Ruppi

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1 Gert Holstein

2 Ruppi

3 Eine ostdeutsche Kriminal-Novelle

7 Vom gleichen Autor als ebook erhältlich:

8 Geschichten aus einem anderen Land

9 Aufschwung Ost – die neue Arbeitswelt

10 

1 Teil I

Der Einfachheit halber werde ich ihn Ruppi nennen. Eigentlich heißt er Ruprecht und das mit Nachnamen. Seine Vornamen kennt er wahrscheinlich selbst nicht mehr, denn seit er denken kann, sprechen ihn alle nur mit Ruppi an, seine Frau darin eingeschlossen. Letztere jedoch mit einer Ausnahme: Wenn sie danach erschöpft und zufrieden beieinander liegen, nennt sie ihn bei seinem Vornamen: „Ach, Hans-Jürgen!“ und kuschelte sich noch ein Stückchen enger an ihn.

Lehrer und Vorgesetzte in der Armee freilich bevorzugten andere, den Umständen eher gemäße Anreden. Jedoch liegen diese Lebensabschnitte weit im Dunstkreis der Erinnerungen schon eine Ewigkeit zurück, weswegen ich mich mit ihnen auch nicht weiter aufhalten will. Anzumerken sei nur, dass Ruppi nach dem Abitur in Ermangelung anderer Berufsvorstellungen sich für drei Jahre zu den Fallschirmjägern meldete. Zwar hatte er auch einen richtigen Beruf erlernt, war fast gleichzeitig mit der Hochschulreife zum Facharbeiter für Automatenherstellung avanciert. Allerdings konnte er sich um nichts in der Welt vorstellen, in dieser Mühle der Eintönigkeit bis zum Lebensende sein berufliches Dasein zu fristen. Das Problem dabei: es fehlte ihm an überzeugenden Alternativen. Deshalb erst einmal Fallschirmjäger, nach drei Jahren wird man weiter sehen. Aus drei Jahren wurden sechs, aus sechs zehn. Immer wieder verlängert wegen fehlender Alternativen bis er endlich genug hatte vom Militär. Es folgte ein Hochschulstudium der Wirtschaftswissenschaft, abgekürzt „WiWi“. Ein Wissenschaftszweig, welcher an der eigentlich technisch orientierten Universität von den angehenden Technikern und Mathematikern abfällig zu „HiWi - Hilfswissenschaft“ degradiert wurde. Bei Lichte besehen hatten die nicht einmal unrecht, Ruppi war sich seines Dünnbrett-Studiums sehr wohl bewusst. Nur waren die Bedingungen, mit Hilfe von WiWi-HiWi schneller auf dem Einkommensweg voranzukommen, für ihn weitaus günstiger als in einer der technischen Disziplinen. Da hätte er in irgendeinem Betrieb erst einmal wieder ganz von vorn anfangen müssen. Mit erheblichen finanziellen Konsequenzen. Negativen versteht sich.

Ruppis Erwägungen sollten sich auszahlen. Schon sein erstes Arbeitsfeld nach Studienabschluss wurde mit weit über eintausend Mark vergütet, seine Ex-Kommilitonen stiegen mit allerhöchstens 700 ein. Die zehnjährige Armeedienstzeit zahlte sich auch aus, mit einem Problem allerdings: man setzte Erwartungen in ihn. Erwartungen, die in Führungspositionen mündeten. Erwartungen, die Ruppi nicht erwidern konnte, nicht erwidern wollte, und folgerichtig nicht erwiderte. Sehr zum Verdruss seiner Gemahlin freilich, denn die vierköpfigen Familie wollte nach deren Vorstellungen standesgemäß ernährt, eingekleidet und auch sonst rundum versorgt werden. Ruppis individuelle Befindlichkeiten waren da fehl am Platz.

Aber er setzte sich durch, gegen den strammen Druck derer, die ihn ihren Maßstäben gemäß in gegebene Hierarchieebenen einschichten wollten, gegen den sanften Druck seiner Gemahlin, die höhere Einkommensvorstellung mit sich trug. Auch wenn es Blessuren kostete, ziemlich deftige sogar. Am Ende landete er in einer ihn durchaus befriedigenden beruflichen Nische. Er landete im Reich der sich auch im Ländchen trotz aller Hindernisse wirtschaftlicher und mentaler Natur immer mehr breit machenden Computertechnik. Unter den Blinden seiner Erwerbseinrichtung avancierte er zum einäugigen König. Irgendwann heftete man ihm dafür sogar noch einen staatlichen Orden an die Brust, aber da war es bis zur Wende nicht mehr weit. Orden und Urkunden gab es zuhauf, gleichwenn es mit der allgemeinen Bedarfsdeckung nicht unbedingt zum Besten stand. Ruppi hätte es lieber gesehen, sie hätten Wege gefunden, all das Ordensblech in kapazitätsträchtige Speicher für Computer zu verwandeln.

Die Wende selbst verwandelte stattdessen seine bisherige Einkommensquelle zuerst in ein Toll- und kurz darauf in Totenhaus. Um die eintausend Beschäftigte verschwanden schon einmal samt und sonders in der sogenannten Warteschleife, aus der sie trotz allem mit viel Geduld ertragenen Wartens nicht mehr auf ihren alten Arbeitsplatz zurückkehrten, auch nicht auf einen der gewendeten. Denn so viele Leute wie bislang benötigte man in der neuen Behörde nun doch nicht mehr. Ruppi überstand zwei Jahre der Siebungen und Umstrukturierungen und flog dann dennoch raus. EDV-Arbeit wurde im endlich wieder geeinten Land von Spezialisten außerhalb der Behörden erledigt. Ob diese wirklich effizienter waren, konnte Ruppi nicht ermitteln, denn der Zugang zu seinem einstigen Arbeitsplatz blieb ihm fortan verwehrt. Es kümmerte ihn auch nicht im Geringsten, denn er hatte plötzlich ganz andere Aufgaben zu meistern: Es galt, schleunigst wieder Anschluss an einen regulären Arbeitsplatz, welcher in etwa seiner Qualifikation und seinen fachlichen Befähigungen entsprach, zu finden. Das freilich stellte sich als komplizierter heraus als gedacht. Bewerbung folgte auf Bewerbung, die Rückantworten blieben aus. Verordnete Vorsprachen beim Arbeitsamt erbrachten außer eindringlichster Belehrungen, sich nur immer mit Elan um Arbeit zu bemühen, nichts. Arbeitsplätze vermochte das Amt offensichtlich auch nicht zu backen. Es schien lediglich das Elend zu verwalten, das aber mit aller Hingabe und allem Nachdruck. Hinreichend in Wochenendschulungen auf die neue Kundschaft vorbereitet, konnte es durchaus geschehen, dass eine ehemalige Fleischverkäuferin und nunmehrige Fallbetreuerin den ehemaligen Hauptabteilungsleiter eines auch international agierenden Maschinenbaubetriebes und nunmehrigen Arbeitslosen darüber aufklärte, wie er sich zu einem Vorstellungsgespräch zu kleiden und benehmen hätte. Auch an Drohungen, zuweilen versteckt, zuweilen offen, mangelte es nicht. Ein Wort schwebte gleich einem Damoklesschwert über allen, welche nachwendig notgedrungen das Amt aufsuchen mussten: Leistungskürzung!

Ruppi hatte mittlerweile die Mitte der Vierzig überschritten, bewegte sich zügigen Schrittes auf die Fünfzig zu, und hatte ein Berufsprofil, mit dem man im Beitrittsgebiet die Wiesen pflastern konnte. Ökonom mit ostalgisch angestaubten Computer-Kenntnissen, wer braucht denn so was! Es nutzte auch nichts, dass er sich über ein Jahr akademisch fortbilden ließ. Jedenfalls nicht ihm. Der Inhaber des privaten Fortbildungsinstitutes, bei welchem Ruppi sein einstiges Studium, radikal verkürzt um den Themenkreis „Marxismus-Leninismus“, dafür erweitert um die Themenkreise „Bewerbertraining“, „Rollen- und Funktionsspiele“ und andere wesentliche Erfordernisse der neuen Arbeitswelten im Schnelldurchlauf meisterte, baute noch während Ruppis Verweilzeit im Fortbildungsinstitut nicht nur für sich sondern auch gleich für seinen gerade flügge gewordenen Nachwuchs wunderschöne Häuschen in einer der im Beitrittsgebiet wie die Pilze aus dem Boden schießenden Wohnsiedlungen. Da staunte Ruppi nicht schlecht!

Die Lehrgangs-Urkunde, von welcher sich Ruppi in erheblichem Maße versprach, sie würde ihn wieder hineintragen in die Arbeitswelt, erfüllte die in sie gesetzten Erwartungen bedauerlicherweise nicht. Ruppi vertrat sich vorerst wieder die Beine auf dem Arbeitsamt. Dort ging es noch genauso chaotisch zu wie in den Tagen vor seiner Fortbildung. Dies sowohl, was die Menschenmenge auf den Fluren als auch das Unvermögen der dort beschäftigten Mitarbeiter anbelangte, was Ruppi veranlasste, sein Heil in der Selbstständigkeit zu versuchen. Der Versuch schlug fehl, nach einem knappen Jahr tummelte er sich erneut auf dem Amt. Irgendwann folgte eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, irgendwann auch eine halbjährige Kurzbeschäftigung. Da war Ruppi mittlerweile fünfzig und weit und breit kein berufliches Land in Sicht. Er versuchte es mit Finanzdienstleistungen und Versicherungen. Am Ende deckten sich Einnahmen und Ausgaben, die investierte Arbeitszeit nicht angerechnet. Er bewarb sich in einer Anwandlung von Größenwahn als Arbeiter auf einer norwegischen Erdölplattform in der Nordsee und ging dort mit seinem Schreiben im Wust der Schreiben unter, welche von seinen ähnlich betroffenen Landsleuten bei den norwegischen Ölfirmen zuerst auf dem Tisch und dann im Papierkorb landeten. Ungeöffnet in aller Regel. Seine letzte Hoffnung lag in einer Stellenausschreibung, die blonde deutsche Männer zwischen vierzig und fünfzig Jahren für Filmaufnahmen in Afrika suchte. Zwei Jahre zu monatlich sechs Riesen, beachtlich. Zwar hatte er die obere Altersgrenze schon um ein paar Monate überschritten, auch wich das einstige Dunkelblond seines sich lichtenden Haarschopfes seit Jahren schon einem mehrheitlichem Grau, doch möglicherweise ließen das die Filmfritzen durchgehen. Die Filmfritzen ließen offenbar nicht nur sein Alter und die massiv-grauen Strähnen durchgehen sondern gleich Ruppis ganze Bewerbung, jedenfalls hörte er kein Sterbenswörtchen von ihnen. Seine Möglichkeiten waren augenscheinlich ausgeschöpft. Aus im Wortsinn. Wie nun weiter? Wohin nun weiter? In den Westen? Süden? Norden? Zum Mond? Wohl eher weiter zum Arbeitsamt. Scheiße!

Das Stellenangebot, weiß auf schwarz und in Spiegelschrift gedruckt in der Tageszeitung, veranlasste ihn, es noch einmal in Sachen Jobsuche zu versuchen. Ein wirkliches allerletztes Mal, denn er hatte inzwischen den Kanal voll. Und zwar gestrichen. Und es war ihm auch mittlerweile völlig egal, dass andere seiner beruflichen Erfolglosigkeit wegen schon über ihn tuschelten und seine im Job auch pekuniär mit zügigen Schritten vorwärts schreitende Frau ihn deutlich zunehmend mit missbilligenden Blicken maß. Fünf Jahre im Strudel der Arbeitslosigkeit, unterbrochen nur von nicht wirklich hilfreichen Beschäftigungsmaßnahmen. Weit über hundert nahezu ohne jegliche Reaktion abgesandte Bewerbungsschreiben, ein eigentlich ihm nicht weiter helfender Fortbildungslehrgang, unsinnig-belehrende und widerlich-kontrollierende Behandlungen auf dem Arbeitsamt, dumm-dreiste Reden von Bekannten und Verwandten, kaum zu glaubende abstruse Vorstellungsgespräche und Einstellungstest in noch abstruseren Firmen.. Nein, Ruppi wollte das alles nicht mehr. Sollen sie ihn doch mal! Alle! Und zwar ab jetzt! Schluss! Aus! Finito!

 

Ruppi sparte sich diesmal die Briefmarke, radelte zur Firma, deren Anschrift die Stellenanzeige hergab, und steckte den Bewerbungsumschlag in den Briefkasten. Der quoll schon fast über, Ruppi musste sich gewaltsam Platz für das eigene Schreiben verschaffen. Mit diesem Akt hatte er zumindest sein Gewissen beruhigt, es war etwas getan worden. Positiv denken! Der Wassereimer ist immer schon halb und niemals gerade erst halb voll! Nur durch emsiges Treten entrann der Frosch dem Milchbottich! Nur wer aufgibt, hat bereits verloren!

Mit diesen und ähnlichen Sprüchen konnte er den Frieden am heimischen Herd für diesen Abend retten.

Die Überraschung war perfekt und traf ihn, als er sich schon, vorerst noch mental, jedoch ohne Wissen und Zustimmung seiner Frau auf ein Leben in der sozialen Hängematte eingerichtet hatte. Einladung zum Vorstellungsgespräch.

Doch alle eben sanft aufkeimenden Hoffnungen zerbarsten abrupt, als Ruppi vorbei am Briefkasten, in welchen er vor ein paar Tagen seinen Umschlag gestopft hatte, die Firma betrat. Der Treppenaufgang zum Büro des Geschäftsführers war proppenvoll vor Menschen, mindestens dreißig vorgeladene Bewerber für die eine Stelle. Darunter kein einziger Mann, sieht man von Ruppi ab. Die ersten waren bereits zu neun Uhr bestellt, Ruppi zu elf Uhr. Im Moment seines Erscheinens wurde gerade die Erste der Geladenen ins Büro gerufen. Eine sehr lange Nacht im Hotel zu Hannover verbunden mit unendlichen Staus auf den Aufschwung-Ost-Autobahnen hatte das geplante Eintreffen des Geschäftsführers um etliche Stunden verzögert. Ruppi schätzte, er würde vor dreizehn Uhr nicht gerufen werden, machte auf den Hacken kehrt und aß zuhause Mittag. Als er wieder zurückkehrte, hatte sich am Erscheinungsbild im Treppenaufgang nicht viel geändert, jedenfalls nicht hinsichtlich der Menge der dort ausharrenden Frauen. Männer konnte Ruppi noch immer nicht ausmachen. Das kam ihm komisch vor.

Als er nach entsprechender Wartezeit endlich an der Reihe war, offenbarte sich ihm im Büroraum ein denkwürdiger Anblick: Der hierin eigentlich tätige Niederlassungsleiter saß andächtig wie zur Preisverleihung und gehüllt in feinstem Zwirn an der Stirnseite seines Beratungstisches, der Geschäftsführer aus Hannover in Anglerweste und kariertem Hemd an dessen Seite. Der Tisch war mit allen möglichen Viktualien belegt und bekrümelt, denn der Geschäftsführer hatte sich von der Sekretärin aus dem in der Nähe aufgestellten Imbisswagen einen Döner to go besorgen lassen, welchen er gerade im Begriff war, zu verspeisen. Die Vorstellungsgespräche arbeitete er dazu parallel ab. Time is money!

„Also, Herr Ruprecht, die Sache ist die: die ausgeschriebene Stelle des Controllers ist eigentlich schon besetzt. Und eigentlich auch ohne diesen ganzen Auftrieb hier. Der Mann, den ich nehme, hat die Kenntnisse, die ich brauche. Ende der Durchsage.“

Mist! Alles umsonst. Bewerbungsschreiben, Warterei und in den guten Anzug gezwängt. War ja vorauszusehen, wie immer. Und welcher Mann denn eigentlich, da standen doch nur Frauen im Treppenflur?

„Was ich noch brauche, ist jemand der sich mit EDV auskennt. Wie sieht’s denn da aus, Ruprecht?“

Bingo! Hier konnte Ruppi punkten: jahrzehntelange Erfahrung, Datenbanken, Tabellenkalkulation, Textverarbeitung, alles kein Thema für ihn!

„Fremdsprachen?“

Schulrussisch, Umgangsenglisch.

„Russisch können Sie vergessen, soweit sind wir noch nicht. Englisch ist ok, wird aber eigentlich auch nicht gebraucht. Wir gehen nach Osten, aber noch nicht zu weit. Wie sieht’s denn aus mit Tschechisch. Oder Polnisch?“

Nee, keine Ahnung. Bloß ein paar Brocken aus sozialistischen Bruderzeiten.

„Na ja, ist ja auch Wurscht. Ruprecht, wir seh’n mal, was wir machen können. Sie erhalten Bescheid. Und schicken Sie die nächste Tussi rein. Man sieht sich.“

Zwei Monate später saß Ruppi zu Weihnachtsfeier der Firma mit am Tisch. Der Hannoveraner, diesmal gleichermaßen im feinen Zwirn, begrüßte ihn mit „willkommen an Bord“. Seit Ruppis Entlassung aus der Behörde waren fünf Jahre vergangen, er befand sich am Beginn seines sechsten Lebensjahrzehnts.

Der ihm zur Weihnachtsfeier gegenüber saß, war besagter „Mann mit den gebrauchten Kenntnissen“, der per Stellenanzeige gesuchte Controller. Ruppi fand vorerst nur schwer Zugang zu ihm, war er doch im Bewerbungsverfahren ein Konkurrent, der sich darin auch noch überlegen war zeigte. Das war Ruppi unangenehm. Zudem war der Mann mit den gesuchten Fähigkeiten, ein ehemaliger Hauptbuchhalter eines längst in den Unwägbarkeiten der Treuhandanstalt versunkenen DDR-Textilkombinates übrigens, ein gebürtiger Erzgebirgler, welcher sich nicht einmal in der neuen Arbeitswelt die Mühe machte, seine derbe heimatliche Mundart zu verbergen. Erst allmählich, durch Umstände, auf die wir noch zu sprechen kommen werden und dienstlich bedingte Obliegenheiten, rückten sie im gegenseitigen Einvernehmen einander ziemlich näher.

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