sah Holstein die Bilder, da hochdekorierte NVA-Jagdpiloten, die Ritterkreuzträger der NVA gewissermaßen, ihre MIG-29 auf Flugplätze um Frankfurt am Main und anderswo überführten. Jahre später las er davon, dass eine Besatzung nur aus Offizieren bestehend das modernste Raketenschiff der Volksmarine aus seinem, Holsteins, ehemaligen Standort Dranske über den Atlantik den US-Streitkräften zuführte. Nein, Holstein hatte nicht den Stolz der Truppe aus den Tagen von Scapa Flow erwartet, aber auch nicht demütige Anbiederungen solcher Art.

In der Folgezeit traf er mehrfach in betrieblichen Lehrgängen auf Wissens- und Erkenntnisträger des Altbundeslandes, deren Erkenntnisse, so jedenfalls es den deutschen Osten betraf, mit einem Radius gleich Null zirkulierten, die sich dennoch unbedacht ihrer schlimmen und ganz offensichtlichen Wissenslücken mit einem nicht zu übertreffenden Selbstwertverständnis unverblümt, überheblich und arrogant anmaßten, den aus freier Wahl Angeschlossenen nicht nur Buchhaltung und Kollektivgeist, welch letzteren sie als die wirklichen Deutschen Teamgeist nannten, zu lehren und zu predigen sondern darüber hinaus sogar die Fähigkeiten der Neubundesbürger in Sachen Autofahren, Gebrauch von Messer und Gabel und anderer Zivilisationsgüter als hochgradig entwicklungs- und ausbildungsbedürftig ansahen und dies ihre Zuhörerschaft auch deutlich spüren ließen. Das Wort vom „Besser-Wessi“ machte so Furore und schnell die Runde in ostdeutschen Landen, und Holstein erinnerte sich der Worte Theodor Storms, geschrieben im Jahr 1867, drei Jahre nach dem Preußisch-Dänischen Krieg: Wir können nicht verkennen, dass wir unter Gewalt leben. Das ist desto einschneidender, da sie von denen ausgeht, die wir gegen die vorherige Gewalt zu Hilfe riefen und die uns jetzt, nachdem sie jene zu bewältigen geholfen, wie einen besiegten Stamm behandeln, indem sie die wichtigen Einrichtungen, ohne uns zu fragen, hier über den Haufen werfen und andere dafür oktroyieren.

Und Holstein hörte die ob ihrer Ahnungslosigkeit wegen Geneppten, ob ihrer scheinbaren Bedürftigkeit wegen Bloßgestellten und ob ihrer Überflüssigkeit wegen Arbeitslosen sich gegenseitig mit Bitterkeit befragen: Was ist der Unterschied zwischen Russen und Wessis? - Die Russen sind wir wieder losgeworden. Ja was, um Himmels Willen, hatten sie denn erwartet, die da nach dem Mauerfall in Sprechchören zu Hunderttausenden nach Deutschland einig Vaterland riefen? Brüderliche Hilfe und Unterstützung von denen, die sich mehrheitlich der Gnade des Geburts- oder Wohnortes halber schon immer auf dem eigentlichen, dem eben besseren deutschen Weg wussten? Herbeischaffung moderner Arbeitsplätze anstelle maroder DDR-Betriebe durch diejenigen, die infolge des exponentiellen Rationalisierungsschubs der Siebziger und Achtziger bis auf wenige Ausnahmen über industrielle Kapazitätsüberhänge in Größenordnungen verfügten, Kapazitätsüberhänge, die ausreichten und geradezu darauf warteten, den Bedürftigkeitsgrad der Neubundesbürger abzudecken?

Daniela, Holsteins Ehefrau, gehörte zu den vielen, die schon anfangs der neunziger Jahres aus ihren bisherigen Arbeitsverhältnissen ausgegliedert wurden. Jedoch fand sie beizeiten eine Anstellung, die ihr, wenn auch heute längst in völlig anderer Form, alsbald die Rolle des die Familie wirtschaftlich stabilisierenden Faktors zuschrieb. Ein großes Versicherungsunternehmen nahm sich ihrer Bewerbung wohlwollend an und stellte sie unbesehen ihres Diploms vorerst als Schreibkraft ein. Dank der ihr eigenen Eigenschaften überstand Daniela nicht nur die in den Folgejahren einsetzenden Umstrukturierungsmaßnahmen und Entlassungswellen im Unternehmen sondern erklomm fachlich und funktionell sogar, dies sehr zum Wohle des familiären Finanzhaushaltes, eine pekuniär recht gut ausgestattete Position.

 

Die mathematisch-naturwissenschaftlich Spezialschule, in welcher Holsteins Sohn Sven mit ausgezeichneten Abschlüssen sein Abitur ablegte, verlor nach der Wende nahezu gänzlich ihre bisherige Bedeutung. Eine gebotene Möglichkeit der Studienaufnahme mittels Sonderstipendium einer bundesweit agierenden Stiftung, angedacht von seiner bisherigen Lehrerschaft und von dieser bei der Stiftung beantragt, konnte Sven nicht ausschöpfen, da er, der sehr kühle, sehr nachdenkliche Kaumredner in den Augen der Bewerter den Anforderungen und Erwartungen im Kreis der vielen, viel besser als er rhetorisch und erscheinungsmäßig gestylten Mitbewerber im Rahmen der Assesmentveranstaltung in keiner Weise entsprach. So studierte Sven nach zehnmonatiger Militärzeit in der Bundeswehr, die sich gegenüber dem Militärdienst seines Vaters eher wie ein Sanatoriumsaufenthalt ausnahm, wie vorgesehen Informatik. Da er nunmehr sein Studium in eigener Regie organisierte, nicht wie einst geplant von staatlicher Fürsorge begleitet, nahm die Studienzeit nicht zehn sondern siebzehn Semester in Anspruch, was naturgemäß auf den Haushaltsetat seiner Eltern nicht unerhebliche Auswirkungen hatte. Sven arbeitet heute, nach dem Platzen der Hich-Tech-Euphorie, als Systementwickler einem Werk bei Frankfurt, Frankfurt am Main versteht sich. Keiner seiner ehemaligen Mitschüler der Spezialschule, die mathematisch-naturwissenschaftliche Elite seines Jahrgangs in der Stadt, beschritt den einstmals vorgedachten beruflichen Weg, einer arbeitet als Streetworker, einer als Diskjockey, einer als Versicherungsvertreter, zwei sind seit langem arbeitslose Sozialhilfeempfänger.

Maria, Holsteins eher zu den angenehmen Dingen des Lebens tendierende Tochter, legte trotz ziemlicher Bedenken und allerhöchster mathematischer Unterstützung Holsteins ein überdurchschnittlich gutes Abitur ab. Exakt in der Schule, in der Holstein dies sechsundzwanzig Jahre vorher tat. Sie studierte anschließend sieben Jahre Jura, legte mit Bravour das erste und danach das zweite Staatsexamen ab, war danach zwei Jahre auf Jobsuche und arbeitet heute als selbständige Anwältin im Sächsischen.

Holstein selbst verblieb noch bis 1992 im neu geschaffenen Regierungspräsidium. Im Frühjahr dieses Jahres, sich schon auf der sicheren Seite wähnend, erfolgte seine fristlose Entlassung aus dem öffentlichen Dienst wegen einstiger inoffiziellen Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Der ihm die Entlassung Aussprechende war das ehemalige Mitglied der SED-Hochschulparteileitung Zweiniger, zuständig damals für Agitation und Propaganda, und jetziger Abteilungsleiter des Bereiches „Wirtschaft“ im Regierungspräsidium, der Holstein zu Studienzeiten einmal mangelndes politisches Bewusstsein vorwarf. Jetzt allerdings auch gewendet als CDU-Mitglied.

Gert Holstein durchlief die Tretmühlen des kapitalistischen Systems bis zur Neige. Nach Jahren der Arbeitslosigkeit, Fortbildung, Kurzbeschäftigungen, Arbeitsbeschaffungs-maßnahmen und einer sehr schnell wieder aufgegebenen Selbständigkeit gelang es ihm erst zu Beginn des Jahres 1997 wieder, nachhaltig beruflich Fuß zu fassen. Für die nächsten neun Jahre war er als EDV-Techniker und –Ausbilder in zwei bundesweit agierenden Firmen tätig. So lernte er im Schnelldurchlauf kennen, was ihm die berühmt-berüchtigten 40 vorherigen Jahre verborgen blieb: den Westen Deutschlands.

Im Alter von 59 Jahren wurde Holstein erneut arbeitslos und verblieb dies bis kurz vor Vollendung seines 62. Lebensjahres. Den Absturz nach Hartz-Vier entging er nur durch den vorzeitigen und rentenpunktreduzierten Eintritt in den Vorruhestand.

Bleibt uns noch, über Vater und Mutter Holstein zu berichten. Vater Holstein erreichte, was er sich anfänglich scherzhaft und sanft belächelt, später allen Ernstes vorgenommen hatte: Er erlebte die Jahrtausendwende. Da war er 86 Jahre alt. Die neue, nachwendige Zeit war ihm jedoch ein Greuel, obgleich er ausgestattet mit einer üppigen Rente darin sehr komfortabel leben konnte. Aber nicht der schnöde Mammon war sein stetes Lebensziel, er hätte auch mit bedeutend weniger auskommen können. Es war das, wie er meinte, wiederholte Versagen der Arbeiterklasse, das ihm schwer im Magen lag. Vater Holstein starb nach einem schweren Schlaganfall kurz vor Weihnachten im Jahr 2000.

Mutter Holstein lebt noch immer. Sie bewohnt eine schmucke, sehr sonnige Zweiraumwohnung in einem dresdener Vorort und erfreut sich, abgesehen vom altersbedingten Zipperlein, einer robusten Gesundheit. Es steht zu erwarten, dass sie auch ihren 90. Geburtstag im Jahr 2016 im Kreise ihrer Lieben verbringen wird.

Onkel Fritz

Erzählungen, wonach ich im Alter von elf Monaten schon, angetan mit einem von der Mutter aus gelber Fallschirmseide genähten Anzug, mit wildem Geschrei den langen Flur im bis zum Bersten mit Ausgebombten und Umsiedlern gefüllten Mietshaus, hin und her gesaust sei, kann ich aus eigener Erfahrung nicht bestätigen.

Wohl aber erinnere ich mich klar an Momente, als ich mit drei Jahren zum ersten Mal an einem Leistenbruch operiert wurde. Da war das kleine Zimmer im Krankenhaus, allseitig von Fenstern umgeben, durch die zu jeder Tageszeit helles Licht fiel. Mutter und Vater standen ab und zu am Bett, und aus irgendeinem Anlaß erhielten alle kleinen Patienten irgendwann ein Geschenk. Wahrscheinlich war das am ersten Juni, dem Internationalen Kindertag. Auch bei der Rückkehr nach Hause gab’s ein Geschenk, diesmal vom Großvater: ein großer Traktor aus Holz nebst Anhänger.

Unsre Familie bewohnte zu dieser Zeit schon zwei kleine Räume im Hause des Großvaters. Mein Vater hatte auf den Umzug dorthin bestanden, gegen den Willen miener Mutter allerdings. Die sah wohl mit weiblichem Gespür die Tragödie der kommenden Jahre voraus. Mein Vater hingegen versprach sich den Übergang des Hauses in seinen Besitz, wenn nur die Zeit dafür erst reif wäre. Bis dahin könne man sich doch wohl mit den alten Leutchen arrangieren. Zwölf folgenschwere Jahre sollten bis zu unserem Auszug vergehen, bis zur späten väterlichen Einsicht, dass er nie ein Hausbesitzer sein würde, jedenfalls nicht im Falle des großväterlichen Erbes und auch sonst wohl nicht. Jahre, die begleitet waren von ständig zunehmenden Zank und Streit, ausgetragen zuerst von beiden Frauen, der alten und der jungen, zunehmend auch zwischen Vater und Großvater, bis hin zum unwiderruflichen, absoluten Bruch beider Parteien.

Mein Vater hätte in den sehr frühen Jahren des Wohnens im Hause meines Großvaters ein Angebot annehmen können, welches er von einer seiner Hamsterfahrten aus den hannoveraner Landen mitbrachte. Der Besitzer einer dortigen kleinen Strickerei, mit dem er aus welchen Gründen auch immer zusammentraf, unterbreitete ihm, doch bei ihm in seiner Firma in Braunschweig zu arbeiten, ausreichend Wohnraum für die junge Familie wäre auch vorhanden. So lukrativ dies sich anhörte, mein Vater verschwieg’s der Mutter und schlug es aus, zum einen, weil er auf des Großvaters Haus spekulierte, zum anderen war ihm ein Arbeits- und Wohnortswechsel in die Westzonen Deutschlands wohl nicht geheuer. Die wahren Ursachen dafür kamen nie ans Tageslicht, gemunkelt wurde später, die amerikanischen Besatzer hätten ihn nach Kriegsende namentlich eine geraume Zeit im Fränkischen gesucht. Dort war er auch als Ausbilder an einer Führungsschule der Waffen-SS im Range eines Oberscharführers für ein paar Monate tätig. Vom weiteren Fronteinsatz zurückgestellt als letztverbliebener männlicher Nachkomme, da alle sein drei Brüder in Kampfhandlungen an Ost- und Westfront als vermisst beziehungsweise gefallen gemeldet worden waren. Was immer den Umzug der jungen Familie nach Braunschweig wirklich verhindert haben mag, es blieb auf ewig meines Vaters alleiniges Geheimnis.

Ich selbst hatte mit der armseligen Dürftigkeit dieser Jahre keine Probleme. Nicht mit der Beengtheit der Wohnstube, welche nach der Geburt meines Bruders für vier Personen auf knappen zwölf Quadratmetern zugleich als Küche, Aufenthaltsraum und Spielzimmer, ja als Waschraum für die ganze Familie fungierte. Alle zwei Woche verwandelte sich dieser Raum zumal in eine Badestube. Eine große Zinkwanne wurde aus dem Keller bugsiert, allmählich gefüllt mit auf dem kleinen Gaskocher erwärmten Wasser. Sodann wurde eine Leine quer durch den Raum gespannt, darüber eine Decke gehangen. Mutter gebührte stets der Vortritt. Abgeschirmt hinter dem zeitweiligen Raumteiler entkleidete sie sich und stieg in die Wanne, nach ihr wurden die Kinder, stets gemeinsam, dem Bade zugeführt, der Vater beschloss den Reigen, nicht ohne jedoch vorher den nunmehr massiv auf der Wasseroberfläche schwimmenden grauen Schaum abzuschöpfen und frisches Wasser zuzuführen. Die Prozedur verbrauchte jedesmal Stunden.

Wenig störend empfand ich es auch, wenn die permanenten malermäßige Renovierungen dieses Wohnraumes anstanden. Permanent, da der neue Anstrich, kaum vom Vater aufgebracht, schon kurz danach infolge der hohen Wandfeuchtigkeit wieder abfiel und Putz und Mauerwerk darunter erneut sichtbar wurden. Hatte ich doch mein eigenes, kleines Refugium: einen winzigen Raum, groß genug gerade, dass Bett, Stuhl und eine kleine Kommode darin Platz fanden. Hier lebte ich vorerst mit meinen Büchern in der Welt der Zwerge, Elfen und Zauberer, später kämpfte ich an der Seite des Germanenfürsten Armin im Teutoburger Wald gegen die Römer, mit Pawel Kortschagin gegen die Weißgardisten in Russland, mit Trini für den Sieg der mexikanischen Revolution, litt und stritt mit Ljonka Pantelejew und den Waisenkindern der Schkid.

Schon gar nicht störte mich die mich die ganze Kindheit begleitende schlichte Kost, satt wurde ich allemal. Die bis in die Mitte der fünfziger Jahre währenden allabendlichen Stromabschaltungen, in derem Folge vor allem an den langen Herbst- und Wintermonaten die Familie im Kerzenschein um den Tisch herum saß, hatten für mich eher eine Atmosphäre abenteuerlicher Romantik.

ich verlebte meine Kinderjahre in ländlicher Umgebung: Unmittelbar auf der anderen Straßenseite des großväterlichen Hauses ging die städtische Randsiedlung in bäuerisches Land über . Drei- und Vierseithöfe, umgeben von Wiesen, Teichen und Obstgärten, folgten durchflossen von Bächen aufeinander, wechselten sich ab mit von Feldwegen durchzogenen Weiden und Äckern, allesamt durchdrungen und umsäumt von kleinen Wäldchen. Der zurückliegende Krieg hinterließ in dieser Gegend nur ungewollt seine Spuren: Zwei der alliierten Sprengkörper, die vom Himmel fielen, zerstörten in der letzten Bombennacht des März 1945 einen Bauernhof und ein Siedlungshaus, weitere Bomben, durch Wind oder Fehlabwurf deplaziert, schlugen jede Menge Krater in die umliegenden Wälder. Gleich den Kindern aus der Nachbarschaft streunte ich durch Wiesen und Wälder, baute Dämme in Bächen, hütete zum Gegenwert einer Wurststulle für die Bauern ganztägig die Kühe auf den Weiden, stromerte in Ställen und Scheunen umher, half bei den herbstlichen Kartoffelernten. Auch dies pro Nachmittag für ein Wurstbrot, in späteren Jahren für fünfzig Pfennige.

Zu den besonders beliebten Spielplätzen zählten eine stillgelegte Kiesgrube, welche mit fortschreitender Trümmerbeseitigung und Wohnungsneuausstattung zusehends zur Müllkippe verkam, sowie die Ruinen des zerbombten Bauernhofes. Hier tobten dann vor allem in den Ferienzeiten, zum blanken Entsetzen aller Mütter freilich, die „Kriege der Knöpfe“. So sehr auch die Ergebnisse dieser Kriegsspiele denen glichen, wie sie zum ewigen Leidwesen aller Mütter schon von ihren Vätern und Großvätern seit alters her nach Hause getragen wurden, vornehmlich in Form von Beulen und Schrammen an Kopf, Armen und Beinen als auch in Form von Löchern und Rissen in Jacken und Hosen, so sehr unterschieden sie sich in der Benennung der gegnerischen Parteien. Die Knaben standen sich hier nicht mehr wie einst ihre Vorväter als Deutsche und Franzosen oder Deutsche und Russen gegenüber, auch nicht als Deutsche und Hereros sondern als Weiße und Rote, Rotarmisten und Faschisten, wir ahmten die Helden einschlägiger sowjetischer Revolutionsfilme nach. Die Spielregeln freilich glichen denen ihrer Vorväter aufs Haar: Die selbsternannten Guten verdroschen die dazu eingeteilten Bösen.

Meine geistige Erziehung erfuhr ich allein durch den Vater. Die Mutter stand in diesem Prozess am Rande, ihr oblag die unmittelbare Verantwortung für Nahrung und Kleidung, in der väterlichen Welt der Märchen, Sagen und Erzählungen fand sie keinen nennenswerten Platz.

Erwähnt werden muss an dieser Stelle, dass mein Vater in diesen Jahren selbst der weltanschaulichen Erneuerung und Wandlung unterlag. Zurückgekehrt aus kurzer amerikanischer Gefangenschaft bedurfte es seitens meines ehern sozialdemokratisch gesinnten Großvaters erheblicher Bemühungen, bei meinem Vater das infolge Wehrmachtsdienstzeit und Kriegsereignisse verschüttete Klassenbewußtsein wieder freizuräumen. Als Erfolg der Anstrengungen konnte es der Großvater alsbald verbuchen, dass mein Vater in die Reihen der Sozialdemokratischen Partei zurückkehrte, mit der er alsbald in der neuen Einheitspartei aufging. Dessen ungeachtet blieb unbewußt ein erhebliches Maß braunen Irrglaubens in seinen Betrachtungen und Auslegungen der nationalen und internationalen Geschehnisse erhalten. So konnte es geschehen, dass diese der neuen Staatsideologie teilweise fremden, ja gar feindlichen gegenüberstehenden geistigen Relikte mit den Erzählungen des Vaters auf mich übergingen und hin und wieder in den ersten Klassenstufen für erhebliche Verwirrungen bei meiner Lehrerschaft sorgten, wenn ich die Weisheiten meines Vaters vor den Klassenkameraden im Brustton eigener Überzeugung zum Besten gab. Erwähnt werden muss des weiteren, dass mein Vater, durch erlebte böse Kriegsverletzungen und den Verlust seiner Brüder im Krieg für alle Zeiten auf das schmerzlichste belehrt, nunmehr jedwedem Kriegsgebaren abhold war. Wiedererstarktes Klassenbewußtsein hin, proletarischer Internationalismus her, Waffenübungen und Waffeneinsätze jeglicher Art lehnte er ein für alle Mal kategorisch ab, auch solche, die angeblich im Sinne der Sache geschlagen wurden. Das bei mir und meinen Spielgefährten in Ruinen und Wäldern praktizierte Kriegsspiel fand im Elternhaus als dort aufs heftigste gebrandmarkt keinen Einlass, aufgefundenes Kriegsspielzeug, wenn auch nur annähernd als solches identifiziert, wanderte keinen Widerspruch duldend mit kühnem Schwung in den Ofen. Anfangs besorgte das noch mein Vater selbst, in späteren Jahren, da ich im Umgang mit Feuer inzwischen geübt war, mündete diese Handlung in ein Ritual belehrend-bestrafender Natur: Alles, was dem väterlichen Willen und Wollen vergegenständlicht zuwiderstand, war unter meines Vaters strengem Blick durch meine eigene Hand dem Feuer zu übereignen. Dem Flammentod fiel auf diese Weise nicht nur verpöntes Kriegsspielzeug zum Opfer. Mit meinem zunehmenden Alter und Wissensdrang erlitten dieses Schicksal ebenso die in unserem Haus gleichermaßen nicht geduldeten Leseheftchen, von meinem Vater allesamt zu Schmökern verurteilt. Völlig unerheblich dabei, ob es sich um Bestandteile der Weltliteratur, Mickey-Mouse-Hefte oder Tom-Mix-Abenteuer handelte. Als auch, da besuchte ich bereits die höhere Schule, vor meinem Vater zu schlecht versteckt gehaltene Fotos nackter Weibsbilder.

 

Aber kehren wir zurück in die Zeit, da mein Vater selbst noch weltanschaulich an sich arbeitete. Mag sein, er hatte wider der offiziellen Darstellung in Radio und Zeitung den Kriegsbeginn auf der koreanischen Halbinsel mit dem noch wachen Blick des ehemaligen Kriegers wirklich durchschaut und seine Sicht der Dinge alsdann in seiner Parteigruppe vertreten, mag sein. Möglicherweise ist ihm auch die äußerst laxe Handhabung der ihm anvertrauten Funktion des Wohngebietspropagandisten zum Verhängnis geworden, vielleicht auch beides. Wie dem auch sei, im Zuge der Parteisäuberungsmaßnahmen Anfang der fünfziger Jahre wurde mein Vater nicht mehr für würdig befunden, dem Kreis der auserwählten Streiter für Freiheit und Recht anzugehören, seine Mitgliedschaft als Kanditat der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands erlosch auf Beschluss des Sekretariats der Kreisleitung. Darüber war er nicht unbedingt bekümmert, jedenfalls nicht zu dieser Zeit, denn der passionierte Skatspieler hatte inzwischen seine zweite Leidenschaft entdeckt, das Schachspiel. Bald spielte er das Königsspiel im Verein und mit diesem in der Kreisliga. Da blieb freilich wenig Zeit für propagandistische Feldzüge im Wohngebiet, kaum noch für die Familie, da sich der Schachverein nahezu allsonntäglich zum Kampf auf vierundsechzig Feldern rüstete, mal auswärts, mal daheim. Fortan nannte sich mein Vater einen parteilosen Kommunisten, was immer er sich darunter vorstellen mochte. Es ist offen, ob er je von der gleichartigen politischen Positionierung Berthold Brechts erfahren hat.

Was von meines Vaters erster Phase weltanschaulicher Erneuerung blieb, war die unerschütterliche Überzeugung vom gerechten Kampf der Arbeiterklasse gegen die zu jeder Zeit auf Krieg und Profit erpichten Kapitalisten. Viele Jahre später folgte dann die zweite Phase, die schürfte wesentlich tiefer und hatte Folgen mit Langzeitwirkung, auch für mich selbst.

Vorerst aber fand ich mich nur konfrontiert mit den Erneuerungsergebnissen der ersten Phase. Die schienen mir auch zutiefst logisch und real anschaubar: Mutter und Vater entstammten dieser Arbeiterklasse, die Lebensumstände der Familie waren entsprechend karg. Sichtbar ärmlicher jedenfalls als bei den wenigen Bekannten, deren sozialer Stand als gehoben galt, ohne dass diese Bekannten schon der Klasse des klassischen Bürgertums angehörten. Offenkundig ein Ergebnis ungerechter Verteilung, denn meine Mutter und mein Vater arbeiteten beide von frühmorgens bis spätabends in der Fabrik, reich wurden sie dadurch nicht. Nicht so jedenfalls wie besagte Bekannte, wo nicht selten nur der Ehemann einer Einkommenstätigkeit nachging. Um wieviel ungerechter musste sich die soziale Differenz erst gegenüber richtigen Kapitalisten aufzeigen! Noch anschaulicher zeigten sich die Folgen des letzten Krieges. Die Besuche, die ich hin und wieder mit der Mutter in die Stadt unternahm, offenbarten das Elend der von Bomben zerstörten Häuser, Straßen und Plätze. Jahre später noch verunzierten Ruinen und vom Unkraut überwucherte Ecken das Zentrum der Stadt, wo einst urbanes Leben pulsierte. Diese Eindrücke, gepaart mit den düsteren Erzählungen der Erwachsenen aus den vergangenen Kriegsjahren führten bei mir zu einer geradezu lähmenden Angst vor dem Krieg. Sie befiel mich, wenn ich auch nur ein Flugzeug am Himmel grummeln hörte, sie befiel mich, wenn Nacht für Nacht auf der Straße vor unserem Haus die schier endlosen motorisierten russischen Militärkolonnen vorbeizogen. Sie befiel mich, wenn sich Mutter und Vater ob besorgniserregender Nachrichten aus dem Radio stumm anschauten, sie prägte meine politischen Entscheidungen auf Jahrzehnte.

Der Schuleintritt stellte kein gravierendes Ereignis für mich dar, glücklicherweise besaß ich die energiesparende Gabe, den Lehrstoff im Nebenbei aufzunehmen. Zumal dann, wenn etwas schwierigere Lehrinhalte mehrfach wiederholt und trainiert werden mußten. So blieb viel Raum, die verordneten Hausaufgaben auf dem halben Hosenboden zu erledigen und sich alsdann rasch wieder den weitaus angenehmeren Dingen des ungebundenen Lausbubenlebens zu widmen.

Zeit wird es nun, eine Figur in meine Lebensgeschichte einzubinden, die zwar nicht unmittelbar, so aber doch vermittelnd über meinen Vater einen nicht geringen Einfluß auf mein weiteres weltanschauliches Voranschreiten außerhalb der schulischen Anleitungen ausübte. Zu reden ist von Onkel Friedrich. Eigentlich war der ein Onkel meiner Mutter und deshalb mein Großonkel, kurz genannt aber nur „Onkel Fritz“.