Geschichten aus einem anderen Land

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Die beständigen und an Heftigkeit zunehmenden Querelen und Streitereien im Hause meiens Großvaters führten über kurz oder lang zum Zerfall der familiären Strukturen und zur allmählichen Ausgrenzung des jungen Seitentriebs der väterlichen Großfamilie. Verwandte und ehemalige Freunde hielten sich zunehmend von uns fern. Bestehen blieben die familiären Bindungen der Mutter. Die aber waren von kümmerlicher Natur, denn die Großeltern mütterlicherseits starben im Folge großdeutscher europäischer Neuordnungsvorstellungen, zwei Schwestern nur hatten das Bombeninferno überstanden. Außerdem besagter Onkel Fritz nebst seiner Frau, Tante Helene. Über letztere ist wenig zu sagen, sie führte an der Seite ihres Mannes eher ein Schattendasein. Im großen Gegensatz zu Onkel Fritz ging sie körperlich recht mickrig daher, so war es auch um ihre geistigen Potenzen bestellt. Kinder blieben den beiden in ihrer langjährigen Ehe versagt. Das war auch gut so, denn Onkel Fritz hätte in seinem seit früher Jugend der Weltrevolution verschriebenen Kämpferleben dafür keine Zeit aufwenden können. Auch war er wohl nicht besonders geeignet für den Umgang mit Kindern. Vor Zeiten, da er noch auf dem Lande in einer Dorfschmiede werkelte, trug es sich zu, dass die Schulkinder auf dem Heimweg vorm kleinen Garten neben der Schmiede stehenblieben, um dann mit Steinen, die sie von der Dorfstraße auflasen, nach den reifen Birnen zu werfen, welche an den über den Gartenzaun ragenden Ästen des Baumes hingen. Trotz aller Ermahnungen des damals noch jungen Schmiedes Friedrich ließen die Kinder nicht ab von ihrem Tun, so schaffte er dem Treiben ein für alle mal Abhilfe. Er warf Eisenstücke, die Straßensteinen glichen, kurz vor dem Erscheinen der kleinen Birnendiebe ins Schmiedefeuer, brachte sie darin kurz zum Rotglühen und streute sie alsdann wie wahllos vor dem Gartenzaun auf die Straße, just zu der Zeit, zu der gewöhnlich die Dorfjugend aus den Schulzimmern heimwärts strebte. Statt Birnen trugen die Kinder verbrannte Hände nach Hause, seitdem mieden sie die Schmiede und den Garten und den Birnbaum und den Onkel Fritz.

Unter welchen Umständen der Onkel die braune Zeit überstand, wurde nie genau geklärt, Tante Helene schwieg sich auch nach seinem schmerzvollen Ableben, der nach langem Siechtum, verursacht durch permanent überhöhte Strahlendosis im Uranbergbau, eintrat, beharrlich aus. Mein Vater brachte lediglich in Erfahrung, dass der Onkel kurz nach Hitlers Machtantritt von der Gestapo verhaftet, für ein paar wenige Wochen als Schutzhäftling inhaftiert, dann aber ohne weiteren Schikanen wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. Offenbar reichte jedoch selbst die kurze Episode im Nazikerker, um Onkel und Tante im deutschen Arbeiter- und Bauernstaat als Verfolgte und Opfer des Nationalsozialismus zu klassifizieren und mit einer für damalige Zeiten erheblichen Leibrente auszustatten.

Nach dem Krieg stellte sich Onkel Fritz nun mit aller Kraft der russischen Siegermacht zur Verfügung und übernahm als ehemaliger altgedienter KPD-Mann auch sogleich eine wichtige Parteifunktion in den sowjetischen Uranminen des Erzgebirges. Da hatte er auch mit Geldern der Partei zu tun, was ihm zum Verhängnis wurde. Die Prügeleien mit SA, SS, ab und an auch mit Rotbanner zu Zeiten der Weimarer Republik vermochten ihm nichts anzuhaben, auch nicht Haft und ideologischen Demütigungen im Dritten Reich, wohl aber die Versuchungen der Kraft, welche er über die Jahre als Wurzel allen Übels bekämpft hatte, das Geld. Der ertappte Sünder gab sich vorm Parteitribunal reumütig, entging dem Versand ins eisige Sibirien aber durch sein revolutionäres Vorleben, wohl eher noch durch Fürsprache höheren Orts. Funktionär konnte er so freilich nicht bleiben, auch verdiente seine unehrenhafte Tat schon eine deftige Buße. Die arbeitete er nun bar jeglicher Funktion und Ämter untertags, gleich dort, wo nebenan das strahlende Erz gebrochen wurde, in einer Werkzeugausgabe der Wismut AG ab. Die fortwährenden radioaktiven Ausdünstungen des Materials drangen hier unbemerkt in seinen Körper und zerfraßen sein Blut. Jahre später erst, da er neben der Nazi-Opferrente auch eine stattliche Bergmannspension bezog, machten sich die ersten Anzeichen der unheilbaren Krankheit bemerkbar. Dann aber war dem Verfall des massigen Leibes kein Einhalt mehr zu bieten, auch nicht mittels der homöopathischen Essenzen, die er sich trotz seines eingeschworen materialistischen Bewusstseins in höchster Lebensangst von einem Wunderheiler gleich kistenweise liefern ließ, um im halbstündigen Rhythmus mit dem Harn auch die Krankheit auszuscheiden. Wir wissen schon, dass er in diesem Kampf nicht obsiegte.

Kehren wir nun aber zurück zu den Tagen, da Onkel Fritz sich noch vornehmlich bester Gesundheit erfreute.

Die Besuche, die wir im familiärem Tross in Monatsabständen dem Onkel abstatteten, waren mir stets ein Graus. Schon deren Planungsansätze versetzten mich in geradezu schmerzhafte Panik, wissend, dass spätestens nach dem Mittagessen am Sonntag die verhasste Zeremonie des Anputzens begann: statt der blankgewetzten Lederhose weiße Kniestrümpfe, anstelle des Räuberpullovers das alberne hellgelbe Hemd. Allerdings gab es da einen Umstand, der einen gewissen magnetischen Einfluss auf mich ausübte: Onkel und Tante besaßen als einzige weit und breit in unserer Verwandtschaft und Bekanntschaft einen Fernsehapparat. Der lief ständig, auch während unserer Besuche, und bot somit einen gewissen Wertausgleich für die ansonst stinklangweilige Besuchsprozedur.

Mein kleine Bruder wurde in den Kinderwagen verpackt, und auf ging‘s zur Straßenbahn. Mit der rumpelten wir ins Stadtzentrum. Bis zu Onkel Fritz‘ Wohnung marschierten wir noch eine weitere halbe Stunde zu Fuß. In den frühen Abendstunden erst erfolgte dann gewöhnlich der Heimgang. Schon im dunklen Hausflur zu des Onkels Wohnung umfing mich der stets gleiche, seltsame Geruch: eine Mischung aus Bohnerwachs und Vanille. Ein Geruch, der mich noch nach Jahren als Erinnerung anfiel, so ich an dem Haus vorbeikam, auch wenn darinnen Onkel Fritz und Tante Lene längst nicht mehr wohnten. Da meine Mutter und Tante Lene sich kaum etwas zu sagen hatten, die meiste Zeit still sitzend den Gesprächen der Männer lauschten oder auch nicht, konnten die Ursachen der häufigen Onkel-Fritz-Besuche nur bei letzteren liegen. Diese ursachen wurden auch gleich nach dem Austausch der Begrüßungsformeln und weniger formeller Nichtigkeiten – heutzutage als „Smalltalk“ bekannt - sichtbar, und zwar in der Form eines Schachbrettes. Meines Vaters im Schachverein trainierter Meisterschaft hatte Onkel Fritz jedoch nichts entgegenzusetzen. Zwar gewann er hin und wieder, dies aber nur mit stiller Duldung seines Gegenspielers, der die Verärgerung des Gastgebers nicht grenzenlos zu mehren gedachte. Zug für Zug, Spiel für Spiel entfaltete der Onkel statt indessen seine eigenen Talente. Die lagen in der Interpretation der Weltpolitik. Zunehmend wandelte sich das Schachspiel mithin zur reinen Formsache, Hauptinhalt wurde das politische Gespräch. So auch zu einem der Besuche im Herbst des Jahres 1956. Während mein Vater Sinnfälligkeit und Konsequenzen einer Königsrochade zum gegebenen, noch frühen Zeitpunkt des Spielverlaufs abwägte, erging sich Onkel Fritz bereits in Belehrungen und Mutmaßungen zur Situation in Ungarn und kam dabei zunehmend in Fahrt. Im sozialistischen Bruderland hatten gerade die gegen die prosowjetische Regierung rebellierende Magyaren rote Fahnen zerfetzt und schickten sich nunmehr gar an, das mit historischer Notwendigkeit zum Kommunismus voranschreitende ungarische Staatswesen zu unterhöhlen.

Wie immer spannte Fritz den Bogen weit. Zumeist, so auch diesmal, startete er seine Darlegungen beim chinesischen Boxeraufstand, manchmal aber auch in früheren Jahrhunderten, etwa bei den deutschen Bauernkriegen des späten Mittelalters oder gar bei Spartakus im Römischen Reich. Diese Form raumgreifender Vorbereitung politischer Argumentation muss meinem Vater, primär eher mit Strategie und Taktik des Schachspieles befasst, im Verlaufe der vielen Spiele allmählich sowohl ins Unterbewußtsein als auch in Fleisch und Blut getröpfelt sein, denn sie begleitete mich bis zu seinem Tod am Ende der Neunziger.

An besagtem Nachmittag aber galt meines Vater Interesse mehr dem Spiel. Dies mit aufkommendem Unmut bemerkend erhob Friedrich leicht die Stimme. Mittlerweile war er in seinem Narrativ in der jüngeren deutschen Geschichte angelangt.

„Nie wäre Hitler an die Macht gekommen, wenn die Sozialfaschisten uns ehrlichen KPDlern die Hand zum Bruderbund gereicht hätten!“ deklamierte er. „Die Einheit der Arbeiterklasse wäre Garant gewesen für ein blühendes Sowjet-Deutschland ohne Krieg.“

„Und gegen die gelbe Gefahr“, warf Tante Lene mit wichtiger Miene ein. Der Onkel schreckte in seinem Redefluss jäh unterbrochen auf und sah mit vorwurfsvollem Blick schweigend auf sie herab. Mein Gott, was hatte er sich da vor Jahrzehnten nur an Land gezogen! Ein Wunder, dass die Ehe die vielen Jahre überdauerte, denn wie verschieden waren sie doch in Geist und Körper. Die Tante entstammte einem streng katholischen Haushalt, er lernte sie auf einem der üblichen Dorftanzabende kennen und nahm sich ihrer an wie eines streunenden Hundes. Seitdem wich sie nicht von seiner Seite, legte die alte Religion ab und bekannte sich vorbehaltlos zur neuen, deren wahre Inhalte ihr jedoch für alle Zeiten verschlossen blieben. Ungeachtet dessen eiferte sie Friedrich in Worten mit glühender Überzeugung nach. Auch trat sie schon bald nach der Verlobung aus der Kirche aus und dem kommunistischen Jugendverband bei. So hatte alles wieder seine vertraute Ordnung.

„Was denn nun schon wieder für eine gelbliche Gefahr?“, fragte erschrocken in die Stille hinein meine Mutter. Das Wort „Gefahr“ war schneidend in ihr Ohr gedrungen, und die immerdar von Ängsten aller Art Geplagte fuhr aus ihrem von Sorgen und Nöten durchzogenen Dämmerzustand auf. Im Gegensatz zur Tante folgte sie wie üblich dem Geschehen nur marginal, ihre bekümmerten Überlegungen mündeten heute schon in den nächsten Tag, da hatte sich zum Nachmittag meine Klassenlehrerin angekündigt. Mutmaßlich kam diese wieder mit einem Sack voller Klagen. Nein, nicht meine schulischen Leistungen waren’s, die Anlass zur Besorgnis bereiteten, da gab es keinen Grund zur Beschwerde. Aber die Disziplin, die Disziplin, die Disziplin! Vor Monaten erst der Eklat mit dem ausgeschlagenen Zahn des Nachbarsohnes, wenig später die dumme Sache mit dem zerrissenen Pionierhalstuch einer Mitschülerin, was kam nun morgen auf sie zu? Die Angelegenheit mit dem Zahn, zumal noch einem Milchzahn, war schnell erklärt und, zumindest meines Vaters Augen, als Bagatelle entschuldigt. Der Nachbarsohn hatte nach dem Besuch seiner erstmals mit einem Auto, einem etwas ramponierten Opel Kapitän, angereisten Westverwandtschaft auf dem Schulhof lauthals mit den gleichsam aus dem Westen überbrachten Geschenken geprahlt. Neben Hemden, Jacken und Hosen, für die umstehenden Schüler völlig uninteressant, befand sich darunter auch ein luftbereifter Tretroller, eine Sensation geradezu. Mußte er aber deshalb solch ein Gewese machen? Ichn sagte es ihm ins Gesicht, wir kamen ins Gerangel. Die versammelte Schülermenge witterte Blut und feuerte die Streithähne an. Herbeieilende Lehrer trennten die sich am Boden wälzenden Knaben, zwischen Sand und Steinen blieb der blutige Zahn zurück. Mein Vater trug‘s mit Fassung: sollten die Nachbarn eben das Maul nicht so weit aufreißen mit ihrer West-Mischpoke, die großen wie die kleinen.

 

Bedenklicher, wenn an sich auch banaler, verlief die Sache mit dem Pionierhalstuch. Britta Kösel, auch Pummelchen genannt, hatte das Tuch nach der Klassenlehrerstunde wieder abgebunden und unter die Bank gestopft. Dort lag es noch nach Schulschluß, als ich und Beckmann es entdeckten. In Ermangelung eines anderen Werkzeugs wischten wir damit erst einmal die Tafel ab und gerieten alsdann in handgreiflichen Streit. Das Tuch diente dabei, nunmehr klitschnass, wechselseitig als schlagendes Argument. Schließlich hielt jeder von uns beiden ein Stück davon in den Händen. Beckmann erzählte davon zu Hause, schob alle Schuld auf mich, was ihm aber nichts nützte. Letztendlich standen wir beide vor der Pionierleiterin und dieser Rede und Antwort. Die hing die Sache an die große Glocke, und die wiederum schallte dann laut bis in die betroffenen Elternhäuser. Der Parteisekretär der Schule lud zur Aussprache.

Meinem Vater schwoll deswegen der Kamm, zumal er sich noch gut daran erinnerte, wie er sich vor Jahren schon mit diesem Genossen in den Haaren hatte. Damals besuchte ich noch den Kindergarten, welcher in einem Seitenflügel der Schule untergebracht war. Die Leiterin des Kindergartens setzte ihren politischen Eifer in strenggläubige Missionierungsarbeit um. Eine ihrer Maßnahmen bestand darin, vor dem Mittagessen allen Kindern ein Gebet abzuverlangen: Händchen falten, Köpfchen senken, und dabei an Stalin denken. Ich verweigerte mich dieser Prozedur. Nicht dass er etwas gegen Väterchen Stalin gehabt hätte, den kannte ich ja eigentlich kaum, höchstens weise von Bildern und Plakaten blickend. Das Gebet an sich war’s, dem ich mich verschloss. Mein Vater als konsequenter und strenger Atheist hatte längst jegliche Form religiösen Brauchtums im Familienleben ausgemerzt, was also sollte der Spuk nun im Kindergarten? Mein Vater setzte sich mit sturen Argumenten gegen den Parteisekretär der Schule, welcher beauftragt war, politische Disziplin und Ordnung auch im Kindergarten aufrecht zu erhalten, durch, und ich ward von da ab von den politischen Betzeremonien zu Tisch befreit. Es blieb der Stachel erkannter Widerspenstigkeit im Gedächtnis des Sekretärs zurück.

Mein Vater und der schulische Parteisekretär Uhlig waren alte Bekannte. In dem eher einem Dorf gleichenden Vorort der Stadt kannte jeder jeden, kaum blieben da Geschehnisse lange im Verborgenen. Mein Vater und Uhlig hatten nicht nur gemeinsam die Schulbank gedrückt, sie turnten auch gemeinsam im sozialdemokratischen Arbeiter-Sportbund, rivalisierten auf der Tanzdiele um die gleichen Mädchen und prügelten sich als Rotbannerleute ab und zu mit SA-Leuten oder Rotfrontkämpfern. Nicht lange nach der Machtübernahme der Nazis aber trennten sich ihre Wege. Seiner Schwäche für Autos und Motorräder folgend verschlug es Uhlig zum nationalsozialistischen Kraftfahrzeugkorps. Im eiskalten russischen Winter erfror er als Kradmelder im Dienstrang eines Unteroffiziers den linken Fuß, wurde aus dem Kessel mit einem der letzten Flieger zu einem Verbandsplatz gleich hinter der Hauptkampflinie ausgeflogen und geriet dort in russische Gefangenschaft. Sozialdemokratisch vorbelastet avancierte Uhlig als Schreiber der Lagerverwaltung in den Bleiminen der sibirischen Tundra zum Agitator des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ und erlernte hier neben der russischen Sprache auch die Spielregeln der Partei neuen Typus. Die neue Heilslehre ersetzte abstrichlos sowohl die Relikte sozialdemokratischen als auch die noch frischen Eindrücke nationalsozialistischen Gedankenguts. Gewappnet mit einer Ideologie, die ihm nach all den vorherigen Irrlehren auf geradezu wundersam einfache Weise klar und wahr schien, trat Uhlig als Neulehrer nach dem „Zusammenbruch“, wie mein Großvater den Kriegsschluss benannte, einem Phönix aus der Asche gleich den Dienst am Volke an. Die vereinte Partei erhob ihn alsbald in die Funktion ihres Sekretärs an seiner Schule.

Nun also standen sich mein Vater und Uhlig erneut gegenüber, wieder verursacht durch mich, der ich diesmal im Bunde mit meinem Schulfreund Beckmann das heilige Halstuch der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ erst als Wischlappen missbraucht und dann gar zerrissen hatte. Uhlig sprach von „Blasphemie“, und mein Vater tippte sich daraufhin vielsagend an die Stirn. „Soll die Trulla doch besser aufpassen auf ihre Klamotten“, versetzte mein Vater dem eifernden Sekretär, „oder besser noch, soll sie das Tuch nicht nur zur Klassenlehrerstunde umbinden sondern immerzu, wenn sie auf diese Art glänzen will. Meiner hat das nicht nötig, der schreibt seine Einsen und Zweien mit dem Kopf ins Klassenbuch, nicht mit irgendeinem Tuch!“ Uhlig verschlug’s die Sprache, aber ehe er sich versah, war mein Vater wutentbrannt erst aus dem Raum, dann aus der Schule gestürzt, alle Türen dabei laut hinter sich zuschlagend .

Ist es denn die Möglichkeit, wegen dieses blauen Fetzens solch ein Theater zu inszenieren! Derartig geladen stürmte mein Vater unablässig zeternd wenig später in unsere abendliche Behausung.

„Lieber Gott, versündige dich nicht!“, versuchte meine Mutter die Flut der unbedachten Schmähungen zu stoppen. „Du weißt, erst kürzlich haben die Russen den Lauterer geholt, wegen solcher Reden und wegen politischer Witze!“

Mein Vater glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Waren denn heute alle von der Kette los? „Seit wann bezahlst du wieder Kirchensteuern?“, knurrte er bösartig zurück, „von wegen versündigen und lieber Gott. Und schreib‘ es dir hinter die Ohren: Den Lauterer haben nicht die Russen geholt sondern unsere Polizei, und zwar zu Recht. Der hat nicht nur andauernd dumme Witze erzählt sondern auch versucht, unserer Wirtschaftskraft zu schaden. Wie man sich erzählt, war er es nämlich, der den Haupttrafo der städtischen Elektrizitätswerke vergangene Woche lahmgelegt und die Stromsperre damit auf die ganze Nacht ausgedehnt hat. Das nennt man Sabotage, und die ist, soviel ich weiß, in jedem Lande strafbar.“

Meine Mutter zog sich in den Schmollwinkel zurück, mit solch harscher Gegenwehr hatte sie nicht gerechnet.

Nun, die Angelegenheit mit der geschändeten Pionierehre verlief vorerst im Sande, Pummelchen erhielt von meiner Mutter ein neues Halstuch verbunden mit dem beiläufigen Hinweis, das wertvolle Stück nur immer schön im Auge, am besten aber um den Hals zu behalten.

Solcher Art also waren meiner Mutter gedankliche Streifzüge, als das Wort der „Gelben Gefahr“ aus Tante Lenes Munde sich jäh mit aller Macht in diese hineinzwängte und sie zum angstvollen Nachfragen animierte. Onkel Fritz blickte sie ob ihrer Frage stirnrunzelnd an, wohl wissend, dass bei ihr noch ausgeprägter als bei seiner eigenen Frau jede Liebesmüh‘ vergeblich wäre, in der Kürze der gegebenen Zeit hinreichend geschichtliche Erkenntnisse anzuhäufen, um darauf aufbauend die historische Mission der Arbeiterklasse erläutern zu können.

Weshalb die Tante die „Gelbe Gefahr“ an dieser Stelle ins Gespräch gebracht hatte, blieb unklar. Wahrscheinlich nur, um sich selbst etwas mehr unter Fritzens Licht zu stellen, denn die „Gelbe Gefahr“ beschloss im allgemeinen jedwede der weltanschaulichen Betrachtungen ihres Ehemannes. Diesbezüglich langjährig trainiert kannte sie die Abläufe. In die Apokalypse der „Gelbe Gefahr“ mündeten selbst die weltmaßstäblich siegreichen Kämpfe des Proletariats. Das freilich stand im eklatanten Widerspruch zu den Lehren der Klassiker des Marxismus-Leninismus, Stalin und Mao darin eingeschlossen, weshalb es Friedrich seitens seines Parteivorstandes mehrfach dringlichst abgeraten und untersagt wurde, solcherart Propaganda unters Volk zu tragen. Zu Hause jedoch, im engen Kreis, konnte er sich dem prophezeiten erneuten Ansturm aus den asiatischen Weiten nicht entziehen. Nur kam der Tante Einwurf diesmal an dieser Stelle seiner Argumentation viel zu früh, die Beschlüsse der KPD ausgangs ihrer Konferenzen zu Bern und Brüssel waren überhaupt noch nicht ins Feld geführt, der Sieg der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg nicht gewürdigt.

Friedrich wischte die „Gelbe Gefahr“ mit einer flachen Handbewegung übers Schachbrett weg, die Frage meiner Mutter blieb unbeantwortet. Dabei schmiss er seinen Turm und meines Vaters um. Die beiden Figuren kullerten übers Brett, die Dame fiel vom Tisch. Eilfertig sprang die Tante herzu, bückte sich, um die Schachfigur aufzuheben und stieß dabei mit der Schulter derb gegen die Tischkante. Der Tisch wackelte beachtlich, die Schachfiguren tanzten und purzelten auf dem Brett durcheinander, an eine Wiederaufnahme des Spiels war nicht mehr zu denken. Dies sehr zum Verdruss meines Vaters, der vor Erwähnung der „Gelben Gefahr“ eine ganz andere Gefahr gedanklich heraufbeschworen hatte, und zwar die eines klassischen Schachmatt für Onkel Fritz. Wahrscheinlich hätte er diesem dann letztlich doch noch ein Schlupfloch zum Patt gelassen, wahrscheinlich. Nun freilich war alles zu spät, die Figuren lagen wie Kraut und Rüben durcheinander, jeglicher Versuch, die alte Anordnung wieder herzustellen, schlug fehl, der Onkel, verstrickt in den Kämpfen der vergangenen Zeit, war nur noch flüchtigen Gedankens beim Spiel. Mein Vater gab seinem Ärger ob des verpatzten Siegs freie Bahn, er wusste, wie er dem Onkel diesbezüglichen Bescheid geben und auf die Palme bringen konnte: „Wenn wir schon mal bei den Ungarn waren“, gab er leichthin zum besten, „die Russen jedenfalls sollten sich da lieber heraushalten. Die haben schon aus Deutschland genug weggeschleppt.“

Zisch! Des Schmiedes Hand durchschnitt die Luft und krachte, rumms!, auf den Tisch. Hat man da noch Töne? Sollte denn die jahrelange ideologische Aufbauarbeit an diesem Menschen wirklich für die Katz‘ gewesen sein?

Die beiden Buben auf dem Teppich vorm Fernseher schreckten hoch, Tante Lene kniff noch enger den ohnehin schmalen Mund mit den stets nach unten zeigenden Mundwinkeln zusammen, meine Mutter blickte erschreckt und hilflos von einem zum andern.

„Erstens!“ knurrte der Onkel über den Tisch und fuhrwerkte dabei mit den Armen, als gelte es Beelzebub in persona zu vertreiben, „Erstens ist streng materialistisch gesehen alles, aber auch alles, was die Sowjetunion tut, ohne jedwede Abrede richtig, denn die Sowjetunion ist nicht nur die Vorkämpferin der Weltrevolution sondern darüber hinaus auch die Hüterin der historischen Wahrheit. Und zweitens: Was heißt denn hier angesichts der russischen Kriegsopfer „aus Deutschland weggeschleppt“? Ja, selbst wenn es keinen Krieg gegeben hätte, gälte das Motto: Auch wenn wir hier in Deutschland nur noch einen einzigen Hammer hätten und die Sowjetunion bräuchte ihn, dann würden wir ihn ihr geben. Das nennt man proletarischen Internationalismus! Und damit basta! “

„War ja nicht so gemeint“, versuchte mein Vater beizulenken und zu beschwichtigen, „noch `ne neue Partie Schach gefällig?“ Nein, es nutzte nichts, auch wurde es nichts mit einer neuen Partie. Gleich rotierenden Gebetsmühlen mahlten jetzt Friedrichs Agitationstiraden. Und sie mahlten schonungslos, jeglichen Widerspruch schon beizeiten im Keim erstickend.

Es dämmerte bereits, als man sich dann verabschiedete, wir hatten noch einen beachtlichen Heimweg vor uns.

 

„Na ja, ist manchmal ein rechter Polterkopf, der Friedrich“, brummelte mein Vater ziemlich beeindruckt von dem Gehörten vor sich hin, „aber wenn man’s gründlich bedenkt, irgendwie hat er immer recht. Und er weiß mächtig viel von den Dingen der Welt, obgleich er nur ein Schmied ist und nie ‚ne höhere Schule besucht hat, von dem kann man doch immer noch was lernen.“ Meine Mutter hingegen befand, der Onkel gebärde sich, als könne er höchstpersönlich den Weltenlauf beeinflussen. Und außerdem hätte er durch seinen stundenlangen Monolog heute zum wiederholten Male schon das Besuchsende so weit hinausgezögert, dass wir jetzt in der Dunkelheit und bei einsetzendem Regen noch unterwegs wären.

Die Besuche bei Onkel Fritz und Tante Lene dauerten noch an, als der Onkel Tag für Tag schon eimerweise das verordnete Heilwasser in sich hineinschluckte und fanden erst ein Ende, da er auf Nimmerwiedersehen ins Krankenhaus entschwand, da wog der einst über drei Zentner schwere Mann nur noch schlappe fünfundvierzig Kilo.

Die Besuche bei Tante Lene verebbten mit einem Schlag, denn worüber wäre mit ihr zu reden gewesen? Es ging das Gerücht, dass sie, die eigentlich von überdurchschnittlichem Geiz Heimgesuchte, sich am Tage nach der Todesnachricht ihres Gatten einen etliche tausend Mark teuren Teppich gekauft hätte. Trauer konnte das nicht sein, war es viel eher die unbewußte Erleichterung darüber, endlich ohne fortwährende Rüffel laut denken und eigenständig handeln zu können?

Noch eine Person verdient es, den Annalen meiner Kinder- und Schuljahre beigefügt zu werden. Begegnet war ich diesem Menschen allerdings nur ein einziges Mal, auch dies nur kurzzeitig und, was die äußere Erscheinung betrifft, ohne jeglichen Nachhall. Der Textilmaschineningenieur Martin Berents. Mein Vater hatte ihn als Mitstreiter im Schachverein kennen- und schätzengelernt. In ihm, obgleich von gänzlich anderer Natur als Onkel Fritz, klein, ja geradezu zierlich, aber von außerordentlich hoher Bildung, sah er die Verkörperung der zweiten notwendigen Komponente, die mich, seinen Erstgeborenen, auf meinen Lebensweg beflügeln sollte. War Onkel Fritz zuständig für die erforderliche proletarische Weltanschauung und Klassenposition, so stand der Ingenieur Berents für beruflichen Aufstieg durch strebsame Studien. Der Geist des Ingenieurs durchdrang so allzeit und immerdar alle Gespräche, die der Vater mit mir hinsichtlich meienr noch in weiter Ferne liegenden Berufswahl führte. Meinem Vater schwebte da einiges vor, mehrheitlich wohl Berufe, die selbst zu erlernen ihm aus den verschiedensten Ursachen heraus nicht vergönnt gewesen waren. Hatte er selbst der Notwendigkeit schnellen eigenen Verdienstes als ältestes Kind einer neunköpfigen Arbeiterfamilie gehorchen müssen, so standen seinem Sproß mit der neuen Zeit doch ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung. Wenn der nur wollte, wenn man ihm nur den rechten Weg wies.

Vorerst führte der rechte Weg der Erkenntnis zum Hause des Ingenieurs Berents. Mein Vater hatte sich unter irgendeinem einem Vorwand dorthin in Marsch gesetzt, mich erziehungshalber im Gefolge. Ich sollte mit eigenen Augen sehen, zu welch sozialem Status man es bringen könne, wenn man sich nur genug um geistiges Rüstzeug bemühe. Zum Haus des Ingenieurs gehörte eine Garage, darin stand ein PKW der Marke „Adler“. Der schon recht betagte Berents wirtschaftete in seinem mit Blumen und Beeten versehenen Vorgarten. Man kam ins Gespräch, und der Ingenieur lud uns ein, Haus und Wohnung zu besichtigen. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Gediegene Möbel, blitzsaubere Dielen und Wände, Schränke und Wände vollgestellt und behangen mit exotischen Mitbringseln aus aller Welt. Neben dem Schwert eines Sägefisches stand die Vitrine mit der Gesteinssammlung aus Vorder- und Hinterindien. Und jede Menge Bücher. Bücher, wohin man blickte.

„Siehst du, das kann man sein Eigen nennen, soweit kann man in der Welt herumkommen, wenn man klug ist, fleißig lernt und sich in der Schule auf den Hosenboden setzt,“ moralisierte mein Vater. Der Ingenieur Berents hörte die Worte mit Wohlgefallen, wiegelte aber bescheiden ab. „Alles zu seiner Zeit, alles zu seiner Zeit,“ philosophierte er. „Was willst du denn einmal werden?“ wandte er sich sodann an mich.

„Matrose!“ entsprang es wie aus der Pistole geschossen meinem Munde.

Blitz und Donner! Meinem Vater verschlug es glatt die Sprache, von diesem seltsamen Berufswunsch seines Sohnes hörte er just in diesem Augenblicke zum ersten Male. Der Ingenieur Berents lächelte milde, „Na ja, hat wohl noch ein bisschen Zeit damit.“

Auf dem Heimweg versuchte mein Vater die merkwürdige Karrierevorstellung seines Sprösslings zu ergründen und zu richten. Auf welch absonderliche Gedanken der Bursche doch kam! Weit und breit war kein Seemann unter den Bekannten und Verwandten der Familie aufzutreiben, zur Kahnfahrt auf den heimischen Gewässern hatte sich Knabe vor einem Jahr noch vor Angst in die Hose gepinkelt. Und jetzt das! Ganz im Geheimen schwebte meinem Vater, was meine berufliche Zukunft betraf, eigentlich etwas anderes, geradezu Gigantisches vor. Aus der Kombination von Arbeiterstandpunkt nach Art des Onkel Fritz und Fachwissen nach Art des Textilingenieurs Berents, gepaart mit meiner offensichtlichen Intelligenz sollte daraus ein sozialistischer Arbeiterminister erwachsen, nicht mehr und nicht weniger. Diesen Wunsch behielt er freilich zu diesem frühen Zeitpunkt noch für sich. Viele Jahre später erst rückte er damit heraus, da aber lächelte ich nur noch müde darüber.

Vorerst galt es jedenfalls, mir die hirnrissige Idee vom lasterhaften und ziellosen Leben eines Matrosen auszutreiben.

„Wie kommst du denn eigentlich plötzlich darauf?“, erkundigte er sich leichthin. „Ich dachte bisher immer, du wolltest einmal Uhrmacher werden.“

Uhrmacher! Nie im Leben konnte ich mir vorstellen, Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr in der kleinen, muffigen, dämmrigen Werkstatt zu hocken, die nur von einer Arbeitslampe am Tisch des Meisters dürftig ausgeleuchtet wurde, um mit einem riesigen Okular vorm Auge winzige Teilchen in die Taschen- und Armbanduhren fremder Leute zu bugsieren. Mein Vater hatte mich hin und wieder mitgenommen, wenn er, was bedauerlicherweise recht oft vorkam, seine Armbanduhr dahin zur Reparatur schaffen musste. Da blieb es nicht aus, dass der Beruf eines Uhrmachermeisters in Erwägung gezogen wurde, verinnerlicht hatte ich ihn jedoch nie.

Der geradezu aus dem Nichts aufgetauchte, völlig abwegige Seemannswunsch nistete sich ein, alle Versuche, ihn zu verdrängen schlugen fehl. Mein Vater bewahrte verschwiegen den Traum vom sozialistischen Arbeiterminister, der mit Sachverstand und proletarischem Gerechtigkeitssinn den Übeln der Welt zu Leibe rückte und überließ die Entgleisung zum Matrosen fürs erste dem Hirn des Kindes, die Zeit mochte und würde es ins rechte Lot bringen.

Meine Kindheit verging so gleich der meiner Schul- und Spielgefährten. Urlaubsreisen waren für alle ein Fremdwort, so verbrachten wir zumeist auch die Ferien miteinander. Die tagtäglichen Qualen, Kümmernisse und Sorgen der Eltern blieben uns eher unerkannt. Soziale Schichtungen, wenn überhaupt vorhanden, blieben weitgehend verdeckt, sie wurden am deutlichsten sichtbar am Spielzeug der Kinder, an Fahrrädern, elektrischen Eisenbahnen, Puppen und Puppenwagen.

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