Der Salamander

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Aus der Reihe: Simon Tanner ermittelt #4
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Der Salamander
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Urs Schaub, geboren 1951, arbeitete lange als Schauspielregisseur und war Schauspieldirektor in Darmstadt und Bern. Als Dozent arbeitete er an Theaterhochschulen in Zürich, Berlin und Salzburg. 2003–2008 leitete er das Theater- und Musikhaus Kaserne in Basel, 2006–2010 war er Kritiker im «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens. Nach «Tanner», «Das Gesetz des Wassers» und «Wintertauber Tod» ist «Der Salamander» der vierte Kriminalroman mit dem Ermittler Simon Tanner. Urs Schaub lebt in Basel.

URS SCHAUB

DER SALAMANDER

Ein Tanner-Kriminalroman


PROLOG

Der Zug bremste scharf und ohne Vorwarnung, die Räder kreischten, dann stand der Zug bockstill. Tanner fiel das schwere Buch, das er gerade zu lesen begonnen hatte, aus der Hand.

Schnell hob er es auf, wischte die beschlagene Fensterscheibe frei und bemerkte überrascht, dass er bereits am Ziel war. Im ersten Moment hatte er an eine Notbremsung gedacht, aber er erkannte durch den Nebel den trostlosen Bahnhof mit der merkwürdigen Buchstabenfolge im Ortsnamen.

Drei aufeinander folgende Vokale in einem Wort waren ungewöhnlich. Allerdings sprach man sie heutzutage wie einen einzigen aus. Früher war das anders. Und so klang der Name des Dorfes heute wie «fou», verrückt, geistesgestört, auch wenn er ursprünglich etwas ganz anderes meinte. Die eigentliche Bedeutung des Dorfnamens – im Wappen war dies erkennbar – bezeichnete das einzige Auge in der Vogelwelt, das nicht sehen konnte. Eine Art natürliches trompe-l’oeil.

Da Tanner außer seinem dunklen Wollmantel nur das Buch und eine Ledertasche bei sich hatte, war er blitzschnell an der Tür, öffnete sie und verließ stolpernd den Zug, der sich sofort wieder in Bewegung setzte. Das Buch fiel ihm dabei noch einmal aus der Hand, diesmal in eine tiefe Wasserpfütze. Es hatte sich geöffnet und lag mit den Schriftseiten nach unten komplett unter Wasser.

Idiot!

Tanner murmelte es wütend vor sich hin, ohne die Ironie zu bemerken, denn der Titel des Buches hieß ebenso und schimmerte in Goldprägung durch das trübe Wasser der Pfütze.

Das tropfende Buch in der Hand, eilte er unter das Vordach des kleinen Bahnhofs, ließ Mantel und Tasche auf die abgewetzte Wartebank fallen. Dem Ledereinband konnte das Wasser nicht viel anhaben, aber die Papierseiten begannen sich sofort zu wellen und klebten aneinander fest. Eine Dünndruckausgabe.

Tanner stöhnte.

Ausgerechnet das Buch, das sie ihm in letzter Minute zum Abschied in die Hand gedrückt hatte. Er hatte es praktisch die ganze Reise über in seinen Händen gehalten, ohne es aufzuschlagen. Die meiste Zeit hatte er gedöst oder vor sich hingeträumt, manchmal mit geschlossenen, häufig mit offenen Augen. Immerhin hatte er ziemlich genau vierundzwanzig Stunden in Zügen verbracht. Die verschiedenen Landschaften und Städte waren an ihm vorbei geflogen, ohne dass er besonders Notiz von ihnen genommen hätte. Er fühlte sich eher von etwas Unbenennbarem durchdrungen und seelisch sonderbar aufgeweicht durch die unzähligen Eindrücke, die er mehr unbewusst in sich aufgenommen hatte.

Er musste über das Wort aufgeweicht lächeln.

Das Buch in seinen Händen war es auf jeden Fall.

Erst nachdem er im Bezirksstädtchen mit der Ringmauer ein letztes Mal umgestiegen war, beschloss er, das Buch aufzuschlagen. Er schaffte gerade mal den ersten Satz, denn einerseits war die Distanz zwischen dem Bezirksstädtchen und dem Dorf, in dem er seit einiger Zeit wohnte, ziemlich kurz, und andererseits hatte er zuerst versucht, die Widmung zu entziffern, die ihr Vater für sie geschrieben hatte. Er hatte es nicht geschafft, er war sich nicht einmal sicher, in welcher Sprache die Widmung geschrieben war. Das Problem hatte sich nun sozusagen von selbst gelöst, sogar wahrhaft aufgelöst, denn durch das Bad in der Pfütze hatte sich die handschriftliche Widmung in eine türkise Tintenwolke verwandelt, die an einen Salamander erinnerte. An einen, der allerdings nur drei Beine hat.

Fröstelnd bemerkte er jetzt, wie kalt und feucht es war, und er zog den Mantel über.

Gegen die dicken Nebelschwaden hatte das Tageslicht große Mühe, sich durchzusetzen, obwohl es bereits mehr als neun Uhr war. Trotzdem beschloss er, noch einen Augenblick sitzen zu bleiben.

Er blinzelte durch das gelbe Licht des trüben Novembertages und versuchte, die dichten Nebelschwaden zu durchdringen, denn normalerweise waren von dieser Bank aus immerhin ein kleiner Ausschnitt des Sees und gleich dahinter sein geliebter sanfter Hügel, in noch weiterer Ferne die schneebedeckten Jurahöhen in Richtung Frankreich zu sehen. Davon existierte heute rein gar nichts, die ganze Welt schien wie von einem überdimensionierten Gummi ausradiert, der nichts als schmutziges Papier zurückgelassen hatte.

Dafür bemerkte Tanner jetzt, dass er offenbar nicht als einziger ausgestiegen war. Vielmehr tauchte aus dem Nebel eine Erscheinung auf, eine Gestalt, die leicht zu schwanken schien und sich mit langsamen, unsicheren Schritten näherte. Je näher sie kam, desto mehr Kontur gewann sie.

Es handelte sich um einen jungen Mann, der bloß einen dünnen dunkelgrauen Anzug trug, der ihm eindeutig zu weit war, dafür aber – wie zum Ausgleich – die Hosenbeine zu kurz. Er trug weder Schal noch Mantel, und seine schwarzen Halbschuhe schienen auch für wärmere Zeiten gedacht. Seine beiden Arme umklammerten vor der Brust einen kleinen Koffer, wie er schon lange nicht mehr in Mode war. Der junge Mann trug den Koffer so, als sei entweder der Inhalt des Koffers sehr wertvoll oder als solle er seine schmale Gestalt vor der feuchten Kälte schützen.

Tanner schätzte sein Alter auf etwa siebenundzwanzig, höchstens dreißig Jahre. Er war von mittlerer Größe, mit sehr hellem, dichtem Haar, eigenartig hohlen Wangen, unrasiert, was aber bei dem hellblonden Haar optisch kaum ins Gewicht fiel, außer dass sein Gesicht an möglicher Schärfe verlor und dadurch etwas Flüchtiges, etwas Ungefähres bekam. Seine Augen waren groß und sehr dunkel, fast schwarz. In ihrem Blick lag etwas Stilles, aber Bedrücktes. Tanner musste unwillkürlich an eine gewisse Art von Radiomeldungen aus seiner Jugendzeit denken, wo es um gesuchte Menschen ging, die irgendwie verloren gegangen waren und wo der Meldung am Ende wie das Amen in der Kirche jeweils diese Aufforderung folgte: Es wird um schonendes Anhalten gebeten.

Der junge Mann hatte jetzt Tanner bemerkt, und nach einem Moment des Zögerns lächelte er und kam direkt auf ihn zu. Sein Gang war holprig und unregelmäßig, als drücke ihn ein spitzer Stein im Schuh.

Guten Tag, äh … Entschuldigung … wenn ich Sie einfach so, äh … anspreche, aber ich kenne mich hier nicht aus. Sind Sie, äh … von hier?

Er sprach stockend und langsam, als ob er schon lange nicht mehr gesprochen hätte. Als ob er die Sprache vorsichtig tastend wieder finden müsste. Vielleicht hatte er sich auch länger in einer anderen Sprache ausgedrückt. Ein leichter Akzent war zu hören, den Tanner aber nach den paar Worten nicht zu lokalisieren imstande war.

Ich wohne zumindest hier. Womit kann ich Ihnen helfen?

Sind Sie auch gerade, hm … also, ich meine, hm … mit dem Zug angekommen?

Ja. Gerade eben.

Er schüttelte sich leicht. Den Koffer umklammerte er immer noch vor seiner Brust.

Es ist, äh … sehr kalt … und …

Er zuckte mit den Schultern, blickte sich um und lächelte erneut.

Sind Sie etwa aus einem wärmeren Land angereist?

Tanner fragte freundlich ins Ungefähre. Schonendes Anhalten!

Ja, ja. Ich komme direkt aus dem, äh … dem Ausland. Und ich wollte Sie fragen, hm …

Ja?

Ob Sie mir eine, hm … eine Unterkunft empfehlen könnten?

Ja, sicher. Hier im Dorf gibt es sowieso nur zwei Möglichkeiten.

Tanner überlegte, was er empfehlen sollte, eher den «Hirschen» oder …?

Wissen Sie was? Gehen Sie ins Restaurant Bahnhof. Die haben auch Zimmer.

Tanner stand auf und zeigte den Gleisen entlang.

Das Haus kann man heute wegen des dichten Nebels nicht sehen, aber wenn sie zweihundert Meter in diese Richtung gehen, werden Sie das Restaurant sofort erblicken.

Der Mann nickte freudig und machte die Andeutung einer Verbeugung.

Danke vielmals für die Auskunft. Kommen Sie, äh … auch aus dem Ausland?

Ja, ich komme soeben aus dem Ausland, aber ich war ganz im Norden, da war es auch kalt. Und Sie? Aus welchem warmen Land kommen Sie?

Der Mann lächelte und machte noch einmal diese etwas altmodisch anmutende Andeutung einer Verbeugung, drehte sich um und ging in die Richtung, die Tanner ihm gezeigt hatte. Die Frage hatte er entweder nicht verstanden oder einfach überhört. Nach wenigen Schritten schluckte der Nebel seine schmale Gestalt.

Tanner zuckte mit Schultern.

Er nahm Buch und Tasche und ging in die andere Richtung, die Straße hinauf.

Oben im Dorf war der Nebel etwas weniger dicht, aber die Stimmung war genau so trostlos. Er sah kein einziges Lebewesen, weder Mensch noch Tier. Das Dorf lag wie ausgestorben. Bald erblickte er das mächtige Dach des Maison Blanche. Er beschleunigte seine Schritte. Jetzt freute er sich doch, nach Hause zu kommen.

Er öffnete das schwere Tor zur Einfahrt. Der Brunnen plätscherte wie eh und je.

Er blickte sich um.

Alles war genau so, wie er das Haus verlassen hatte. Kaum zu glauben, dass er so lange weg gewesen war. Die gleiche Jahreszeit. Derselbe Zustand der Vegetation. Die Bäume kahl. Der Himmel grau. Der See wahrscheinlich auch. Wie Blei. Zu sehen war er nicht. Alles lag still. Ohne das Geräusch des fließenden Wassers hätte man mit Fug und Recht von einer Totenstille sprechen können.

 

Wie aus Trotz näherte sich im nächsten Augenblick ein Traktor und fuhr mit knatterndem Motor vorbei. Ein Mann, den Hut tief ins Gesicht gezogen, saß zusammengekauert und offensichtlich frierend auf dem altertümlichen Gefährt. Der Klang verlor sich überraschend schnell in der Ferne.

Als es wieder ganz still war, ging Tanner zur Haustür. Seine Schuhe knirschten auf dem Kies. In seiner Wohnung angekommen, zog er die Schuhe aus, den Mantel nicht, legte sich im Wohnzimmer aufs Sofa und schlief sofort ein.

EINS

Als er wieder aufwachte, fror er, und draußen war es bereits stockdunkel. Er tappte durch die Wohnung, schaltete die Heizung ein (das hatte er heute Morgen vergessen) und ging mit Todesverachtung unter die kalte Dusche, denn das warme Wasser hing mit der Heizung zusammen. Immerhin war ihm danach nicht mehr kalt.

Nachdem er sich frische Kleider angezogen hatte, beschloss er, ins Restaurant zu gehen. Sein Kühlschrank war leer. Außerdem hatte er kein Brot im Haus, und ein Essen ohne Brot war kein Essen.

Erst als er bereits auf der Straße war, gestand er sich ein, dass ihn in Wahrheit einzig und allein die Neugier nach dem Verbleib des jungen Mannes trieb, dem er heute Morgen den Rat gegeben hatte, sich ein Zimmer im Bahnhofsrestaurant zu nehmen. Er lächelte zufrieden und schritt kräftig aus.

Diesmal war er nicht allein auf der Straße. Auf der Höhe von Friedhof und Kirche traf er sogar auf einige Grüppchen von Menschen, die offenbar alle der Kirche zustrebten. Er nickte höflich, obwohl er niemanden speziell kannte, oder wenn, dann nur vom Sehen. Aber schließlich herrschte hier auf dem Lande die schöne Sitte, sich zu grüßen, auch wenn man sich nicht kannte. Dann bemerkte er, dass auf dem ganzen Friedhof kleine Lichter brannten. Er begriff, dass heute Allerseelen war und dass die Leute ihrer Toten gedachten. Der Nebel verwandelte die Lichter in kleine Wölkchen, die in Bodennähe schwebten.

Er vergrub fröstelnd seine Hände noch tiefer in seinem Mantel.

Beim Bahnhof war der Nebel immer noch genauso dicht wie heute Morgen. Kein Wunder, denn die Bahngleise befanden sich praktisch auf Seeniveau.

Die paar schiefen Straßenlichter, drei erleuchtete Weichenlaternen und einige farbige Eisenbahnsignallampen verwandel ten die Trostlosigkeit des Bahnhofs in ein surreales Bühnenbild von bestechender Schönheit.

Tanner bestaunte eine Weile diese Komposition, dann betrat er das Restaurant.

Kam man von der Straßenseite her, betrat der Gast zuerst eine dunkle, meist vollgequalmte Schankstube mit einigen altmodischen Wirtshaustischen auf schweren Eisenfüßen, mit robusten Stühlen, auf denen es sich gut stundenlang verweilen ließ. Die Stammgäste waren meist Arbeiter aus dem kleinen Gewerbequartier, das sich direkt hinter dem Bahnhof wie eine Flechte willkürlich wuchernd ausgebreitet hatte, und natürlich saß hier zu jeder Tages- oder Abendzeit eine Auswahl der obligaten Gelegenheitssäufer, meist Pensionierte, die endlose Stunden vor ihrem Wein oder ihrem Kaffee mit Schnaps verbrachten.

Als Tanner eintrat, verstummte die Runde keineswegs, nur Bodmer, der Wirt, erhob sich sofort zur Begrüßung und wies ihm den Weg in den gepflegteren, helleren Teil des Restaurants, wo man üblicherweise aß. Überdurchschnittlich gut aß, denn Frau Bodmer war eine ausgezeichnete Köchin. Normalerweise war es in der Gegend umgekehrt: der Mann war der Chef in der Küche, und die Frau war für die Gaststube zuständig. Auch in dieser Hinsicht war dieses Restaurant eine Ausnahmeerscheinung. Im Sommer saß man draußen unter einem herrlich schattigen Birnenspalier. Um einen schöneren zu finden, müsste man weit in der Weltgeschichte herumreisen, pflegte Bodmer stolz zu sagen. Und er hatte recht.

In der Gaststube saßen bereits zwei Männer, jeder für sich an einem Tisch. Den einen erkannte er sofort an seinen dichten blonden Haaren, obwohl er mit dem Rücken zum Eingang saß. Es war der junge Mann, der ihn heute Morgen nach einer Unterkunft gefragt hatte. Den anderen – offenkundig ein Geschäftsmann auf Durchreise –, mit schmalem Gesicht und in einen tadellos sitzenden Anzug gekleidet, kannte er nicht. Der Geschäftsmann hatte wohl schon gegessen, denn er saß vor einem Kaffee und zündete sich gerade eine Zigarre an. Der junge Mann, der am Fenster saß, wartete auf sein Essen und kaute eifrig an einem Stück Brot, was es in diesem Restaurant für jeden Gast reichlich gab.

Bodmer führte Tanner zu einem Tisch in der Ecke. Er setzte sich so, dass er den jungen Mann im Blickfeld hatte und den genussvoll rauchenden Mann halb schräg in seinem Rücken. In diesem Moment bemerkte der junge Mann den neuen Gast, erkannte ihn, lächelte mit vollem Mund und hob seine Linke zum Gruß. Mit seiner Rechten hatte er sich gerade ein neues Stück Brot geangelt.

Tanner grüßte zurück. Bodmer hielt ihm unterdessen die umfangreiche, in Leder gebundene Karte hin. Tanner lehnte lächelnd ab.

Ich esse das, was auf den Tisch kommt. Richten Sie Ihrer Frau einen lieben Gruß aus. Sie können ja sagen, Tanner sei zurück, und er habe großen Hunger.

Bodmer lachte.

Wie groß?

Bärenmäßig. Ich habe praktisch zwei Tage lang nichts Anständiges gegessen.

Gut. Ich verstehe. Und zum Trinken?

Tanner gab seine Bestellung auf, und Bodmer verschwand in Richtung Küche.

Der Mann hinter ihm räusperte sich.

Ja, so was kann man hier machen. Ich meine, essen, was auf den Tisch kommt.

Er wiegte seinen Oberkörper nach vorn, lachte kurz auf und wurde von einem heftigen Hustenanfall gepackt. Die brennende Zigarre fiel ihm aus der Hand. Als er sich nach ihr bückte, entwickelte sich der Husten zu einem Erstickungsanfall. Der junge Mann sprang auf, hob die Zigarre vom Boden auf und legte sie in den Aschenbecher.

Der Hustende dankte gestikulierend und rettete sich, in dem er die halbe Karaffe Wasser austrank, die auf seinem Tisch stand.

Danke. Danke, junger Mann. Das war sehr aufmerksam. Oje, oje!

Er schnäuzte sich kräftig und wandte sich dann wieder Tanner zu.

Gestatten Sie, mein Name ist Stauber. René Stauber. Das nenne ich persönliche Kundenbindung. In der Stadt können Sie das ja vergessen. Da lob ich mir die Landbeiz.

Da haben Sie ganz Recht, Herr Stauber. Ich heiße Tanner.

Stauber erhob sich kurz.

Sehr angenehm, Herr Tanner.

Tanner wandte sich dem jungen Mann zu.

Ich hoffe, Sie sind zufrieden mit ihrer Unterkunft.

Ja, ja. Sehr. Ich bedanke mich noch einmal für, hm … die gute Auskunft.

Stauber stutzte.

Aha. Man kennt sich?

Tanner wandte sich um.

Wir sind uns bloß heute Morgen auf dem Bahnhof begegnet.

In diesem Augenblick trat Bodmer ein und brachte das Essen für den jungen Mann. Er hatte Rösti mit Bauernbratwurst und brauner Zwiebelsauce bestellt.

Der junge Mann packte sofort Gabel und Messer und stürzte sich heißhungrig auf sein Essen. Auch Tanner lief das Wasser im Mund zusammen.

Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit.

Danke sehr.

Der junge Mann lächelte zwar, aber seine dunklen Augen blieben ernst und bedrückt. Tanner überlegte, wie er mit ihm ins Gespräch kommen konnte.

Vorerst wollte er ihn aber in Ruhe essen lassen und schaute durch das Fenster in die dunkle Nacht. Der Nebel hatte sich offenbar etwas gelichtet, und man konnte immerhin bis zum Bahnhof sehen.

Der junge Mann räusperte sich, wischte sich den Mund ab und trank Wasser. Tanner blickte zu ihm hin. Dabei bemerkte er erst jetzt, dass er auch hier den etwas schäbigen Koffer mit dabei hatte, den er am Bahnhof mit seinen Armen so innig umklam mert hatte. Jetzt hielt er den Koffer unter dem Tisch zwischen seinen Beinen eingeklemmt.

War es eine Art zwanghafte Marotte (schonendes Anhalten …?) oder enthielt der Koffer tatsächlich etwas so Wertvolles, dass der junge Mann ihn keinen Augenblick allein lassen wollte? Nicht einmal in seinem Zimmer, das man abschließen konnte? Der Zimmerschlüssel lag sichtbar auf dem Tisch.

In diesem Augenblick erhob sich der Mann, der sich als René Stauber vorgestellt hatte, und ging in Richtung Toilette. Tanner guckte ihm nach, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Dann traf sich sein Blick mit demjenigen des jungen Mannes.

Haben Sie eine weite Reise hinter sich? Sie haben mir am Bahnhof angedeutet, dass Sie direkt aus dem Ausland angereist waren, wo es offenbar weniger kalt war als hier.

Ja, ja. Das stimmt.

Er trank einen Schluck aus seinem Wasserglas.

Ich komme, äh … direkt aus dem Süden, hm … Spanien. Da war es natürlich auch nicht, äh … Sommer, aber bedeutend wärmer als hier war es schon. Ja, äh … wärmer. Und äh …

Bodmer kam mit Wein und Wasser, einem dampfenden Teller und einem großen Korb Brot. Er balancierte lachend das schwere Tablett zu Tanners Tisch. Der junge Mann wandte seine Aufmerksamkeit sofort wieder seinem Teller zu.

So. Schöne Grüße von der Chefin. Zufällig gibt es heute gerade Linsensuppe, und damit sollen Sie herzlich begrüßt sein.

Er lachte spitzbübisch.

Sie wissen ja … der verlorene Sohn und so. Sie waren ja eine Ewigkeit nicht mehr hier.

Tanner bedankte sich und sog den köstlichen Duft der Suppe ein.

Oh, die riecht fantastisch. Sagen Sie Ihrer Frau vielen Dank für die kluge Wahl.

Tanner sah, dass der junge Mann mit seiner Portion eben fertig wurde – was erstaunlich war, denn die Portionen waren hier großzügig –, die Reste der Sauce mit einem Stück Brot auftunkte und geradezu sehnsüchtig in Richtung Tanners Linsensuppe blickte.

Äh … Bodmer. Bringen Sie doch dem jungen Herrn auch einen Teller von dieser köstlichen Suppe. Auf meine Rechnung, bitte. Und ein Glas vom selben Wein.

Der junge Mann blickte sofort verwirrt auf den Tisch. Tanner hob beruhigend seine Hand.

Nehmen Sie bitte meine Einladung an. Ich hatte eben den Eindruck, dass Sie vielleicht noch hungrig sind. Schließlich sind wir heute Morgen beide von einer weiten Reise zurückgekommen.

Der junge Mann stand auf und verbeugte sich leicht. Genauso hatte er es auch schon auf dem Bahnhof gemacht.

Vielen Dank für die freundliche Einladung. Die Suppe nehme ich gerne an. Vergelts Gott. Aber Wein trinke ich nicht. Vielen Dank trotzdem. Ich bleibe lieber bei Wasser.

Bodmer nickte und ging in die Küche.

Vergelts Gott?

Diesen Ausdruck hatte Tanner zuletzt von seiner Großmutter gehört. Und das war jetzt schon eine gute Weile her. Aus dem Mund eines jungen Mannes klang es doch ziemlich fremdartig.

Die Tür ging wieder auf, und Bodmer brachte die zweite Suppe. Bodmer und Tanner wünschten gleichzeitig guten Appetit, und der junge Mann bedankte sich noch einmal. Eine Weile durchbrachen nur die Löffel, die an den Rand des Tellers stießen, die Stille.

Jetzt kam Stauber zurück. Die Zigarre hatte er offenbar auf der Toilette zu Ende geraucht und auch dort entsorgt. Er rieb sich die Hände und rief Bodmer, der auch sofort den Kopf durch die Tür streckte.

So. Jetzt leiste ich mir einen guten Cognac. Irgendetwas muss man ja gegen dieses Sauwetter unternehmen.

Bodmer nickte und verschwand wieder.

Stauber packte noch stehend eine neue Zigarre aus, verzichtete aber darauf, sie anzuzünden, denn es war ihm offensichtlich ein missbilligender Blick Tanners aufgefallen. Er seufzte und ließ sich auf den Stuhl fallen.

Aha. Der junge Mann fängt noch einmal von vorne an.

Tanner drehte sich um.

Das ist sehr zuvorkommend, Herr Stauber, dass Sie mit der Zigarre warten, bis wir mit dem Essen fertig sind. Der Geruch passt nicht so gut zu dem ausgezeichneten Essen.

Ist schon gut. Ich werde sie später rauchen, wenn es den Herren genehm ist.

Vielen Dank.

Der junge Mann war mit der Suppe schneller zu Ende als Tanner.

Vielen Dank, äh … die Suppe war wirklich köstlich. Ich habe schon lange nicht mehr so gut, hm … gege … gegessen.

Dann ist es ja gut. Waren Sie denn lange in Spanien? Ich meine, in Spanien kann man doch auch sehr gut essen, oder?

Ja, selbstverständlich, äh … Sie haben vollkommen Recht, hm … aber Sie müssen wissen, dass ich dort fünf Jahre im, äh … Gefängnis, äh … war, ja … im Gefängnis.

 

Der junge Mann lächelte dabei freundlich, als er dies ganz offen und treuherzig erzählte.

Und wissen Sie, im Gefängnis war das Essen eher ein, äh … eine Art hm …, also auf jeden Fall nicht sehr gut, wie Sie sich vielleicht vorstellen können.

Tanner schenkte sich ein Glas Wein ein und gab sich Mühe, es sich nicht vorzustellen. Er hatte vor längerer Zeit Gefängnisse in Marokko gesehen und auch im Süden von Spanien. Das waren Paradiese für Kakerlaken, aber keine Orte für Menschen.

Dann sind Sie sicher froh, dass Sie das überstanden haben.

Ja, ja, sehr froh. Natürlich. Obwohl jede Erfahrung, ähm … auch etwas, äh … Gutes hat.

Hat man Sie also auch gut behandelt?

Der junge Mann lächelte scheu und blieb stumm, als ob er sich das für einen Moment überlegen müsste. Tanner schwieg und schaute kurz zu Stauber zurück, der interessiert dem Gespräch gefolgt war.

Nein, das kann man so nicht sagen.

Tanner blickte wieder zum jungen Mann, hatte ihn aber nicht verstanden.

Ja, äh … Sie haben mich doch gefragt, ob ich auch gut behandelt wurde. Und ich habe gesagt: Nein, das kann man so nicht sagen.

Jetzt meldete sich Stauber zu Wort.

Ja, das ist sicher hart, so ein Aufenthalt im Gefängnis.

Er schüttelte sich.

Ich mags mir gar nicht vorstellen.

Dann lehnte er sich behaglich zurück.

Gut, ich meine, Strafe muss ja sein. Heute wird ja Gott sei Dank nichts mehr abgehackt oder so. Sogar Schwerverbrecher werden doch fair behandelt. Ich hatte letzthin Gelegenheit, ein Gefängnis zu besuchen. Das hatte ja schon beinahe Hotelcharakter.

Er nickte anerkennend.

Betten mit Qualitätsmatratzen. Mit genau so vielen Fernsehprogrammen, wie wir zuhause auch haben. Also, da kann man sich wirklich nicht beklagen. Gut. Die müssen dann ein paar Stunden in der Schreinerei arbeiten oder so, aber das ist doch zumutbar, oder?

Er drehte nervös an seiner Zigarre.

Irgendwie muss man doch die Verantwortung übernehmen für das, was man gemacht hat. Man kann die Leute, die sich nicht an die Gesetze halten, nicht auch noch belohnen. Und wir haben ja doch eigentlich vernünftige Gesetze. Wir sind ja keine Barbaren.

Er wandte sich direkt an den jungen Mann.

Wenn Sie sich etwas eingebrockt haben, dann müssen Sie es in Gottes Namen auch wieder auslöffeln. Sie sind ja noch jung und können ab jetzt ein sauberes Leben führen.

Jetzt meldete sich der junge Mann schüchtern zu Wort.

Aber ich kann Ihnen versichern, dass, äh …, dass ich gar nichts, äh … also gar nichts gemacht habe.

Jetzt lächelte Stauber milde.

Ja, ja, das habe ich auch schon gehört. Alle sitzen unschuldig im Knast.

Er nickte, sprach mehr zu sich selber und verdrehte dabei die Augen.

Die Gesellschaft ist schuld. Meine Eltern sind schuld. Die Umstände sind schuld. Ich wurde im Kindergarten von den anderen Kindern ganz schlimm behandelt. Also ich – ich kann eigentlich gar nichts dafür.

Tanner wandte sich an Stauber. Langsam ging er ihm auf die Nerven.

Herr Stauber, Sie haben ja sicher recht, so im Allgemeinen. Aber jetzt ist gut. Der junge Mann hat freiwillig und sehr offen erzählt, dass er fünf Jahre lang in Spanien im Gefängnis gewesen ist und dass er unschuldig gesessen hat. Wir haben keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Abgesehen davon …

Jetzt stand der junge Mann auf.

Streiten Sie bitte nicht meinetwegen, meine Herren. Das bin ich ja gar nicht, äh … also, ich meine, das bin ich nicht wert.

Zu Tanner gewandt.

Und der Herr hat recht, alle, die ich im, äh … im Gefängnis angetroffen habe, sind, äh … unschuldig, und sie beteuern es unentwegt. Ständig. Keiner hat je zugegeben, äh …, also, das habe ich gemacht, ähm … also muss ich jetzt büssen.

Jetzt lachte Stauber, stand ebenfalls auf, wandte sich an Tanner und zeigte mit der Zigarre auf den jungen Mann, als wollte er ihn aufspießen.

Na, na, sehen Sie! Er gibt es ja selbst zu. Also nur keine Aufregung.

Er wandte sich an den jungen Mann.

Okay, Sie saßen fünf Jahre unschuldig in Spanien in einem Gefängnis. Ist gut. Ich habe es verstanden. Entschuldigen Sie meine Bemerkung. Trinken Sie also auf meine Rechnung einen Kaffee, bitte.

Er wandte sich an Bodmer, der gerade mit einem Tablett mit dampfendem Teller und Schüsseln hereinkam.

Bodmer! Bringen Sie bitte dem jungen Mann einen Kaffee und ein Glas Cognac auf meine Rechnung.

Bodmer nickte, aber der junge Mann hob flehend die Hände.

Den Kaffee nehme ich gerne, aber Alkohol trinke ich keinen, bitte. Vielen Dank für die Einladung.

Gut, Bodmer, dann einen Cognac für mich und einen Kaffee für den jungen Mann.

Bodmer nickte und servierte Tanner Schweinefilet mit Speck und gedörrten Zwetschgen. Als Beilage Kartoffelgratin und Rosenkohl. Alle setzten sich wieder, und man wünschte Tanner einen guten Appetit.

Er begann zu essen. Die anderen schwiegen. Zwischendurch kam Bodmer und brachte den beiden ihren Kaffee.

Das Essen war ausgezeichnet und nach dem sich die allgemeine Atmosphäre wieder entspannt hatte, konnte Tanner die köstlich zubereiteten Speisen auch richtig genießen.

Als er zu Ende war, sich den Mund wischte und aus der Karaffe den Rest seines Weins ins Glas goss, entzündete Stauber zeitgleich ein Streichholz. Er hatte offensichtlich auf diesen Moment gelauert, hielt aber noch einmal inne, bevor er die Zigarre anzündete.

Ich darf doch jetzt? Oder gibt es irgendwelche Einwände?

Tanner machte eine einladende Geste mit der Hand, und der junge Mann nickte eifrig.

Na, da habe ich aber noch einmal Glück gehabt.

Jetzt hielt er das brennende Streichholz an die Spitze der Zigarre und zog so heftig daran, dass man das Knistern des brennenden Tabaks hören konnte.

Dann kam Bodmer, erkundigte sich bei Tanner, ob es geschmeckt hatte, und brachte eine gebrannte Creme mit Schlagsahne zum Dessert. Tanner bestellte einen Kaffee dazu.

Der junge Mann nestelte in seiner Jacke, brachte ein schmales Wachsbüchlein zum Vorschein und begann darin zu blättern. Offensichtlich suchte er eine bestimmte Stelle, und als er sie gefunden hatte, legte er den Finger darauf und blickte in die Runde.

Darf ich Ihnen kurz etwas vorlesen? Ich habe im Gefängnis versucht, ähm … alles aufzuschreiben, was ich im Laufe meines Lebens an, äh … schönen Gedanken, äh … gehört oder gelesen hatte. Verstehen Sie, aus meinem Gedächtnis. Vielleicht habe ich mich nicht in jedem Fall an alle Wörter korrekt erinnern können, aber … ähm …

Er zuckte mit den Schultern. Tanner lächelte ihm zu.

Ja, sicher, sehr gerne. Wir sind gespannt.

Auch Stauber nickte und blickte den jungen Mann erwartungsvoll an.

Also, hören Sie.

Er nahm das Büchlein in beide Hände. Dann las er mit leiser Stimme.

Ich hatte einen Traum, und es war nicht nur ein Traum. Die helle Sonne war erloschen, und die Sterne zogen verglimmend im ewigen Raum dahin.

Er richtete sich auf und schaute zu den beiden anderen.

Wissen Sie, wer das geschrieben hat?

Tanner schüttelte den Kopf.

Nein, aber es ist schön. Schrecklich traurig zwar, aber schön. Eine Art Endzeitstimmung.

Stauber hatte sich verschluckt und hustete.

Byron hat das geschrieben. Anfang Neunzehntes Jahrhundert.

Stauber hatte sich wieder beruhigt.

Die Sonne ist verschwunden und die Sterne? Wo und wann soll denn das gewesen sein?

Er lachte.

Wir haben zum Glück bloß ein Sauwetter, das ist auch alles.

Er schüttelte den Kopf.

So ein Unsinn!

Der junge Mann hob beschwichtigend seine Hände.

Erlauben Sie mir zu sagen, dass es persönliche Katastrophen gibt und solche, die die ganze Menschheit betreffen. Byron beschrieb eine objektive Situation in der Welt.

Wann soll denn die Sonne erloschen sein? Vielleicht als Sie ganz und gar unschuldig im Gefängnis hockten und den Staat eine Stange Geld gekostet haben.

Der junge Mann blieb geduldig und antwortete mit leiser Stimme?

Sie haben ganz recht. Deswegen habe ich diesen Text auch in mein kleines Büchlein geschrieben, denn zeitweise fühlte ich mich genauso. Sie haben das ganz genau verstanden. Aber Byron, äh … hatte eine wirkliche, äh … Angst beschrieben.