SIN SOMBRA - Hölle ohne Schatten

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SIN SOMBRA - Hölle ohne Schatten
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Joachim Gerlach

SIN SOMBRA

HÖLLE OHNE SCHATTEN

Zwischen Verdammnis und Aufstieg – die abenteuerliche Geschichte einer Lichtgestalt

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto © Tino Hemmann

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Für alle, die sich dem Besonderen in der Welt zu öffnen wissen!

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Sin Sombra

Ich heiße Gabriel. Wer mir diesen Namen gab, tat dies nicht ohne Grund.

Einen anderen Namen habe ich nie getragen. Meine Person umrankte von Kind an der Schatten der Unbestimmbarkeit. Ohne jemand Besonderes sein zu wollen, fühlte ich schon früh, dass ich mich von den anderen, die zu meiner Welt gehörten, unterschied. Ich war mir meiner Besonderheit nicht genau bewusst. Aber auch wenn ich um sie gewusst hätte, würde ich zu gern nur gewöhnlich gelebt haben. Doch ich konnte nicht für mich leben, wie überhaupt niemand für sich leben kann. Wir rühmen uns, frei zu sein in unseren Entscheidungen, doch in Wahrheit machen wir uns abhängig von dem, was alle tun. Noch nicht einmal in Gedanken sind wir frei. Das Diktat der Masse bestimmt jeden einzelnen von uns. Und wer andere nicht spiegelt, wird zum Außenseiter und oft genug erwarten ihn Häme, grausame Verfolgung und Unfreiheit.

Genau dies ist mein Schicksal gewesen und wäre es auch geblieben, wäre meine Besonderheit nicht so von Licht durchflutet gewesen, dass sie mir und den Menschen in der großen uns umgebenden Dunkelheit einen Weg hatte weisen können.

*

Es war ein sehr heißer Sommer gewesen. Ein sehr heißer Sommer in jener längst vergangenen Zeit. Das einstmals große Spanien hatte das Mittelalter, das auch dort ungeachtet allen Lichtes so dunkle, so erbarmungslose und nur selten aufgehellte, überwunden. Sein Volk aber war unter der Herrschaft Karl III. trotz der besser gewordenen wirtschaftlichen Bedingungen von den aufgeklärten Zeiten weit entfernt und fristete ein Schattendasein.

»Was ihm fehlte, habe ich ihm gegeben. Das Volk mag still sein. Es soll sich an meiner leuchtenden Herrschaft erfreuen.«

Ein ungewöhnlicher Sommer, dem aber eine noch viel ungewöhnlichere Zeit folgen sollte.

Und wenn von dieser Zeit bald schon nicht mehr erzählt wurde und in der Geschichte kein Widerhall zu finden ist, so liegt es darin begründet, dass es der alten Kirche mit ihrer umspannenden Macht und der abstrusen Fähigkeit, Wahrheiten, höchst unangenehme Wahrheiten, rasch in Vergessenheit geraten zu lassen, in der Folge exzellent gelungen war, dieses Kapitel aus dem Gedächtnis der Menschen zu bringen.

»Wer glaubt zu wissen, neigt zu gottloser Überheblichkeit. Wer aber um seinen Glauben weiß, über den, liebe Brüder, erhebt sich Gott und nimmt ihn in seine ewigliche Obhut!«

Und dennoch ist die Saat dieser so besonderen Zeit prächtig aufgegangen und hat sie die Welt im Zusammenleben der Menschen wesenstief verändert.

Die Luft flirrte. Erbarmungslos die Hitze. Die wenigen Menschen, die in Andalusien in der Provinz Cadiz, der südlichsten Provinz des Festlandes, lebten und sich von jeher mühsam von der rückständigen Landwirtschaft, die nur den kärgsten Lebensunterhalt abwarf, oder dem Fischfang ernährten, hatten jeden Schatten, diesen so ruhigen und doch flüchtigen, nicht zu fassenden Begleiter alles Existierenden, noch öfter aufgesucht als sonst, sie hatten ihn geliebt wie nie zuvor.

»Hat es je solch einen Sommer gegeben, Luis?«

»Die Hitze ist so sengend wie die Glut der Hölle.«

»Will der Herr sie uns auf Erden schon spüren lassen?«

»Dann schenkte er uns keinen Schatten, Margarita!«

Stille Dankbarkeit, wenn sie sich zur erzwungenen Unterbrechung der harten Arbeit oder nach ihrer Verrichtung im Schutze einer Hauswand oder unter der Krone eines vom Klima gedrückt dastehenden Baumes dieser Kostbarkeit der Lichtlosigkeit hingeben konnten.

Der Regen, er war ein Segen der Natur, aber der Schatten, la sombra, stand ihm nicht um vieles nach.

Und wenn die Wolken ausblieben wie in jenem Jahr, wussten die Menschen um den großen Wert von beidem.

So vieles, oft unbeachtet, in dieser Welt, in welchem sich wahrer Reichtum auszudrücken vermag.

Dann nach Monaten erbarmungsloser Hitze war der Herbst gekommen und legte seine langen Schatten auf die verdorrte Landschaft. Regen war noch immer nicht abzusehen.

Die Menschen, die sich seit jeher darauf verstanden, die Natur mit ihren Launigkeiten zu ertragen und ihr das für ein Dasein Unerlässliche dennoch abzugewinnen, schauten zum Himmel und warteten mit der ihnen angeborenen Geduld.

Erst im milden Dezember zogen von Westen her endlich die ersten Wolken auf und brachten den ersehnten Regen.

»He, betet zum Herrn für dieses Wunder.«

»Hola’! Betet schnell und lasst die Arbeit ruhen. Das müssen wir feiern.«

Wie die Kinder tollten die Menschen in dem prasselnden Regen herum.

Die Wasser hörten nicht mehr auf zu fließen, endlos offen standen die Schleusen des Himmels. Rinnsale, Bäche, Ströme, die er entstehen ließ.

Dann von einer auf die andere Stunde an einem bestimmten Tage hörte es auf zu regnen; wie als folgte die Natur einer geheimen Weisung.

Die Wolken zogen über den weiten Horizont dahin und alle Wasser flossen ab.

Die Sonne, die hohe Spenderin und unerreichbare Feindin in einem, übernahm wieder die Regentschaft, tauchte, auch wenn sie die ihr untergebene Landschaft an diesem Tage nicht mehr erbarmungslos zu bedrängen vermochte, diese wieder in Licht und Schatten.

In der Nacht leuchteten die Sternenkette der Andromeda, Cassiopeia und die Sterne des Pegasus durch die klare Luft mit ungewohnter Helligkeit.

Als die Mondschatten sich auflösten und das frühe Sonnenlicht wie an Millionen Tagen zuvor die Welt ihrer in der Nacht geborenen Rätselhaftigkeit beraubte, war es noch kühl.

In einem nah an der Costa der la Luz, der Küste des Lichts, gelegenen Dorf, einem kleinen Flecken abseits großer Handelspunkte, der gerade mal wenigen hundert Seelen Heimat gewährte, war das Leben noch nicht weiter erwacht, als dass seine Fischer bereits hinaus auf das ruhige Meer gefahren waren.

Und doch richteten sich schon Schritte auf ein schäbig kleines Haus, das windschief auf einer kleinen Anhöhe zum Wasser hin stand.

Es waren bedachte Schritte, von einer großen Zielstrebigkeit geleitet, während die Augen der ankommenden Person auf einen weißen Punkt weit draußen auf dem Meer geheftet waren.

Eine Unternehmung einer neuen, nie da gewesenen Rätselhaftigkeit, die nicht durch den leisesten unschuldigen Schrei durchkreuzt wurde.

*

Angespannt ließ Pablo, der Fischer, die knorrige Eichentür zur Küche des Herrenhauses ins Schloss fallen.

Soeben hatte er in Erfüllung seiner täglichen Pflicht das Beste seines Fanges abgeliefert. Auf dem Anwesen seines Herrn, das im Ort nur »El fortín«, die Festung, genannt wurde, fühlte er sich immer unwohl.

Der Sohn des alten Marqués, Sion de Albanez, war früh schon auf gewesen.

Zufällig zwar, aber mit scharfen Augen hatte er Pablos Beklemmung, die sich in seinem Gesicht und in seinem Gang ausdrückte, bei seiner Ankunft vom Fenster des Schlafgemachs aus bemerkt.

Nachdenklichkeit, die sich einstellte, die sich nicht verflüchtigen wollte, der keine Beiläufigkeit innewohnte.

Ein Schatten fiel neuerlich in seine Seele. Warum konnte es nicht endlich vorbei sein?

Hätte ich etwas sagen müssen?

Pablo war in Gedanken vertieft, sah mit seinem auf den Boden gerichteten Blick noch nicht einmal, wie die junge Maria, die in der Küche des Herrenhauses beschäftigt war, ihm mit einem Korb voll Obst entgegenkam und wäre grußlos an ihr vorbeigelaufen, hätte sie ihm nicht doch noch ein zögerliches »Buenos dias« zugeworfen.

Auch Maria hatte Pablos Anspannung bemerkt, doch ihre natürliche unbefangene Art ließ sie nicht schweigend an dem alten Fischer vorbeigehen. Pablo erwiderte den Gruß mit entschuldigendem Blick, der sich gehoben hatte.

Einen Augenblick lang schien er nach weiteren Worten zu suchen. Dann lief er mit einem hörbaren Seufzer weiter.

*

»Pablo, ich mache mir Gedanken um dich! – Warum bist du heute Morgen nicht auf dem Markt erschienen?«

Pablo schaute seinem alten Freund Luis in die Augen, unsicher, was er ihm entgegnen sollte. Eine Unsicherheit, die es so noch nicht zwischen ihnen gegeben hatte.

Sekunden wie Ewigkeiten. Die Sonne schien noch heißer geworden zu sein.

Mit einem kurzen Wegdrehen seines Kopfes bedeutete er ihm, ihm ins Haus zu folgen.

 

»Ist etwas mit Margarita?«

Margarita, die gebrochen schweigsame Frau Pablos, die sich den Leuten des Dorfes seit langem kaum mehr zeigte.

Pablo blieb die Antwort schuldig und ging, gefolgt von Luis, gerade da er sein Weib ausgemacht hatte, mit langsamen Schritten auf Margarita zu, die still und mit gesenktem Kopf in der dunkelsten Ecke des kargen Wohn- und Küchenraumes verharrte und noch nicht einmal aufschaute, als die beiden Männer in das Haus eintraten.

»Was um Himmels Willen ist mit euch?«, fragte Luis mit einer Ungeduld, die seinem Alter nicht entsprechen wollte, und einer Unsicherheit, als wäre er jener schrecklichen Wahrheit ansichtig geworden, dass das Tor zur Hölle sich einen Spaltbreit geöffnet hätte.

»Ich verstehe nicht!«

»Wir auch nicht, Luis«, antwortete Pablo.

Wieder trat langes Schweigen in den Raum ein.

»Woher habt ihr …?«

Pablo hätte Dutzende von Erklärungen liefern können, selbst harmlose. Allein die ihm anzumerkende Beklemmung sagte Luis, dass hier etwas Unerhörtes geschehen war. Das ganze Haus schien von einer dunklen Macht gepackt zu sein. Und die mit diesem Empfinden in ihm aufsteigende Spannung ließ nur knappe Äußerungen über seine Lippen kommen.

Alle drei schauten sie auf das in einem kleinen Bastkorb liegende Kind, das im Widerspruch zu der bedrohlichen Atmosphäre, die sie empfanden, ruhig da lag und mit weit geöffneten Augen ihre Blicke erwiderte.

Luis suchte nach einer Erklärung, aber die Stille war ihm gespenstisch und heilig fast zugleich, so dass er sie nicht unterbrechen konnte und wollte. Und er verstand auch ohne Worte, dass sein Freund keine Antwort dafür hatte, wie dieses Kind, das seit seinem Auffinden noch keinen Laut von sich gegeben hatte, zu ihnen gelangt war.

»Er ist für Frederico gekommen!«, äußerte Margarita plötzlich in die Stille hinein.

Madre de Dios! Pablo schreckte zusammen. Auch Luis fühlte seinen Puls noch weiter steigen.

Frederico – dieser Namen war schon lange nicht mehr in diesem Haus gefallen.

Tiefer Schmerz, der auf immer mit ihm verbunden war und in jeder der verletzten Seelen weiter schwärte. Hoffnung auf die Unsterblichkeit, die mit der Geburt eines jeden Kindes in die Innerlichkeit seiner Eltern einzog und hier so jäh ausgelöscht worden war.

*

Zweiundzwanzig grausam lange Jahre lag dieser Tag nun zurück, an dem nicht nur Fredericos noch junges Leben beendet war, sondern auch das in wenige Träume eingebettete Dasein von Pablo und Margarita.

Keinen unbeschwerten Tag hatten sie seitdem mehr gehabt. Verbitterung war ihr Los gewesen. Der Tod von Frederico hatte sich auf alle, die ihm nahe gestanden hatten, wie ein mächtiger Schatten gelegt, der nicht aufzulösen war.

Pablo belastete das Unglück in besonderer, seine Seele vernichten wollender Weise, da er nicht verhindert hatte, dass Frederico mit ihrem Boot, dieser Winzigkeit im Kampf gegen die grenzenlosen Naturgewalten, hinaus auf das Meer gefahren war.

»Ich werde auch rechtzeitig vor dem Sturm zurück sein.«

Pablo hatte daran geglaubt, nachdem seine väterliche Autorität nicht unangetastet geblieben war, dass Frederico die Tücken der Natur gut einzuschätzen wusste, dass er zu bedenken in der Lage war, wie schnell das Wetter umschlagen konnte, wie schwer es war und wie lange es dauerte, bei aufkommendem Sturm zurück an die sichere Küste zu gelangen.

Er hatte ihn schon oft genug bei ungünstigem Wetter aufs Meer mitgenommen, denn ihre Armut erlaubte es nicht, groß Rücksicht auf die Widrigkeiten durch Kälte und Nässe und von Wind und Wellen zu nehmen.

Mit den Jahren war Frederico dann auch mit gewachsener Erfahrung und Kraft öfter allein hinaus gefahren, während Pablo mit anderen Arbeiten, dem Flicken alter Netze oder dem Verkauf des vortägigen Fanges etwa, beschäftigt gewesen war.

Vor jenem verhängnisvollen Tag vor 22 Jahren war Pablo neben vielen anderen, als hätten sie sich nicht mit ihren eigenen Misslichkeiten genug an Sorge gehabt, nach einem heftigen Unwetter, das auch den Besitz seines Herren, die Wohnhäuser, Stallungen und Zaunanlagen, heimgesucht hatte, auf Weisung des alten Marqués zu frondienstlichen Arbeiten verpflichtet worden.

Weitere Stürme hatten sich abgezeichnet. Der letzte Rest der Ernte war auch noch zu retten. Die Fischer und Bauern, verärgert zwar über die anbefohlene Arbeit, machten ihrem Ärger kaum Luft, ganz wie es ihrem kargen Wesen entsprach, und drückten ihn nur still mit ihren Blicken aus.

»Soll das schlechte Wetter doch erst einmal abgezogen sein!«

Das war der einzige Widerspruch, der kaum hörbar sich auf den Lippen eines Einzelnen formte.

Der junge Sion de Albanez, für seine Hartherzigkeit bekannt, war dem aus dieser Äußerung herauszulesenden Wunsch barsch und mit kaltem Blick entgegengetreten.

»Morgen vor Tagesanbruch seid ihr zur Stelle! Basta!«

Unerbittliche Befehlsgewalt, seit jeher praktizierte und nie überdachte oder in Frage gestellte, ließ jede Diskussion im Keim ersticken.

»Trete den Leuten mit Härte gegenüber und sie werden es dir angesichts der sicheren Führung, die sich in ihr spiegelt, danken!«

Dieser mitleidlose Satz seines Vaters hatte sich im Herzen von Sion de Albanez zu seiner eigenen festen Überzeugung eingebrannt.

Die Männer standen durchnässt in dem scharfen Wind und warteten ab.

Pablo hatte gezögert, doch nachdem ein anderer den gleichen Wunsch kundgetan hatte, sagte er: »Ja, kann auch mein Sohn die Arbeit verrichten. Nur ich bin in der Lage, bei diesem Wetter allein hinaus aufs Meer zu fahren und den Fang, den ich und die meinen zum Leben brauchen, nach Hause zu bringen!«

Die Antwort von Sion de Albanez war kühl und menschenverachtend gewesen.

»Nichts da! Es werden Männer gebraucht und keine Knaben!«

Sein harter Ton und seine versteinerte Miene hatten für augenblickliche Ruhe gesorgt.

Wo aber die Männer wirklich gebraucht wurden, war auf dem Meer, auf den Gischt schäumenden Fluten, die sich durch den Levante, den tückischen, gerade in den Sommermonaten gefahrvoll anschwellenden Ostwind, türmten und der Küste mit wütender Macht entgegenbrandeten. Niemand aber hatte es gewagt, Sion de Albanez entgegen zu treten oder zu versuchen, sich beim alten Marqués Gehör zu verschaffen.

Erst in der Sicherheit seiner armseligen Behausung hatte Pablo seinem Verdruss freien Lauf gelassen.

»Unsere Herren mögen hart sein«, hatte Margarita knapp entgegnet, »doch Gott will, dass wir uns fügen!«

»Will er auch, dass wir wieder keinen Peso in der Tasche haben?«

Pablo fühlte tiefen Groll in seiner Brust sitzen.

Gott, ja, er zeigte sich ihm und den anderen einfachen Seelen an jedem Tag, den sie zu leben und zu überleben in der Lage waren, aber er blieb ihnen auch so fern, dass er seit Menschengedenken ihre Misere nicht zu bessern half und sie darben ließ.

»Lass mich allein hinausfahren!«, hatte Frederico dann zur Verblüffung von Pablo geäußert.

Diesem Satz hatte keine Ernsthaftigkeit innewohnen können.

»Schlag dir das aus dem Kopf!«

Pablo war zum Fenster gegangen und hatte durch die kleine Öffnung auf das aufgewühlte Meer geblickt.

»Ich werde auch rechtzeitig vor dem Sturm zurück sein.«

Da war er ausgesprochen, dieser eine, dieser letzte Satz, den Pablo von seinem Sohn zu hören bekommen hatte. Dieser so viel Selbstsicherheit ausdrückende Satz, die von den haushohen Wellen so erbarmungslos zerschmettert worden war. Dieser Satz, der sich tief in seinem Gedächtnis eingegraben hatte.

Ein Blick des Vaters, der deutliche Missbilligung ausgedrückt hatte, war die einzige Antwort gewesen.

Und doch hatte Pablo, seiner Befürchtung zum Trotz, irgendwo auch den Glauben an Fredericos Fähigkeiten gehabt.

Diese Zerrissenheit in ihm, die Not vor Augen, hatte Pablo nicht mehr sprechen lassen. Kein einziges Wort hatten Vater und Sohn in der Sache noch miteinander gewechselt. Und allein darum schon hatte Pablo seither keine Ruhe mehr gefunden, sich so viele Male mit Selbstvorwürfen traktiert, auf dass es ihn nahezu auffraß, und war er so oft mit Fredericos Namen auf den Lippen schweißgebadet in der Nacht aus unruhigem Schlaf hochgefahren.

Warum hatte er nicht zu klaren Worten gefunden? Warum hatte er es zugelassen, dass Frederico aus seiner Halbherzigkeit eigenen Mut abgeleitet hatte und vielleicht sogar die Verpflichtung, den Fang alleine einzubringen?

Wohl hatte Pablo auch seine eigene Bewährungsprobe vor Augen gehabt, als er damals, im gleichen Alter wie Frederico, sich alleine in der tosenden See behauptet hatte.

Aber nichts konnte seine Schuld von ihm nehmen. Er war verantwortlich für den Tod des geliebten Sohnes. Tiefe Bitterkeit im Empfinden bei jedem Gedanken an ihn.

Als Pablo am Morgen des unseligen Tages das Haus verlassen hatte, war ihr Boot, das Frederico liebevoll auf den Namen »Santa Maria« getauft hatte, weg gewesen. Er hatte es stumm zur Kenntnis genommen, seinen vom Wetter gegerbten Mantel wegen des heftigen Windes fester um sich gepackt und war ohne zum Meer zu schauen zu den nahen Besitzungen des alten Marqués aufgebrochen.

Über die weiteren Geschehnisse dieses Tages und der nachfolgenden Zeit hatte sich eine kalte Finsternis gelegt, aus der nur bruchstückhaft Bilder einer fieberhaften Suche und eines kieloben treibenden Bootes und das Klagegeschrei der Frauen herausdrangen.

*

»Was wollt ihr tun?«

Es war Luis, von Natur aus redseliger als Pablo, der das Schweigen durchbrach.

Er und der Freund waren wieder vor dem Haus angelangt. Sie saßen auf der alten Eichenbank neben dem Eingang, auf der auch schon Frederico vor langer Zeit gesessen und so oft gespielt hatte und derer sich um diese Zeit der vor der Sonne unaufhörlich flüchtende Schatten noch bemächtigte.

Die beiden fassten sich nicht in den Blick, sonst hätte Luis bemerkt, dass sein alter Freund keinen ratlosen Eindruck machte.

»Wir werden den Jungen behalten!«

So lange wenigstens, bis er gehen musste.

Die Antwort kam bedacht. Dennoch fühlte Luis Zweifel in sich aufsteigen.

»Überlegt es euch gut. Das Ende wartet doch schon mit offenen Armen auf euch.«

Bevor Pablo entgegnete, dachte er an die wenige Worte umfassende Botschaft, die zusammen mit einigen Oliven in einem kleinen Ledersäckchen in dem Bastkorb gelegen hatte.

Mühsam nur und widerwillig hatte er vor vielen Jahren durch den Ehrgeiz seiner jüngsten Schwester Felipa, die in einem nah beheimateten Orden lebte und zum Auskurieren eines hartnäckigen Hustens für längere Zeit in ihr Dorf zurückgekehrt war, die Kunst des Lesens erlernt und sich jeher gefragt, wozu es gut sein mochte. Jetzt endlich wusste er es.

»Es muss einen Sinn haben!«, sagte er dann. »Sonst hätten sie ihn in Cadiz den Nonnen übergeben können.«

Worte, denen keine Erwiderung folgte.

Erst als er sich auf den Heimweg machte, den er viel früher hatte antreten wollen, fragte Luis: »Wird unser Herr von ihm erfahren?«

»Ich weiß nicht. Irgendetwas hindert mich …«

Sich in Schweigen zu hüllen, schien ihm das Richtige zu sein.

*

Die Jahre gingen dahin.

»Er ist ein stiller und sonderbarer Junge, aber Pablo und Margarita haben mit ihm ihren Frieden gefunden. Ich brauche nicht mehr über ihn zu wissen.«

Diesen Satz sprach Luis zu sich selbst.

Das sich vielerorts wegen der rätselhaften Herkunft des Kindes entfachende Gerede des einfachen Volkes und das offene, aber in keine Bestrebungen laufende Interesse der immer präsenten Kirche und der weltlichen Macht, die über die bewährten Kanäle ebenso Kenntnis von dem Jungen erlangten, hatten sich verflüchtigt.

Der Junge war auf den Namen Gabriel getauft worden und entwickelte sich auf den ersten Blick unauffällig, sah man von seinen fast blonden Haaren einmal ab. Etwas Seltsames lag dennoch in jedem Erscheinen von ihm.

Die Menschen hörten auf zu reden, wichen ihm ohne böse Gesinnung aus und vertieften sich in ihre Arbeit. Sie vermieden es, ihn anzuschauen. Als sei es ein Gebot von höherer Macht, den Jungen unangetastet zu lassen und ihn nicht mit ihren Blicken zu belasten.

Gabriel begann seine Außergewöhnlichkeit zu begreifen, ohne eine Erklärung dafür zu haben. Ein sich in der Tiefe nur bewegendes Wissen.

»Warum bin ich nicht so wie sie? Ich fühle, dass ich anders bin.«

 

Wenn die Kinder des Dorfes miteinander spielten oder sich sonst wie begegneten, stand er oftmals abseits da und schaute zu und schwieg. Bisweilen wurde er wegen seiner besonnenen Art dazu bestimmt, die Entscheidung über eine Streitigkeit zu treffen. Und immer wurde sie ohne Murren anerkannt. Wirken auf der Ebene des Unbewussten.

In die Gegebenheiten und das Leben mit Pablo und Margarita, die für ihn eher eine Mischung aus Eltern und Großeltern und nicht nur Eltern waren, hatte er sich gut eingefunden.

Gabriel freute sich, wenn Pablo ihn mit zum Fischfang hinaus aufs Meer nahm. Dass dies nicht bei ungünstigem Wetter geschah, blieb von ihm auf Dauer nicht unbemerkt. Fragen stellte er deshalb keine.

Lieber schaute er sich dann bei Pablos Heimkommen schweigend mit kindlicher Neugier und Forschergeist den Fang an, musterte jeden einzelnen Fisch, jede Makrele und jeden Wolfsbarsch, der mit ausgehauchter Seele in dem Korb am farblosen, Salz zerfressenen Bug des Bootes lag und der Ewigkeit, wie er an der Reglosigkeit der offen stehenden Augen ausmachen konnte, um das entscheidende Stück näher gekommen war.

Doch wurde ihm das Wasser, so ruhig wie er es bei seinen Fahrten auch kennenlernte, nicht so zum Freund wie es dies bei seinen Alterskameraden vermochte. Gabriel blieb stets zurückhaltend. Ihm wohnte eine andere Art inne, als die Welt durch Aktivität zu ergründen.

Er blieb überall der stille Beobachter und sah nachdenklich den Wolken nach, wenn er manchmal die Einsamkeit suchte und Stunde um Stunde am Strand sich aufhielt. Nie kam Böses über seine Lippen noch nistete es sich in seiner Seele ein.

Pablo ließ ihn gewähren. Er ahnte, dass das Schicksal noch Besonderes vorhatte mit ihm.

Deshalb zwang er ihn nicht samt und sonders in die zermürbenden Notwendigkeiten des Alltags, hielt ihn zwar zur Entwicklung seines Wesens, zu seiner Reife, zur Erledigung seiner Pflichten an, obwohl dies eher selten geschah, weil Gabriel für sein Alter bemerkenswert eigenständig und verantwortungsbewusst war, ließ ihm aber auch genügend Freiraum, damit er seine Seele dort zur Vollkommenheit brachte, wo Pablos Vermögen zurückbleiben musste.

Pablo war ein einfacher und ehrsamer Mann, aber unter seiner dicken rissig-braunen Haut wohnte ein wacher Verstand, der ihn mit mehr Fortune zu mehr befähigt hätte als zum Führen eines Lebens als gemeiner Fischer.

Doch das Schicksal hatte es nicht anders für ihn bestimmt. Seine Anspruchslosigkeit, die er mit der Muttermilch aufgesogen hatte, ließ ihn sein Geschick annehmen und nicht sonders unzufrieden werden.

Für Frederico hatte er große Hoffnungen gehabt, die Hoffnung, dass er der Beschwerlichkeit des Lebens an diesem einsamen Ort entfliehen und in das Geschehen der weiten Welt Einzug halten konnte, etwa als in leichte und helle Stoffe gekleideter Kaufmann in Cadiz oder als Kapitän einer jenen unzählig vielen Handelsschiffe, die gen Amerika segelten, dem Glück des Goldes und des Geldes immer auf der Spur.

Früher hatte er manchmal, wenn er auf dem Wasser gewesen war, diesen Schiffen nachgesehen und sich dann in seinen wenigen, immer wiederkehrenden Träumen verloren.

Als Frederico groß wurde, träumte Pablo diese Träume für ihn.

Frederico war ein so ein wunderbarer Junge gewesen, ein Geschenk des Himmels – und Gabriel war es auch.

Ein Geschenk mit einem unerklärbaren innewohnenden Reichtum, den er nicht der Auszehrung des Alltags opfern durfte.

»Auch er wird gehen!«

Diese leise zu sich selbst gesprochenen Worte, diese Empfindung legte Pablo über all die Jahre nicht ab.

Und so entwickelte sich zwischen ihnen ein starkes Band, aber nicht ein als unvergänglich empfundenes wie zwischen Vater und Sohn. Gabriel gehörte ihm nicht, er gehörte Gott und den Mächten des Himmels.

Auch Margarita, Pablos Weib, sah Gott im Spiel. Anders als Pablo jedoch schaute sie Gabriel als ihr eigenes Kind an.

»Der Himmel lässt Wunder geschehen und bahnt ihnen den Weg in die Welt.«

Gott hatte ihnen Frederico genommen, warum er dies getan hatte, war ihr nie zu Verstand gekommen, und eben dieser Gott hatte ihnen nun, da er seinen Fehler eingesehen haben mochte und sie zu alt geworden war, um eigene Kinder zu bekommen, Gabriel als Findelkind geschenkt.

Der Junge gehörte ihnen, dies ihre unumstößliche Gewissheit, wie sie sich sonst nur einer Mutter bemächtigen konnte. – Wem auch sonst, da nie sich irgendjemand nach ihm erkundigt hatte, hätte das Kind gehören sollen? Genauso wie Pablo, nur leiser, hatte sie sich gefragt, wer die leiblichen Eltern des Kindes waren, ob sie überhaupt noch lebten, aber sie fragte sich nicht, warum sie das Kind vor die Tür gelegt hatten oder hatten legen lassen, und fragte sich auch nicht, ob sie jemals noch einmal Anspruch auf es erheben würden.

Nein, Gabriel war ihr Kind, ihr Kind allein, und sie würde es nie aus ihren Händen geben.

Pablos Geist war forschender gewesen. Margarita hingegen sah es zu ihrer großen Überzeugung als gottgegeben an, dass Gabriel an die Stelle von Frederico gerückt war. Sie würden ihn behalten, bis sich aus ihm ein stattlicher junger Mann entwickelt hatte.

Und wenn er ein gutes Wesen haben würde, und davon war Margarita überzeugt, dann würde er, so ihr mütterlich gefärbtes Denken, nie weit von ihnen gehen und sich bis zum Ende ihrer Tage um sie kümmern.

*

»Es passt alles zusammen. Nichts war für meine Augen und Ohren bestimmt.

Und dennoch kann ich alle Teile zu einem Ganzen zusammenführen.«

Sion de Albanez, der neue Herr, nachdem der alte Marqués vor Jahren alt und unruhig gestorben war, hegte dunkle Gedanken. - Gabriels Existenz wühlte ihn auf. Eine passende Erklärung war ihm möglich, aber er wollte sich die Wahrheit nicht eingestehen.

Zum Vorteil für sein Befinden passierte es nur selten, dass er an den Jungen denken musste, am ehesten noch, wenn er Pablo zu Gesicht bekam. Und diese Seltenheit in der Verwirrung seiner Seele, gepaart mit einer seltsamen Schwäche, verleitete ihn nicht zu grausamen Plänen und ihrer Ausführung.

Die Unruhe, die Sion de Albanez erfasste, wenn er sich der Gegenwart des Jungen bewusst wurde, grenzte an eine unbestimmte Angst. Angst, sie war sonst im Alltag, der keine Geheimnisse barg, und in der Begegnung mit den untertänigen Menschen kein Begleiter seines Lebens.

Umso mehr beschwerte ihn diese unliebsame Empfindung.

So überraschend, wie Gabriel in das dörfliche Leben gekommen war, so überraschend sollte er auch wieder gehen.

Diesen Wunsch, der an Naivität grenzte, hegte Sion de Albanez – wie zuvor sein Vater schon, was sein Geheimnis geblieben war – meist unbewusst, manchmal jedoch heiß in seiner unfreien Seele, auch wenn er nichts für seine Verwirklichung tat. Er, der Herr, der gebieterische und Respekt einflößende, von Kindheit an auf diese Wirkung hin streng erzogene, verspürte eine eigenartige Machtlosigkeit, wenn sich dieses aus dem Reich des Unbewussten aufsteigende Gefühl seiner bemächtigte. Einen Anflug von wissender Verantwortlichkeit gegenüber Pablo und seiner Frau konnte er dabei nicht unterdrücken.

Eine Regung freilich, die immer nur von kurzer Dauer war und keine Nachwirkungen hinterlassen hatte. Ein kaltes Herz hinter regungsloser Miene.

Wenn sein Herz auch bei Gabriel nur kalt geblieben wäre.

Aber es reagierte mit Abwehr, schlug höher und besorgte ihn. – Fatal! Eine Schwermut an Gedanken, die ihn belastete. Ablenkung zwar durch die täglichen Anforderungen, doch der Nachhall der Schicksalsglocke verstummte nicht.

*

So ging die Zeit dahin, über die Küste des Lichts und die dahinter liegende Landschaft und die Menschen hinweg, und formte sie, das Land unmerklich, die anderen aber mehr oder weniger deutlich. Vor dem Ablauf der Naturkreisläufe, vor dem ewigen Wechsel von Tag und Nacht, vor dem immer währenden Zug der Sterne über den immer gleich anmutenden Nachthimmel, vor dem nie enden wollenden Rhythmus der Gezeiten und vor dem immer gleichen Ablauf des Alltags der Menschen schien deren Entwicklung, ihr Erwachsenwerden und ihr Dahingehen die einzige Veränderung in diesem von Gott nur wenig besuchten Zipfel der großen Welt zu sein.

Und doch hatte sich schon eine Veränderung eingenistet, die mit wachem Blicke längst zu bemerken gewesen wäre und die nach ihrer Offenbarung für ein Entflammen nie gekannter und nie gelebter Empfindungen sorgen sollte.

Gabriel war eben um die acht Jahre alt, als sein kleines Leben, die Winzigkeit seiner Welt, jäh von einem Augenblick zum anderen eine tiefe Wandlung erfuhr und er die vorgezeichnete Bahn seines Daseins endlich betrat.