Tanner

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Aus der Reihe: Simon Tanner ermittelt #1
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Bevor er abwehren kann, ist Honoré schon wieder mit der Flasehe zur Stelle. Während er ihm Saft einschenkt, er muss sich dafür auf seine Zehenspitzen stellen, sagt er ganz sanft, nahe an Tanners Ohr.

Sie ist die Sonne auf dem Mondhof.

Bevor er nachfragen kann, wer die Sonne ist, faucht die Alte den Zwerg an.

Verschwinde, imbécile! Und droht mit dem Stock.

Schweigend schauen sie sich in die Augen. Sie massiert dabei immer noch die schwarze Katze zwischen den Ohren. Tanner weicht ihrem Blick nicht aus.

Warum sind Sie eigentlich bei der Ruth eingezogen, Tanner?

Aha, das ist des Pudels Kern, denkt er und überlegt sich, welche Geschichte er zum Besten geben soll.

Ach, wissen Sie, ich bin ein sentimentaler Städter, der lange Zeit im Ausland gearbeitet hat, jetzt zurück in die Schweiz kommt, etwas Erspartes auf der hohen Kante hat. Bevor ich mich entscheide, was weiter mit meinem unbedeutenden Leben geschehen soll, will ich mir einen alten Traum erfüllen, nämlich einmal auf dem Land zu leben. Ein bisschen schreiben, spazieren, wilde Pferde einfangen und so weiter.

Tanner trägt dies alles mit dem sonnigsten Lächeln vor, zu dem er bei diesen Zimmertemperaturen fähig ist.

Sie schweigt etwas zu lange, als dass er denken könnte, sie würde ihm glauben. Obwohl er eigentlich die Wahrheit gesagt hat. Beinahe.

Gut, Tanner, ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen!

Sie lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und schließt die Augen. Ihre Hand auf dem großen Kopf der Katze bewegt sich nicht mehr. Auch der Kater hat seine Augen geschlossen.

Plötzlich spricht Honoré leise. Tanner hat ihn nicht kommen hören.

Pst! Kommen Sie. Madame will jetzt schlafen. Manuel fährt Sie zurück.

Er nimmt ihm die Wolldecke ab und sie gehen leise aus dem Salon.

Zurück im Korridor, der jetzt erleuchtet ist, sieht man tatsächlich japanische Schwerter an der Wand hängen.

Falls es nicht mehr regnet, möchte ich ganz gerne zu Fuß gehen. Es hat aufgehört. Es würde sogar ein bisschen die Abendsonne scheinen. Wenn sie nicht schon untergegangen wäre!

Das Wort Sonne betont Honoré ganz übertrieben und Tanner befürchtet schon, der Zwerg falle wieder in seine Falsett-Kauderwelsch-Nummer zurück. Der steckt ihm aber einen Zettel in die Hand und ein letztes Mal legt er den Finger auf seinen Mund.

Pst!

Und leise singt er zum Abschied. Aufwiederschön … aufwiederschön!

Er geleitet Tanner bis zur Tür und hebt zum Gruß seine kleine Hand.

Ach, und ich wollte doch die Alte fragen, wie das Pferd heißt, seufzt Tanner und schaut nach, was auf dem Zettel steht, den ihm Honoré zugesteckt hat.

Morgen, Friedhof, 17.00 Uhr. Bitte!

Unterschrift: R.

VIER

Die Küche ist hell erleuchtet. Das Licht sieht man schon von der Kurve aus, beim Friedhof, wo vorhin der Geländewagen ins Rutschen kam. Ein Leuchtfeuer in der dunklen Landschaft.

Vermutlich hat Tanner das Nachtessen verpasst. In der Hektik des Aufbruchs um fünf Uhr hat er auch sein Telefon vergessen. Er beschließt, trotzdem in die Küche zu gehen, denn irgendwie fühlt er sich zu einer Erklärung verpflichtet. Außerdem ist er bis auf die Knochen durchfroren und hat Hunger.

Ruth und Karl sitzen am Tisch mit einer verschlossenen Flasche Wein und drei Gläsern. Sie haben also auf ihn gewartet, denkt er zufrieden.

Es ist noch nicht so weit. Wir können leider die Flasche noch nicht öffnen.

Karl sagt das mit echtem Bedauern. Tanner macht ein verständnisloses Gesicht.

Meine schöne Laura kriegt doch heute ein Kalb. Ich hatte damit gerechnet, dass es vor dem Nachtessen kommt, dann hätten wir mit Ihnen auf das neugeborene Mädchen anstoßen können.

Beim Wort Mädchen zwinkert ihm Karl beziehungsvoll zu.

Ach so, ja, das habe ich ganz vergessen. Ich werde gleich in den Stall gehen und die Mutter fragen, ob ich Pate sein darf. Ich würde so gerne als Pate ein kleines, kuhäugiges Mädchen verwöhnen. Oder ist die Position schon vergeben?

Tanner ist froh, wieder in der warmen und freundlichen Küche bei unkomplizierten Menschen zu sein. Sie lachen herzlich.

Ruth fragt ihn, ob er hungrig sei, sie habe einen Rest Gemüsekuchen für ihn warm gestellt. Tanner könnte sie auf der Stelle küssen …

Sie hat sich in der Zwischenzeit umgezogen. Man muss zugeben, dass die schwarze Cordhose und das weiße Männerhemd ihr bedeutend besser stehen als der blaue Rock und der viel zu weite Pullover von heute Nachmittag. Ihre dichten, braunen Haare hat sie frech mit einem Kamm zur Seite gesteckt. Das Rot ihrer Lippen ist auch deutlich intensiver.

Was für eine Verwandlung …

Tanner nimmt dankend an und sie holt Teller und Besteck aus dem Schrank. Und? Für was haben Sie sich entschieden? Malaga oder Orangensaft?

Karl fragt das in die Stille der Küche. Alle drei lachen.

Tanner erzählt ihnen von Madame's wässrigem Geschäft und Honoré's Dicht- und Reimkunst. Diesmal lachen sie, bis die Tränen kommen, und reimen da weiter, wo Honoré aufgehört hatte …

Dann erzählt er ihnen von der gestrigen Begegnung am Friedhof und dass die Alte sich bei ihm bedanken wollte. Tanner sagt jetzt auch schon selbstverständlich die Alte.

Ob er denn sonst niemand gesehen habe, fragt Ruth und er antwortet wahrheitsgetreu mit Nein.

Ein zugesteckter Zettel ist ja noch kein Treffen …

Der Gemüsekuchen schmeckt ausgezeichnet. Ruth hat für den Kuchen den Rest von mittags geschickt verwertet. Das Gemüse hat sie mit einer Sauce aus Eiern, Sahne und Käse aufgefüllt und mit schwarzen Oliven bespickt. Mit Genuss nimmt Tanner den zarten Geschmack von Muskat und von trockenem Sherry wahr, mit dem sie die Füllung gewürzt hat. Und er würde seine Krawatte verwetten, die er schon auf dem Heimweg ausgezogen hatte, dass sie den Blätterteig selber gemacht hat. Mit ihren schönen Händen.

Wie sich ihre Haut wohl anfühlt?

Während er heißhungrig isst, meint Karl trocken, es sei auf jeden Fall besser, dass die einem etwas schuldig seien als umgekehrt.

Seinem Tonfall ist anzumerken, dass er aus schmerzvoller Erfahrung spricht.

Tanner hält es für ratsam, das Thema im Moment nicht zu vertiefen, und sagt leichthin, er hätte gesehen, dass sein Auto draußen immer noch alle viere von sich streckt. Der Garagist hätte wohl noch keine Zeit gehabt. Es sei aber egal.

Karl verdreht die Augen.

Auf den ist leider kein Verlass! Ich werde ihn Montag früh gleich nochmals anrufen und ihm Feuer unterm Hintern machen.

Sie können gerne unser Auto ausleihen, falls Sie morgen ein Auto brauchen, Simon. Das wäre kein Problem.

Karl nickt beipflichtend und Tanner bedankt sich artig, versichert ihnen aber, dass er morgen nicht wegfahren müsse. Morgen sei ja Sonntag.

So kann der Mensch sich irren …

Tanner ist mit dem Essen fertig. Karl erhebt sich.

Ich muss mich um die werdende Mutter kümmern. Wenn Sie mich begleiten, stelle ich Sie Laura als zukünftigen Paten ihrer Tochter vor.

Tanner blickt fragend zu Ruth. Sie antwortet sehr schnell. Ohne seinem Blick zu begegnen.

Gehen Sie nur mit, Simon. Ich wasche noch das Geschirr ab, dann gehe ich sowieso ins Bett. Ich lese gerade ein sehr spannendes Buch.

Bevor er antworten kann, nimmt Karl eine Flasche und zwei Gläser aus dem Schrank. Er hat das Gefühl, Karl möchte nicht, dass Ruth mit ihm weiter über den Besuch bei der Alten spricht. Er fügt sich in sein Schicksal, obwohl er nichts dagegen einzuwenden gehabt hätte, noch ein wenig mit Ruth über den Finidori Clan zu plaudern.

Auch hätte er gerne, quasi als Dessert, noch mal ihren Vanille- und Zitronenduft geschnuppert. Ohne sich die Hand zu reichen, verabschieden sie sich. Sie schaut ihn nur flüchtig an.

Draußen im Gang schubst der große Hund seine feuchte Nase in die Hand von Tanner. Er erschrickt zuerst, dann streichelt er ihn zwischen den Ohren.

Er mag Sie, Simon, meint Karl gut gelaunt.

Er heißt Sabatschka. Das ist russisch. Und heißt Hündchen. Meine Frau hatte damals einen russischen Film gesehen. Mit einem Hund, der so hieß. Ich habe den Film nicht gesehen.

Aber ich habe den Film gesehen, denkt sich Tanner. Sieh einer an.

Ruth schaut sich russische Filme an.

Als Ruth den Film gesehen hat, war der Hund noch ein winziger Wollknäuel. Jetzt ist er halt gewachsen, aber der Name ist ihm geblieben. Zum Glück weiß er nicht, was der Name bedeutet, sonst wäre er beleidigt, sagt Karl lachend und sie gehen gemeinsam aus dem Haus.

Sabatschka. Leise murmelt Tanner den Namen vor sich hin.

Draußen bläst der Wind. Die Brise hat wieder aufgefrischt. Im Stall brennt eine nackte Glühbirne. Tanner muss sich zuerst an den scharfen Geruch der Kühe gewöhnen. Zum Glück ist es herrlich warm. Ein Aufenthalt pro Tag im Kühlraum reicht ihm für einen gewöhnlichen Samstag. Viele große Augen schauen ihn an. Nur eine Kuh, ganz hinten im Stall, liegt abgewandt. Tanner vermutet, dass das die werdende Mutter ist. Sie hat andere Interessen,als die beiden Männer anzuglotzen.

Das dahinten sei seine Laura, bestätigt Karl in diesem Moment seine Vermutung. Die meisten Kühe stehen noch, nur Laura liegt im frischen Stroh. Alle kauen gleichgültig mit mahlenden Geräuschen vor sich hin.

Karl besitzt dreizehn schwarzweiße Kühe, mit schön geformten Hörnern. Jede Kuh hat in beiden Ohren gelbe Plastikmarken mit einem Code drauf.

Eine Kuh ohne Hörner ist für mich keine Kuh. Ich bin da altmodisch. Bei mir im Stall hat sich noch keine Kuh verletzt. Voller Stolz redet Karl über seine Kühe.

 

Das ist doch, äh … ja, wie wenn du einer Frau die Haare glatt abrasierst. Ihr ganzer Stolz ist hin. Jawohl. Setzen Sie sich, Simon, bitte.

So viele Worte auf einmal hat Tanner den ganzen Tag von Karl nicht gehört.

Der Stall öffnet sich hinten nach links in einen kleinen Nebenstall, in dem Strohballen bis unter die Holzdecke gestapelt sind und wo, in seinem rückwärtigen Teil, abgetrennt durch ein abgeschabtes Holzgitter, zwei kleine Kälber breitbeinig dastehen und die beiden Männer neugierig beäugen.

Karl wirft drei Strohballen geschickt zu einer kleinen, improvisierten Sitzgruppe zusammen, legt auf den mittleren Ballen ein kleines Brett, worauf er Flasche und Gläser stellt. Er wiederholt noch einmal seine Aufforderung und sie setzen sich.

Vor den Ballenstapeln steht ein zusammenklappbares Bett, mit einem weißen Kissen und einer Wolldecke. Karl bemerkt Tanners Blick.

Ja, ja, vielleicht muss ich heute im Stall übernachten. Es ist ihr erstes Kalb.

Es ist sehr still im Stall. Manchmal hört man das Stroh rascheln.

Dann und wann reibt eine Kuh ihren Kopf an einem Balken. Und das gleichmäßige Geräusch des Wiederkäuens.

Tanner hat das Gefühl, er sitze mitten in einem warmen Bauch.

Lauter Verdauungsgeräusche.

Meistens träume ich hier ganz besondere Träume!

Das Wort besondere dehnt Karl genüsslich und lachend schenkt er ein. Sie prosten sich zu, auch in Richtung Laura.

Auf eine glückliche Niederkunft und auf dass wir heute Nacht ganz besondere Träume haben!

Irgendeiner der gelangweilten Götter muss Tanner in diesem Moment ausnahmsweise zugehört haben …

Der selbst gebrannte Apfelschnaps rinnt warm durch die Kehle. Karl schenkt nach und schweigend trinken sie, beobachtet von den Kühen.

Wenn es dir recht ist, sagen wir uns du! Was meinst du, Simon? Tanner ist einverstanden und zum dritten Mal schenkt Karl ein. Lange spricht keiner. Der Schnaps und die Wärme im Stall machen Tanner ganz schläfrig. Karl stiert in sein Glas.

Du, äh … Simon. Ich wollte vorhin nicht länger über deinen Besuch auf dem Mondhof sprechen!

Pause. Trinken.

Ruth regt sich dabei immer fürchterlich auf!

Interessant, denkt Tanner einmal mehr. Hat nicht Ruth dasselbe über ihren Mann gesagt?

Du warst mit Raoul befreundet, oder?

Aha, dann hat dir Ruth also doch schon erzählt, stellt Karl fest und trinkt mit einem schweren Seufzer sein Glas leer.

Tanner behält sein Glas in der Hand. Karl würde es sofort wieder nachfüllen und er will einen klaren Kopf behalten.

Ja, Raoul und ich waren befreundet. Er war eigentlich kein Bauer. Vom äh … Typ her. Verstehst du, Simon.

Tanner nickt. Und wartet. Karl will erzählen, kommt aber nicht so richtig in Fahrt. Oder fehlen ihm die Worte?

Damals war ja Auguste in Afrika und es blieb ihm nichts anderes übrig. Der große Hof und so weiter.

Karl schenkt sich wieder ein.

Er hat Orgel gespielt in der Kirche. Medizin hat er zu studieren angefangen. Dann hat ihn die Alte zurück auf den Hof gezwungen. Er war ein Träumer und nicht geschaffen …

Karl setzt den Satz gestisch fort. Zeigt auf die Kühe. Meint den ganzen Hof und die harte Arbeit.

Karl beißt sich zwischen den Sätzen immer wieder auf die Zunge. Jetzt räuspert er sich. Gibt sich einen Ruck.

Als sein Bruder zurückkehrte, was alle überrascht hat, fingen die Probleme erst an. Die beiden Brüder haben sich äh … sofort zerstritten und Raoul wurde hm … niedergeschlagen. Also, äh … seelisch. Er war in ärztlicher Behandlung. Ruth und ich haben ihm damals geholfen, wo es ging. Er war natürlich oft hier und am Anfang hat er noch viel erzählt von seinen Problemen mit Auguste. Aber mit der Zeit wurde er immer schweigsamer.

Karl hat unterdessen sein Glas auf das Brett gestellt. Er spaltet jetzt Strohhalme. Offensichtlich hilft es ihm, sich zu konzentrieren.

Er kam zwar immer noch zu uns zum Essen. Oder auf ein Glas Wein. Hat aber oft kein einziges Wort gesprochen und ging wieder nach ein, zwei Stunden. Regelrecht unheimlich ist sein Schweigen gewesen!

Ist es die Wärme und Stille des Stalles oder der Schnaps, der ihm jetzt immer mehr die Zunge löste? Tanner nickt nur und wartet, bis Karl weitererzählt.

Als dann seine Frau Selbstmord begangen hat, hörten seine Besuche bei uns auf. Wir haben ihn zum letzten Mal an dem Grab gesehen. Wir haben ihn besuchen wollen oder haben telefoniert. Aber immer hieß es, er wolle niemanden sehen und er sei krank. Er war zu der Zeit auch öfters auf Reisen. Hieß es. Manchmal war er drei Wochen lang weg.

Karl zuckt mit der Achsel, schenkt sich ein und trinkt.

Die Tochter war damals gerade zehn Jahre alt. Das Mädchen war oft hier. Bei Ruth. Wir haben sie sehr gerne.

Karl hält inne, als ob er in der Ferne etwas hören würde. Eine Kuh hustet heiser.

Eines Tages kommt Auguste hier vorbei und teilt uns mit, dass sein Bruder über Nacht den Hof verlassen habe. Seine Tochter habe er zurückgelassen und ziemlich viel Geld sei auch verschwunden. Raoul war regelrecht wie vom Erdboden verschwunden und niemand wusste, wo er hingegangen sein könnte.

An dieser Stelle zögert Karl.

Die äh … Polizei vermutete damals, dass er vielleicht auch Selbstmord begangen haben könnte, wie seine Frau, denn es war ja allerorts bekannt. Das mit seiner Niedergeschlagenheit.

Jetzt blickt Karl Tanner direkt in die Augen.

Wir kannten Raoul besser. Das alles passte überhaupt nicht zu ihm.

Karl schweigt und starrt in sein leeres Glas.

Vor allem, dass er Rosalind einfach so zurückgelassen hatte, das konnte einfach nicht sein. Das war unbegreiflich. Ruth und ich haben damals keine Nacht mehr geschlafen.

Karl wischt sich irgendwas aus den Augen und stellt das Glas auf das Brett zurück.

Tanner möchte seine Hand auf Karls Arm legen, tut es dann aber doch nicht. Sagt auch nichts und denkt nur an das weinende Mädchen, das er gestern kurz gesehen hat. Und an die Musik, die er heute gehört hat.

Das Medaillon! Er hat immer noch nicht das Medaillon geöffnet, fällt Tanner jetzt ein.

Karl spricht weiter. Aber er hat sich noch nicht wieder gefangen. Die Polizei suchte die ganze Umgebung ab, hat aber keine Spur gefunden. Es war unbegreiflich, aber niemand hatte ihn gesehen! Karl schnäuzt sich.

Drei Wochen später taucht plötzlich ein Brief auf. Aus Australien. Raoul schreibt darin, dass er es nicht mehr ausgehalten habe und dass seine einzige Chance zum Überleben sei, ein vollständig neues Leben anzufangen.

Karl schließt die Augen und es ist offensichtlich, dass er den Brieftext auswendig kann. Zwischen den Sätzen atmet Karl schwer.

Weit weg von allem und weit weg von allen. Auch von seinem Kind. Er bitte alle um Verzeihung. Verständnis könne er keines erwarten. Er müsse sein ganzes bisheriges Leben aus seinem Herzen und aus seinem Körper reißen und er bitte alle, die ihn kennen, ihn zu vergessen. Punkt! Das war's!

Karl öffnet wieder die Augen.

Der Brief wurde nicht, äh … wie sagt man? Angezweifelt. Die haben die Schrift geprüft. Irgendwie.

Und jetzt lacht Karl. Aber es ist kein heiteres Lachen.

Auguste verzichtete großzügig auf eine Anklage wegen des Geldes. Ja, ja! Und der Einfluss der Familie in dieser Gegend war groß genug, so dass keine weiteren Fragen gestellt wurden. Das Kind war ja gut versorgt bei der Familie von Auguste und der Alten. Zumindest materiell. So! Das war's. Aus! Aus die Maus!

Ein letztes gequältes Lachen von Karl beendete seinen Bericht.

Tanner holt das Medaillon aus seiner Jackentasche und hält es Karl unter die Nase.

Woher hast du das?

Hastig greift Karl nach der Kette.

Die Kette gehört doch Rosalind. Nach dem Tod von Lilly hat Rosalind das Medaillon bekommen.

Deswegen ein anderer eingravierter Buchstabe als auf der Reitgerte.

Tanner gesteht ihm, dass er vorhin in der Küche nicht alles erzählt habe und dass er die Reitpeitsche und das Medaillon neben dem Friedhof gefunden habe.

Karl versucht das Medaillon zu öffnen, aber es gelingt ihm auch nicht. Er holt aus seiner Tasche ein Klappmesser und vorsichtig setzt er die Spitze an. Mit einem leisen Klick springt das Medaillon auf. Ein winziges, zusammengefaltetes Stück Papier fällt aus dem Medaillon. Tanner hebt es vom Boden auf.

Schau, Simon, das sind Lilly und Raoul.

Man sieht zwei blass gewordene Minifotografien. Tanner steht auf und geht in die Nähe der Glühbirne. Zwei schmale, ebenmäßige Gesichter blicken ihn sehr ernst an.

Die sehen ja aus wie Zwillinge, sagt Tanner überrascht.

Das stimmt. Karl lächelt, er ist ihm zum Licht gefolgt.

Manchmal haben sie sich einen Spaß draus gemacht, sich als Bruder und Schwester ausgegeben. Und es hat immer funktioniert.

Raoul sieht auf dem Foto tatsächlich aus wie ein russischer Intellektueller. Und sie könnte ohne weiteres beim Bolschoi-Ballett engagiert gewesen sein.

Weißt du, wie sie sich kennen gelernt haben? Sie gingen beide in das gleiche Gymnasium in der Hauptstadt. Zwar nicht in die gleiche Klasse, aber sie haben beide in der Theatergruppe der Schule mitgemacht und haben in einem Stück von, äh …

… von Shakespeare gespielt, und zwar: Wie es Euch gefällt, oder? Wieso weißt du das? Karl ist verdutzt.

Ich vermute es nur. Wegen dem Namen, den sie ihrer Tochter gegeben haben, antwortet Tanner.

Genau! Lilly hat die Rosalind gespielt und Raoul …

… den Jaques, ergänzt Tanner vorlaut. Karl nickt anerkennend.

Es ist mein Lieblingsstück von meinem Lieblingsautor, gesteht Tanner. Ich habe früher auch leidenschaftlich gerne Theater gespielt!

Karl habe nur dieses Stück gesehen, sonst kenne er leider nichts von diesem Dichter. Er sei damals bei der Première gewesen. Ein großer Erfolg für die beiden. Sie hätten später noch oft davon gesprochen.

Tanner gibt Karl das Medaillon zurück und entfaltet den kleinen Fetzen Papier, der vorher aus dem Medaillon gefallen war.

Darauf ist eine Briefmarke und noch schwach erkennbar ein Teil eines Poststempels. Die Briefmarke ist offensichtlich von einem Briefumschlag abgerissen worden.

Tanner hält die Briefmarke noch einmal unter das Licht und erkennt auf der blassbläulichen Briefmarke ein Muster mit merkwürdigen Zeichen.

Ich wette, dass das eine australische Briefmarke ist. Ich glaube, dass diese Zeichen aus der Bildwelt der Aborigines stammen, Karl! Verstehst du! Die Ureinwohner Australiens.

Er gibt das Papier Karl, der damit ganz nahe an das Licht geht.

Wenn du Recht hast, Simon, stammt diese Briefmarke von dem Brief, den Raoul damals geschickt hat. Warum sonst trägt das Kind so einen Fetzen Papier im Medaillon, zwischen den Fotos seiner verstorbenen Mutter und seines verschollenen Vaters?

Ich werde Rosalind einfach danach fragen, wenn ich sie morgen sehe!

Du siehst sie morgen? Karl ruft es ganz erstaunt.

Jetzt erzählt Tanner ihm in Gottes Namen den Rest seiner Geschichte und entschuldigt sich bei ihm, dass er ihm das nicht gleich gesagt hat.

Aber schließlich hätte er bis gerade eben keine Zusammenhänge gewusst.

Karl versteht, macht aber ein sorgenvolles Gesicht.

Versprichst du mir, dass das vorläufig unter uns bleibt?

Tanner nickt und jetzt wird Karl ganz ernst.

Schwöre bei dem Leben, das heute Nacht in diesem Stall auf die Welt kommt, dass das unter uns beiden bleibt. Ruth hat unter dieser Sache lange genug gelitten.

Tanner schwört es selbstverständlich auf der Stelle und steckt das Papier in das Medaillon, bevor er es wieder verschließt.

Laura, die werdende Mutter, rührt sich. Karl geht zu ihr. Spricht zärtlich einige beruhigende Worte und streicht mit seinen Händen über ihren dicken Bauch. Laura beruhigt sich sofort unter seiner Berührung.

Seine rauen Hände … ganz sanft.

Jetzt trinken wir noch ein Glas, dann gehst du am besten ins Bett und ich lege mich hier auf mein schmales Lager und warte, bis es Madame gefällt, endlich niederzukommen.

Karl hat wieder zu seinem Humor zurückgefunden. Er wünscht Tanner eine gute Nacht. Tanner ihm und seiner Laura eine gute Geburt und verlässt den Stall.

Draußen ist es jetzt empfindlich kalt. Der Himmel ist voller Sterne. Tanner glaubt einen schnell vorüberziehenden Satelliten zu sehen.

Gute Reise, sagt er leise in seine Richtung und schon ist er wieder verschwunden.

 

Vielleicht war es auch nur ein hoch fliegendes Flugzeug, das ans andere Ende der Welt fliegt. Vielleicht nach Australien.

Tanner schaut zu Boden und erinnert sich an den Plan, vielmehr an die leidenschaftliche Idee aus seiner Kindheit, ein Loch durch die Erde zu bohren, um den Kängurus guten Tag sagen zu können.

Er verschiebt einmal mehr die Ausführung dieses Plans und geht die Außentreppe zu seinem Zimmer hoch.

Er hat nicht erwartet, dass noch Licht in der Küche brennt, aber enttäuscht ist er trotzdem. Auch Rosalind wartet nicht auf ihn. Wahrscheinlich hat sie Besseres zu tun, als einem allein stehenden Zimmerherr ein vielstrophiges Schlaflied zu singen.

Auf dem Display seines Telefons, das er heute Nachmittag in seinem Zimmer vergessen hat, ist eine Kurznachricht angezeigt. Er ruft die Combox an und freut sich, von ihr zu hören.

Wenigstens haben mich noch nicht alle Frauen vergessen, stöhnt er selbstironisch in Richtung von Leonor Finis Mädchenporträt, das auf dem Tisch liegt.

Hallo! Hallo, mein liiiiiiieber Tanner. Wenn sie gut gelaunt ist, nennt sie ihn Tanner, und wenn sie etwas von ihm will, wird das i in lieber auf mindestens sieben i ausgedehnt. Also Vorsicht, Tanner!

Bist du gut angekommen in deiner neuen Bleibe? Sind die Leute nett? Aber das kannst du mir ja morgen erzählen. Stell dir vor, wir fliegen morgen ganz früh mit der Compagnie von Stuttgart weg und haben eine Zwischenlandung in der Weltstadt, mit ungefähr einer Stunde Aufenthalt. Und es wäre sehr liiiiiiieb, wenn wir uns da treffen könnten. Das ist ja nicht weit weg von dir, und mit deinem schnellen Ford. Also, ich freue mich auf morgen. Ankomme zehnuhrsieben in. Jetzt geht Entchen schlafen … quak … quak … gähn … Entchen mut früh aufstehen morgen … quak … quak.

Tanner setzt sich aufs Bett und drückt die Wiederholungstaste. Dann beginnt Tanner nachzurechnen.

Ungefähr zwei Stunden bis Zürich! Und das nennt sie nicht weit! Denn er kennt Karls Auto nicht, dann noch den ewig verstopften Weg von Zürich zum Flughafen. Also: Um sieben Uhr aufstehen und gleich wegfahren. Und vor allem: Keine himmlisch duftende Röschti um acht Uhr! Vielleicht gibt's am Sonntag keine. Dafür frischen nach Hefe duftenden Zopf …

Aber da gibt es sowieso kein Abwägen von irgendwas.

Der Tanner fährt und der Tanner freut sich auch noch. Also ruft er am besten den telefonischen Weckdienst an und bestellt ein freundliches Wecken um sieben Uhr in der Frühe. Brav, Tanner, brav!

Er zieht sich aus, duscht ausgiebig und geht bewaffnet mit Medaillon, Messer und einer Lupe ins Bett. Da ist es allerdings zu dunkel und er muss sich direkt unter die Zimmerlampe stellen.

Mithilfe der Lupe erkennt man ganz deutlich die Jahreszahl des Poststempels.

Der Rest ist praktisch bis zur Unleserlichkeit verblasst. Er glaubt vor der Jahreszahl noch eine Fünf zu erkennen. Es könnte auch eine Sieben sein. Unter den Zahlen sind gewellte Linien. Wie abstrakte Meereswellen. Und der Teil eines Wortes, so etwas wie ace …. ace?

Welches Wort könnte das sein? Vielleicht Peace? Grace?

Da ihm im Moment nichts einfällt, legt er alles beiseite, löscht das Licht und versucht zu schlafen! Das heißt, er versucht dieser Glühbirnenfabrik in seinem Schädel den Strom abzudrehen.

Genau in dem Moment, als es ihm gelingt, die letzte Lichtquelle in der Fabrik zu löschen, geht leise die Tür auf und Honoré la boule macht einmal mehr sein Pst und will ihn wahrscheinlich an seiner kleinen Hand ins Land der Alpträume entführen.

Bitte, Zwerg, lass mich schlafen, ich muss morgen früh in die weite Welt!

Tanner seufzt und dreht sich auf die Seite.

Er hört ein leises Rascheln, wie Seide. Sein Herz macht einen Riesensprung.

Ein Etwas hebt die Decke. Ein glühend heißer Körper drängt sich ganz eng an ihn.

Pst! Simon! Ich bin es, Ruth!

Ihre Hand fährt sanft über sein Gesicht. Sie sind beide stumm.

Die Heftigkeit der Spannung, die wie aus dem Nichts in das kleine Zimmer eingebrochen ist, lässt ihre Herzen, wie toll geworden, tanzen.

Finger ertasten seine Lippen. Begehren Einlass. Sein Mund öffnet sich.

Wer gab ihm den Befehl?

Er beißt in ihren Finger! Er riecht Vanille und Zitrone. Er spürt, wie ihre Brustwarzen an seinem Rücken hart werden. Ihre Beine umklammern seine Beine.

Rasieren Bäuerinnen ihre Beine?

Seine Zähne entlassen ihren Finger und ihre Hand streicht über seinen Hals … über seine Brust … seinen Bauch. Sie greift zielstrebig zwischen seine Beine. Nach dem zu lange nicht mehr Berührten. Sie hält ihn fest, als würde sie ihn nie wieder loslassen.

Wenn du ihn noch länger hältst, spritze ich!

Als ob er es laut gesagt hätte, lässt sie ihn los. Er bereut sofort.

Sie streichelt seine Eier. Noch schlimmer.

Er spürt ihren Mund an seinem Hals.

Und was ist mit Karl? Sein letzter klarer Gedanke.

Dann dreht er sich zu ihr. Tief seufzend.

Er greift nach ihren Brüsten. Reibt ihre Brustspitzen zwischen seinen Fingern. Zieht sie und drückt sie zwischen seinen Fingerkuppen. Dann nimmt er sie in seinen Mund. Eine nach der anderen. Und dann wieder die andere.

Er küsst sie, bis sie wieder weich sind und Ruth aus ihrem tiefsten Innen keucht. Ihre Münder finden sich. Dann finden sich auch die Zungen.

Sie legt seine Hand zwischen ihre Beine. Er überlässt sich ganz ihrer Führung. Doch sie erlaubt seiner zitternden Hand nur kurz, die pochende Hitze zu liebkosen. Ihr Pelz wie nasses Seegras. Dann schiebt sie sich drängend unter ihn. Spreizt ihre Beine. Ihre starken Hände greifen sich fordernd seinen Hintern. Er gleitet langsam in sie hinein. Sie dringt mit ihrem Finger tief in seinen Arsch und etwas lang Verschlossenes holt Anlauf.

Er spritzt. Spritzt und stößt ganz in sie hinein.

Sie bäumt sich auf und ihre Nägel pflügen seinen Rücken. Als wär's ein Acker.

Sie schreien stumm ihre Leben in den anderen Körper hinein und sie kommt wieder und es hört nicht auf.

Wir haben uns ja gar nicht bewegt!

Dann explodiert etwas in seinem Kopf. Oder ist es in seiner Brust?

Er stammelt Sabatschka und wieder Sabatschka, und noch einmal Sabatschka!

Bis sie ruhig werden und er weint. Oder weint sie?

Und noch immer sieht er sie nicht!

Er hält ihre Brüste mit beiden Händen fest, als würden sie ihn ab jetzt vor der Welt retten.

Er spürt ihr pochendes Herz. Oder ist es seins?

Sie streichelt seinen wunden Rücken und flüstert ganz leise, ganz schnell in sein Ohr.

Ich liebe meinen Mann, aber es musste sein! Ich weiß nicht, wieso. Ich konnte mich nicht wehren. Bitte verzeih mir!

Was soll ich denn um Himmels willen verzeihen?

Bitte, sei mir nicht böse, du hast mich gezogen, du Böser, du Lieber, du Fremder … wieso bist du gekommen … es wird nie wieder vorkommen.

Der Rest geht unter in ihrem Keuchen.

Sie löst sich von ihm und nimmt seinen Schwanz in den Mund. Eigentlich will er sagen, dass sie ein wenig warten soll.

Sie saugt und saugt …

Den Samen aus seinen Lenden, aus seinem Bauch, in ihren Mund.

Er will schreien.

Noch immer hält er ihre Brüste in seinen Händen. Er wiegt zwei nasse, schwere Vögel jetzt, zitternd.

Er sucht mit seinen Händen ihr weit geöffnetes Geschlecht.

Diesmal erlaubt Ruth die Berührung lange.

Und wieder suchen sich ihre Zungen.

Und wieder verschließt sieier ihm/ihr den Mund/Mund und es ist nur noch ein Atem. Eine Ewigkeit.

Nach tausendundeinem Augenblick hört es auf. Ganz langsam. Ganz sanft.

Sie steht auf und jetzt sieht er im Licht der Nacht ihren weißen, herrlichen Leib. Stumm steht sie so.

Und lange steht sie so. Dann macht sie ein letztes Mal ein stilles Pst.

Sie geht langsam in die Knie.

Sie nimmt ihr Hemd vom Boden.

Sie steht langsam auf.

Ihre Brüste wiegen sanft … ab und auf … auf und ab …

Bleib bei mir!

Sie geht nackt aus dem Zimmer. Lautlos.

Draußen auf dem Hof schreit Karl betrunken in die Stille der Nacht.

Es ist ein Mädchen. Ein Mädchen!

Tanner schließt seine Augen.

Kurz bevor er in einen fensterlosen, tiefen Raum fällt, hört er die Falsettstimme von Honoré.