Aufschwung-Ost

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Aufschwung-Ost
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Exposé

Als Ergänzung und gewissermaßen Fortsetzung der „Geschichten aus einem anderen Land“ lässt uns der Autor in seiner autobiographischen Erzählung teilhaben am beruflichen Werdegang seines Protagonisten Gert Holstein im wiedervereinigten Deutschland. Er berichtet von Entlassungen, Arbeitslosigkeit, skurrilen Beschäftigungen und schlimmen Befindlichkeiten. Diejenige, welche ähnliche Erfahrungen gemacht haben, werden sich darin wiederfinden. Diejenigen, welche nie solche Erfahrungen gemacht haben, sollten darüber froh sein und ein Sprichwort der Indianer beherzigen: Bevor Du Dir eine Meinung über jemand anders bildest, lauf erst einmal ein halbes Jahr in dessen Mokassins.

Weiterhin vom Autor liegen als ebook vor

Autobiographische Erzählungen

„Geschichten aus einem anderen Land“

Fiktion

„Maidan – Am Vorabend der Apokalypse“

Sachtexte

„Glaube & Ansichten – Beiträge zu zeitgenössischen deutschen Geschichte“

Impressum

Aufschwung Ost – Die neue Arbeitswelt

Gert Holstein

Copyright: © 2015 Joachim Gerlach published by: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-3056-9

Inhaltsangabe

Exposé

Begriffsklärungen

Erste unfreiwillige Entlassung

Fortbildung

Handels- und andere Geschäfte

Vaters Vermächtnis

Letzte unfreiwillige Entlassung

Begriffsklärungen

Arbeitswelten. Wenn ich richtig gezählt habe, waren es ihrer 13 in meinem Berufsleben. 7 in 21 Jahren vor und 6 in 13 Jahren nach der Wende, Studium, nachwendige Fortbildungsmaßnahmen und Arbeitslosigkeit darin nicht eingerechnet. Aus sachlichen und formellen Erwägungen habe ich die Dienstzeit bei den DDR-Streitkräften, welche unter dem fälschlichen Begriff „Nationale Volksarmee“ firmierten, in 2 Arbeitswelten geteilt. Sachlich, weil ich bei den Seestreitkräften nahezu ausschließlich als Besatzungsmitglied eines Raketenschnellbootes agierte, bei den Landstreitkräften hingegen am Schreibtisch als Mobilmachungssachbearbeiter eines Wehrkreiskommandos. Formell wegen der Uniform.

Man erkennt sehr schnell, dass meine durchschnittliche Verweilzeit in den jeweiligen Arbeitswelten differenziert ausfällt: Genau 3 Jahre zu DDR-Zeiten stehen etwas über 2 Jahre in der neuen Zeitrechnung gegenüber. Schaut man genauer hin, erkennt man, dass sich in den 25 Jahren seit meinem Eintritt ins Berufsleben im Jahr 1965 bis zum sozialistischen Showdown nicht ein Tag ohne Arbeitsvertrag befindet. In den 15 Jahren nach der Wende bis zu meinem vorfristigen und punktreduzierten Rentenbeginn im Jahr 2009 waren es über 1300 Tage.

Auch wird bei näherer Betrachtung deutlich, dass sich meine Kurzzeitbeschäftigungen zu DDR-Zeiten eigentlich nur zum einen auf die Phase bezogen , da ich nach der Lehre der Überbrückung und des Geldes wegen bis zur Einberufung noch ein Vierteljahr als Schlosser im Reichsbahnausbesserungswerk arbeitete und zum anderen auf die Phase, da ich nach nur 16 Monaten mit Karacho wieder aus dem SED-Parteiapparat flog. Die meine „Geschichten aus einem anderen Land“ kennen, wissen, wovon ich hier rede. In den nur 15 Jahren bis zum vorgezogenen Renteneintritt, weil dem all-durchleuchteten Dasein eines Arbeitslosengeld-II-Empfänger mit höchster Skepsis gegenüber stehend, sind rein statistisch gesehen 3 Kurzzeitbeschäftigungen zu benennen.

Zur Arbeitswelt gehören Einstellungen und Entlassungen. Auch hier gibt es nicht zu verleugnende Systemunterschiede. Beginnen wir mit den Einstellungen. Zu DDR-Zeiten suchten sich die Arbeiter und Angestellten nach eigenem Bedarf, eigener Vorstellung und Verwendungsmöglichkeit einen neuen Job. Das war nicht besonders schwierig, denn infolge, gemessen am westlichen Niveau, technisch-technologischer Rückständigkeit in Industrie und Landwirtschaft galt die menschliche Arbeitskraft als der Treibriemen der Wirtschaft. An Arbeitskräften fehlte es folglich zu allen Zeiten und an allen Ecken und Enden. Eine neue Stelle war so in aller Regel auch mit einem etwas höheren Salär verbunden. Aufwendige Stellenbewerbungen und im Vorab trainierte Vor- oder besser Verstellungsgespräche entfielen.

In der 1990 um 16 Millionen Menschen und etwas über 100 Tausende Quadratkilometer erweiterten Alt-BRD änderte sich dieses Prinzip radikal. Nunmehr galt: Verkaufen, verkaufen, verkaufen. Waren aller Art – benötigte und überflüssige. Dienstleistungen aller Art – benötigte und überflüssige. Sich selbst. Böse Zungen, vornehmlich ostdeutsche, behaupten sogar, das 13. Gymnasialjahr wäre nur zu dem Zwecke eingerichtet, um mit dem darin eingefügten Schauspielunterricht die zukünftigen Kämpfer auf dem Schlachtfeld des Arbeitsmarktes zu wappnen.

Ich weiß nicht mehr, wie viele Bewerbungsschreiben ich im Zustand der immer wieder über mich hereingebrochenen Arbeitslosigkeit abgesandt habe, vielleicht an die hundert, eher weniger. Ich bin kein Steh-auf-Männchen, welchem man stetig eins auf die Mütze gibt, und welches trotzdem Sisyphus gleich immer wieder den Stein den Hang nach oben wälzt. Ich habe irgendwann den Kanal voll und zwar gestrichen. Da helfen dann auch keine Belehrungen, Ermahnungen, Zureden und andere Überredungskünste mehr. Dann fahr ich die Hörner aus.

Dass ich trotzdem zum einen mit 50 und zum anderen Mal sogar mit 55 Jahren Jahren wieder Eingang ins vollbeschäftigte Arbeitsleben fand, mit 55 zumal recht gut besoldet, rechne ich den Glücksfällen meines Lebens zu. Wobei die letztgenannte Glücksfälle bei all ihrer immensen Bedeutung, das muss ich hier, um Irrtümer zu vermeiden, einfügen, meinem größten Lebens-Glücksfall, meiner Frau, nicht das Wasser reichen können. Nicht mal ein klitzekleines Tröpfchen.

Womit ich bei den Entlassungen als der zweitwichtigsten Kategorie der Arbeitswelten angelangt wäre. Hier zeigen sich nun ganz enorme Ost-West-Unterschiede.

Entlassungen unterscheiden sich nach der auf dem Eigenwillen des Beschäftigten beruhender Freiwilligkeit einerseits und andererseits der vom Beschäftigten nicht mit Eigenwillen untermauerten Unfreiwilligkeit des Ausscheidens aus dem gegebenen Arbeitsverhältnis. Die 7 DDR-Arbeitswelten beendete ich allesamt auf der Basis meines Eigenwillens, freiwillig also und ohne einen einzigen arbeitsvertragsfreien Tag bis zur nächsten Arbeitswelt. Das mag denen komisch im Ohr klingen, welche die „Geschichten aus einem anderen Land“ kennen, denn die wissen, dass ich einst in hohem Bogen aus dem Parteiapparat flog. Fristlose Kündigung. Was jedoch nicht im Widerspruch zu meinem Eigenwillen stand, denn der war gerade in diesem Falle besonders ausgeprägt. Ergo freiwillig auch hier. Jedoch galt damals wie bei allen anderen weshalb auch immer aus dem bisherigen Arbeitsverhältnis Ausgeschiedenen: Keiner wird zurückgelassen! Arbeit für jedermann! Wer sich in diesem Sinne nicht rechtzeitig selber bemühte, hatte alsbald die Mitarbeiter des örtlichen Amtes für Inneres, welches sich unter anderem auch der sozialen Fälle annahm, auf dem Hals. Beschäftigungslose gab es zwar genug unter den in den Betrieben Angestellten, nicht aber in der offiziellen DDR-Statistik. So gelangte ich nach dem eklatanten Rauswurf ohne eigenes Zutun nach 6-wöchiger Krankschreibung in den Bereich Konsumgüter beim Bezirkswirtschaftsrat. Nach dem fast auf den Tag genauen fristlosen Rauswurf aus dem öffentlichen Dienst 10 Jahre später musste ich mich selber kümmern.

Als man mit Volkes Willen 1990 staatlich zusammen legte, was angeblich zusammen gehörte, wendete sich das Blatt. Aus den nun folgenden 6 Arbeitswelten schied ich samt und sonders unfreiwillig aus. Nicht dass ich mich in den jeweiligen Arbeitswelten besonders wohl gefühlt und deshalb alles daran gesetzt hätte, in selbigen zu verbleiben. Beileibe nicht! Jedoch mangelte es an artgerechten Alternativen.

Die erste unfreiwillige Entlassung traf mich im öffentlichen Dienst nach der Enttarnung meiner einstigen zeitweiligen Tätigkeit als IM des MfS. Das war ärgerlich, da die BAT-Ost-Zuwendungen just in diesem Augenblicke ganz erheblich im Steigen begriffen waren, wenn auch der Job selbst nicht viel hermachte. Zwei der darauf folgenden unfreiwilligen Entlassungen erfolgten planmäßig, da die damit verbundenen Beschäftigungsverhältnisse von vorn herein zeitlich befristet waren. Unfreiwillig trotzdem, denn ich wäre in Ermangelung anderer Möglichkeiten lieber darin verblieben. Die restlichen 3 Entlassungen waren solche aus betriebsbedingten Umständen. Solcherart Entlassungsgründe kannte man im Osten vor dem fatalen Zusammenbruch überhaupt nicht.

Nach jeder dieser 6 unfreiwilligen Entlassungen trat ich zunächst als Kunde des Arbeitsamtes in Erscheinung. Mit mehr oder weniger langen Verweilzeiten in diesem System. Allein die Gnade der frühen Geburt verschaffte mir einen vorerst noch sicheren und Platz im Revier der Altersrentner und bewahrte mich vor dem Übel des Absturzes nach Hartz-4.

Halten wir uns nicht länger bei den Vorreden auf sondern begleiten wir unseren Protagonisten Holstein auf seinem dornenreichen Weg in den nachwendigen Arbeitswelten.

Olstein

Erste unfreiwillige Entlassung

Holstein war sich auch im Frühjahr 1992 noch dessen bewusst: Irgendwann würden sie auch ihn benannt finden. Benannt auf unversehrt gebliebenen Karteiblättern, auf in letzter Eile grob zerrissenen karierten und linierten A4-Bögen, auf Magnetbändern, Disketten, Festplatten. Er wusste immer, es war ein Vabanquespiel, sich der trügerischen Sicherheit hinzugeben, die Beweismittel seiner einstigen, inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem Schild und Schwert der Partei seien vernichtet, versiebt, nicht mehr auffindbar. Aber die Hoffnung wurde genährt mit jeder Überprüfungsrunde, der er selbst nicht zum Opfer fiel, mit den zeitlich immer größeren Überprüfungsabständen und mengenmäßig immer geringeren Betroffenen. Der größte Schwung von Entlassungen stasi-belasteter Behördenmitarbeiter erfolgte bereits unmittelbar nach dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages, ein paar der somit entstandenen Lücken wurden mit politisch unbelasteten, noch in der Warteschleife Verharrender aufgefüllt, ein paar andere mit Leuten, die Holstein nicht kannte. Je mehr Zeit verging, desto mehr verdrängte Holstein die Möglichkeit seiner Entdeckung, ließ auch eine in durchaus verständnisvollen Worten formulierte Frist, die der neue Behördenleiter, ein Beamter des Altbundeslandes Baden-Württemberg, zur freiwilligen Meldung noch nicht entgauckter Mitarbeiter setzte, ohne mit nur einer Wimper zu zucken, verstreichen. Was auch hätte ihm diese freiwillige Meldung nutzen können? Die gesetzlich unumgängliche Entlassung aus einer die Gesetzestreue überwachenden Behörde zu vermeiden? Wohl kaum. Und dies zu einer Zeit, da Daniela gleichermaßen von Arbeitslosigkeit bedroht noch keinen festen beruflichen Boden wieder unter ihren Füßen hatte. Zwei Arbeitslose mit zwei Kindern in kostspieliger Ausbildung? Nein, seine Chance lag nur im Verharren, Verharren ohne jedweden weiteren Mucks. Außerdem hafteten da noch erhebliche Relikte elitären Klassenbewusstseins in ihm. Er, der sich in den stürmischen Novembertages des Jahres ’89 als Aktivist für die sozialistische Erneuerung seines Landes eingesetzt und sich als einziger der später en masse aufgeflogenen IM’s vor nahezu allen Mitarbeitern der ehemaligen Planungsabteilung im Rat des Bezirkes dazu bekannt hatte, für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet zu haben, er, der in jenen Tagen mit seinem Engagement für einen demokratischen Sozialismus, in dem Sach- und Fachkompetenz statt Ideologien vorherrschten, im wahrsten Wortsinn Kopf und Kragen riskiert hatte, dies zu einer Zeit, da die politischen Würfel noch bei weitem nicht gefallen waren, sollte jetzt vor den neuen Herrn zu Kreuze kriechen, vor den nach seiner Sichtweise hochdotierten Handlangern des einstigen Klassenfeindes devot Reue heucheln und demütig um Vergebung bitten? Reue und Vergebung für eine Sache, die er zwar so wie sie real ablief, nicht aber inhaltlich ablehnte? Nie und nimmer! Niemals!

 

Die geschichtliche Entwicklung zur schnellen Einheit Deutschlands war so von Holstein nicht gewollt. Indes war er sich, wie schmerzlich diese Entwicklung auch über ihn kam, dessen bewusst, dass jede andere als diese Konfliktlösung zwischen den Systemen, zumal mehrheitlich vom Volkswillen getragen, mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit Blut und Tränen, Mord und Totschlag bedeutet hätte. Es wäre müßig, mit ihm darüber zu debattieren, wie es hätte anders ausgehen können. Holstein anerkennt den historischen Prozess als einen streng determinierten, von jeglichen Geschehnissen, die andere Zufälle nennen, befreiten. Geschichte kennt bei ihm nur „war“ und „ist“, niemals „wenn“ und „hätte“. Schon gleich müßig wäre es, mit ihm darüber zu streiten angesichts der Tatsache, da die DDR zum Zeitpunkt ihres Dahinscheidens gegenüber dem westlichen Ausland dollarseitig hoffnungslos zigmilliardenfach überschuldet war, der Abbau des Schuldenberges die Absenkung des ohnehin im Vergleich mit den Brüdern und Schwestern jenseits der Elbe nicht zum Besten bestellten Lebensstandards um wenigstens zwanzig, wenn nicht gar dreißig Prozent zur Folge gehabt hätte, was wohl von den Werktätigen zwischen Kap Arkona und Fichtelberg kaum mit verständiger Zurückhaltung und wohlwollender Akzeptanz belohnt worden wäre.

Auch nahm Holstein die statt dessen sich entfaltende generelle Entwicklung in Deutschlands Osten nach der Wende nicht wunder, nicht wirtschaftlich und nicht sozial. Politökonomisch hinreichend geschult wusste er um die generellen Spielregeln kapitalistischer Wirkprinzipien lange bevor er sie am eigenen Leibe erfuhr. Er lächelte über diejenigen, die da noch geraume Zeit daran glaubten, nun würden die maroden DDR-Betriebe endlich flott gemacht, und sich alsbald ihrer Hoffnung und ihres einstigen Arbeitsplatzes betrogen allesamt auf den Fluren der Arbeitsämter wiederfanden. Hatten sie geglaubt, das kapitalistische Wirtschaftssystem sei ein Wohlfahrtsverein? Hatten sie geglaubt, die linkselbischen Unternehmen würden bei zu Wendezeiten nur achtzigprozentiger eigener Kapazitätsauslastung eine rechtselbige Konkurrenz dulden?

Dass nach all den Hoffnungen, Sehnsüchten, aufgestauten Erwartungen und darauf begründeten Versprechungen der soziale Ausgleich für die nunmehr gleich dreifach freien Lohnarbeiter Mecklenburgs, Brandenburgs, Sachsens, Thüringens uns Sachsen-Anhalts erst einmal eine gebotene Höhe nicht unterschreiten durfte und entsprechende Mittel fließen würden, ja mussten, war ihm auch klar. Die Zeit würde es noch zeigen, was die Vorhersagen der jetzt die politische Bühne dominierenden Politiker bezüglich blühender Landschaften wirklich taugten.

So verharrte Holstein, derweil seine Ehefrau Daniela mit dem nunmehr in harte Währung getauschten Geld begann, Möbelstück für Möbelstück, Kücheneinrichtung für Kücheneinrichtung, die Wohnung neu zu strukturieren, die fünfzehnjährige Tochter Maria sich der plötzlich wohlfeilen und allenthalben auch erschwinglichen schicken Klamotten und wohlriechender Kosmetika erfreute, Sohn Sven seinen ersten Commodore-Computer auf den Tisch im Kinderzimmer stellte und sich auf den zehnmonatigen Wehrdienst in der Bundeswehr vorbereitete, gedanklich noch eher im Gewesenen und beruflich am bisherigen Arbeitsplatz in der ehemaligen Bezirks-Planungsbehörde. Die hatte sich mittlerweile zum Regierungspräsidium gemausert, abgespeckt allerdings um mehr als eintausend dort vormals Beschäftigte. Letztere dümpelten vorerst bis zur Entscheidung ihres weiteren Einsatzes in einer sogenannten Warteschleife. Inwieweit die Wartenden dabei erkannten, dass ihre Schleife die sanfte Umschreibung eines wesentlichen Bestandteils leninscher Revolutionstheorie war, des Teiles nämlich, der verlangte, dass der niedergerungene vormalige Staatsapparat letztendlich gänzlich zu zerschlagen sei, und zwar inhaltlich, formell und auch bezüglich seiner subjektiven Akteure, war nicht klar deutbar. Eine erhebliche Zahl der in der Schleife Wartenden war des Wartens sowieso beizeiten müde, entsagte jeglicher Hoffnung, je wieder im Osten Arbeit zu finden und wandte sich gen Westen. Viele darunter auch im Wissen darüber, dass man sowieso schon alsbald ihre geheime Zuträgerschaft zu den Dienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit ans Licht der Öffentlichkeit bringen würde.

Holstein blieb von den permanenten, schubweisen Entlassungen verschont. Wäre es nach dem Willen seines letzten Noch-DDR-Vorgesetzten gegangen, dem, den er zur Wendezeit gerade erst kennengelernt hatte und mit dem er so viele unsägliche und heftige Streitgespräche über die Wunderwelt des verblichenen Sozialismus hatte führen müssen, dann hätte es ihn als einen der ersten getroffen, dann wäre es mit ihm auf dieser Arbeitsstelle noch weit vor der Währungsunion im Sommer ‚90 aus gewesen. Wenn, hätte, wäre. Doch die Ergebnisse erster gauckscher Analysen und Aufarbeitungen trafen schon bald ein, der Vorgesetzte musste gehen und Holstein verblieb im Amt, vorerst. Obgleich mit argen Bauchschmerzen, denn die Paragraphen des Einigungsvertrages verlangten die Säuberung jedweder öffentlichen Einrichtungen von ehemaligen Mitarbeitern der Staatssicherheit, offiziellen wie inoffiziellen, egal wann, unter welchen Umständen und wie lange sie dem gebrandmarkten Dienst zur Verfügung standen. Und die Aussiebungen hatten gerade eben erst begonnen .

Holstein klammerte sich an die Aussagen eines Bekannten, den er noch aus den Wendemonaten kannte, und der nunmehr dem die Strukturen der ehemaligen Bezirksdienststelle des MfS auflösenden Bürger-Komitees angehörte. „Nein, keine Angst, ich habe nachgefragt. Deine Akten lagen doch sowieso bei der Aufklärung, die sind doch seit langem schon in Berlin und dort durch den Reißwolf.“ Das klang beruhigend, zumal sämtliche, wenn auch nicht mit allem eigentlich gebotenem Nachdruck veranlasste Bemühungen Holsteins, irgendwo anders eine seiner Qualifikation und seinem bisherigen Berufsweg entsprechende Arbeitsstelle zu finden, ohne jeglichen Widerhall im Sande verrieselten. Die wirtschaftlichen Wiesen und Weiden der Umbruchzeit schienen mit Betriebswirten und Verwaltungsfachleuten nur so gepflastert zu sein, seine bescheidenen EDV-Kenntnisse, die ihn bislang als Einäugigen inmitten die vielen Blinden stellten, nutzten da ebenso wenig. Die neue Zeit brachte die Technik und die dazugehörigen Programme gleich zuhauf in die über Nacht west-gestylten Bürostuben, da bedurfte es keiner Anpassungsprogrammierer mehr. Versicherungsvertreter und Finanzdienstleister, eigenständig und freiberuflich selbstredend, wurden gesucht, und das nicht zu knapp. Das aber konnte sich Holstein zum damaligen Zeitpunkt nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen vorstellen, als Klingelputzer im dunkel-lila Anzug treppauf-treppab den Leuten das Blaue vom Himmel zu versprechen und ihnen im gleichen Atemzuge Lebens-, Hausrat- und andere nützliche wie unnütze Absicherungen aufzuschwatzen! Nein, Holstein tat diesmal, was er sich eigentlich schon längst abgewöhnt hatte zu tun, er befolgte einen der so oft gehörten und ebenso oft in den Wind geschlagenen Kernratschläge seines Vaters. Der hatte freilich etwas martialische Hintergründe, schien aber, bei Lichte besehen, so untauglich wiederum auch nicht, wenngleich aus schwer vergleichbarer Situation abgeleitet: Wenn du im Schützengraben liegst und rundherum schlägt es ein, dass es nur so kracht und wummert, dann bleib in deinem Loch und rühre dich nicht von der Stelle!

Zwar hagelte es im Umkreis des Holsteinschen Arbeitsplatzes in den Monaten nach der durch Volkes Willen erwirkten DDR-Vereinnahmung nicht Bomben und Granaten, statt dessen Enttarnungen und Entlassungen, vielleicht half des Vaters verbales Vermächtnis dennoch. Es half nicht, wie wir sehen werden.

Holstein verpasste, wie man so sagt, mit dieser Art Passivität zu einer frühen Stunde, da sich die meisten seiner Landsleute, wenn zugegebenerweise auch nicht ganz freiwillig, neu orientierten, den abfahrenden Zug. Als man ein paar reichliche Monate später letztendlich auch ihn enttarnte und aus der Behörde warf, waren anderweitig die meisten der neu zu besetzenden und umzuverteilenden Stellen schon vergeben, lösten sich die ersten der gerade gegründeten Unternehmen auch bereits wieder auf.

So beschritt Holstein mit mentalem Abstand eine Ära, welche die industriellen Strukturen, die Landschaft der ehemaligen DDR und die Lebensgewohnheiten ihrer Bürger in einem nie gekannten, eigentlich vorher so nicht vorstellbarem Ausmaß umkrempelte, in dem quasi über Nacht Millionen von Menschen ihres Arbeitsplatzes verlustig wurden, in dem Industriebrachen ungeahnter Weiten entstanden, ganze Landstriche und Stadtteile sich entvölkerten, andererseits Verkehrs- und Kommunikationswege entstanden, die zu den modernsten der Welt zählten, neuer Wohnraum geschaffen wurde in Größenordnung der Bautätigkeit der drei letzten DDR-Jahrzehnte, Gewerbegebiete, Möbeldiscounter, Autohäuser und Baumärkte wie Pilze aus dem Boden schossen als gälte es, in Tagen und Wochen die Versäumnisse vorangegangener vierzig Jahren aufzuarbeiten.

Eine Ära, in welcher die Autobahnen in Richtung Bayern, Hessen und Niedersachsen am Sonntag nachmittags vollgepfropft waren mit anreisenden Berufspendlern aus dem wirtschaftlich entblößten Neubundesgebiet, in dem die Holsteins zum ersten Mal in ihrer Familiengeschichte endlich Autos fuhren, deren Reparatur, so denn überhaupt erforderlich, nicht von Holstein selbst bei Wind und Wetter auf der Straße vollzogen wurde, in dem die Holsteins begannen, Europa und die Welt zu bereisen. Eine Ära, in welcher selbst die Holsteins nach zehn Jahren ein kleines Häuschen und darinnen neben moderner Küche, komfortabler Möblierung auch drei Farbfernsehgeräte ihr eigen nannten, das Häuschen freilich hochgradig kreditbelastet.

Eine Ära, welche Waren, Dienstleistungen, ja alle möglichen und unmöglichen Dinge des Lebens in gar unüberschaubarer Flut aller Orten und zu allen Zeiten darbot und welche dennoch nicht im Entferntesten vermochte, eine der wichtigsten Fragen irdischen Daseins zu beantworten: Was wir morgen sein? Werden wir noch Arbeit haben? Werden die Kinder nach Ausbildung und Studium auch Arbeit haben? Werden sie überhaupt einen Ausbildungsplatz haben? Eine Ära, welche neben der noch vor wenigen Jahren ungeahnten Möglichkeit, im gegebenen kurzzeitigen Moment beachtlichen Wohlstand zu genießen, die stete Bedrohung dieses Wohlstandes, ja des gänzlichen sozialen Abstieges stellte.

 

Aber nicht allein das Damoklesschwert der Aufdeckung seiner einstigen geheimdienstlichen Verstrickungen schwebte über Holsteins Haupt, auch fachlich gesehen befand er sich mittlerweile in einer ziemlichen Zwickmühle. Es war eine reine Frage der Zeit, wann dies höheren Ortes bemerkt und entsprechende Konsequenzen daraus gezogen werden würden. Nahezu unmerklich, dafür kontinuierlich gingen ihm nämlich seine Arbeitsinhalte verloren. Gleich mit Beginn der Währungsunion trennten sich fast alle Fachorgane von ihren EDV-Spezialisten, „aussourcen“ nannte man wenig später solcherart Trennung. Das freilich war ein Fehler, denn die neuen Chefs, welche sich aus West und Ost in den Büroräumen der alten, in die Wüste geschickten breit machten, verlangten nach Daten. Holstein entging so dem Versand in die Warteschleife, war er doch plötzlich fast der letzte Wissens- und Erfahrungsträger, der sich noch auskannte in der Handhabung von Technik und Software des der Treuhandanstalt anheim gefallenen volkseigenen Kombinates Robotron und auch wusste, wo die gewünschten Daten gespeichert waren. Daten der territorialen Infrastruktur wurden jetzt massiv benötigt, mögliche Flächen für Gewerbegebiete nebst deren Anbindungen an Autobahnen und Fernstraßen, nicht die Planvorgaben und deren Abrechnungen aus den Zeiten der Mangelwirtschaft. Die hatte Holstein nebst anderen Mitarbeitern auch schon längst in den Schächten der Müllentsorgungsanlage verkippt und zwar immer gleich eimer- und schubkarrenweise. Holstein holte die nunmehr gewünschten Daten nicht nur herbei, er schuf auch gleich die Arbeitsmittel zu deren effizienter elektronischer Aufbereitung. So gehörte er mit einem Mal zum Kreis der wenigen fachlich Unabkömmlichen. Und das war gut so, denn merkwürdige personelle Veränderungen brachte die sich im Aufbau befindende Behörde mit sich. Schlecht einzuschätzen waren die Kompetenzen der durchgängig mit Männern aus Altbundesland besetzten obersten Chefetage. In den mittleren Ebenen hingegen tummelten sich auch Leute, die mit der Wende nach oben gespült wurden, die sich nun wider jedweder Erwartung als langjährige und erbitterte Widerstandskämpfer gegen das SED-Regime entpuppten, obgleich zu DDR-Zeiten noch mit Funktionen in diversen Massenorganisationen oder in mit der SED eng verbundenen Blockparteien betraut. Sie alle versuchten, die Umgebung ihres neuen, nachwendigen Arbeitsplatzes mit Personen ihres Vertrauens, mit Personen, deren Loyalität und Unterwürfigkeit sie sich sicher waren, zu bestücken. Wenig Beachtung fand in diesem Gerangel, ob die fachliche Befähigung des Kandidaten oder der Kandidatin den Anforderungen der zu besetzenden Stelle Genüge tat. Auf diese Weise konnte es schon geschehen, dass simple, aber in Schlachten am Buffet und im Bett langjährig erprobte Sekretärinnen schnell zu Stadt- und Territorialplanern, tumbe, aber schon immer willfährig dienende und dienernde Angestellte zu Bewilligern von Fördermitteln mutierten. Holstein sah’s mit Grausen. Sah mit Grausen die einstige Kollegialität und Kameradschaft, die bisher bei allen Querelen das tagtägliche Dienstgeschäft durchdrungen hatte, einer bissigen Konkurrenz beim Kampf um den Erhalt des eigenen Arbeitsplatzes weichen, sah mit Grausen, wie fachlich völlig minderbemittelte, jedoch angepasst ausnehmend gut gekleidete Personen überdurchschnittlich bezahlte, vor allem aber, und das wog nach den Erkenntnissen aus der sich im Osten millionenfach entfaltenden Arbeitslosigkeit weitaus schwerer, gesicherte Arbeitsplätze einnahmen, derweil, aus welchen Gründen auch immer, fachlich dafür eigentlich viel besser Geeignete ins berufliche und soziale Nichts abglitten.

Mit den sich allmählich heraus kristallisierenden und auch personell bald vollständig besetzten neuen Dienstbereichen flossen immer mehr Aufgaben, die Holstein statt derer bislang interimsmäßig wahrgenommen hatte, von ihm ab. Zuletzt verblieb ihm noch die edv-gestützte Übersicht beantragter und ausgereichter Fördermittel, hin und wieder wurde er auch als Springer für alle möglichen Angelegenheiten eingesetzt. Aber auch hier zeichnete sich schon das baldige Ende ab, denn mit der neuen EDV-Anlage, hochmodern und durchgängig alle Arbeitsplätze vernetzend, lagen auch die im Altbundesgebiet bewährten EDV-Programme auf. Holsteins letzte, fast zwei Jahre ihm die Stellung sichernde Bastion würde in Kürze fallen. Als Vorbote dieses bedenklich näher rückenden Ereignisses klopfte im Januar 1992 eine der neuen, Holstein völlig unbekannten Mitarbeiter aus dem Finanzbereich an dessen Tür. Sehr jung, sehr selbstbewusst, mit sehr kurzem Haar im eng anliegenden nadelgestreiften Hosenanzug, der Ansatz wohlgeformter Brüste im großzügig geschnittenen Dekolleté des Jacketts deutlich sichtbar . Sie beanspruchte mit knappen aber durchaus energischen Worten ab sofort alle Auswertungen der Holsteinschen Datenverarbeitungen, sie wäre der nunmehr den Prozess der Fördermittelvergabe controllende Supervisor. Sie hätte aber prinzipiell erst einmal nichts dagegen, dass er, Holstein, bis auf weiteres, bis zum Zeitpunkt der vollen Arbeitsfähigkeit der neuen EDV-Anlage konkret, das diesbezüglich vom ihm selbst erdachte und gebastelte, sie sagte auch wörtlich „gebastelte“, Programm auch höchstselbst noch mit Primärdaten aus dem Fördergeschehen beschickte, dafür hätte sie momentan sowieso keine Zeit. Und außerdem, so wie sie es nach kurzem Blick auf den Bildschirm einschätze, sei sein Progrämmchen, wenn man es denn überhaupt als ein solches bezeichnen könne, ohnehin nicht auf dem letzten Stand: WINDOWS wäre jetzt angesagt, EXCEL und ACCESS. Die Auswerteliste möge er ihr also immer gleich zu Beginn des neuen Monats vorlegen. Ach ja, noch etwas: Sollte er, Holstein, irgendwelche Sperenzchen machen, würde sie weder scheuen noch zögern, darüber Klage zu führen und zwar gleich ganz oben. Außerdem, sie schnupperte arrogant mit erhobenem Näschen, täte es dringend Not, in seinem Arbeitszimmer wieder einmal kräftig zu lüften. Es müffle nach abgestandenem Tabaksqualm und Altherrensocken. Bis bald also, man sieht sich.. Sprach‘s und verschwand, nicht ohne jedoch noch einen abwertend-geringschätzigen Blick auf Holsteins arg verschlissene Jeans zu werfen. Holstein stand wenige Minuten nach ihrem Erscheinen wieder allein im Raum. Baff. Die am Horizont zwischen den Fetzen dunkler Abendwolken rot hindurch blinzelnde untergehende Sonne warf ihm ihre kaum noch wärmenden Strahlen fast waagerecht in den von total entgleisten Gesichtszügen umrahmten halboffenen Mund. Was, verdammt noch mal, bildete sich diese Rotznase denn eigentlich ein, und was um Himmels Willen ging hier eigentlich vor?

Nachdem er seine erste Fassung einigermaßen wiedergewonnen hatte, stapfte er zwecks Klärung des ungeheuerlichen Vorfalls zu Wunderlichs Büro. Das lag mittlerweile eine Etage höher. Dort, wo sich schon immer, auch zu DDR-Zeiten, die Büros der Bereichs- und Abteilungsleiter befanden, denn der obzwar körperlich sehr behäbige, völlig gegensätzlich dazu jedoch geistig äußerst agile und anpassungsfähige Wunderlich hatte es schon geschafft, seine Füße auf die ersten, aber doch schon bedeutenden Stufen der neuen Karriereleiter zu setzen, war bereits zum stellvertretenden Abteilungsleiter avanciert. Bislang hatte er auch, so es um Holsteins Verbleib im Amte ging, stets schützend die Hand über den gehalten, waren beide doch nahezu die einzigen aus dem alten Personalbestand noch Verbliebenen. Das schaffte Nähe. Holstein nahm gleich drei Stufen auf einmal und hätte oben um ein Haar fast den Abteilungsleiter umgerannt.