Das Gesetz des Wassers

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Aus der Reihe: Simon Tanner ermittelt #2
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Das Gesetz des Wassers
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Aberwitzige Verbrechen in atemberaubender Landschaft – erneut lässt Urs Schaub den charismatischen Tanner auf Spurensuche gehen: Simon Tanner, der vor Jahren den Polizeidienst quittiert hat, stolpert unerwartet in einen komplizierten Mordfall. Ein Japaner stirbt in einem zwielichtigen Etablissement, seine Leiche verschwindet auf rätselhafte Weise. Eine zweite Leiche, eine junge Japanerin, wird nackt in einem Brunnen gefunden. Zeuge dieses Verbrechens ist ein Mann, der in einem dornigen Gebüsch lebt und den Untergang der Stadt prophezeit. Und ehe Tanner sich versieht, ist er in ein Netz von Geschäften und Verbrechen internationalen Ausmaßes verstrickt.


Urs Schaub, geboren 1951, arbeitete lange als Schauspiel-Regisseur und war Schauspiel-Direktor in Darmstadt und Bern. Als Dozent arbeitete er an Theaterhochschulen in Zürich, Berlin und Salzburg. 2003 bis 2008 leitete er das Theater- und Musikhaus Kaserne in Basel, 2006 bis 2010 war er Kritiker im «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens. «Das Gesetz des Wassers» ist der zweite von vier Kriminalromanen mit dem charismatischen Ermittler Simon Tanner. Urs Schaub lebt in Basel.

Foto Yvonne Böhler

PROLOG

Einem schlafenden Frauenkörper gleich scheidet der sanfteste aller Hügel mit seinen üppig bewachsenen Formen die Elemente. Nach oben die zitternde Luft des Himmels. Nach unten das schwer liegende Wasser. Spiegelglatte Fläche vor geformtem Grün. Im Norden des Sees gleißt ein beunruhigendes Blau. Im Südwesten nimmt das Wasser eine Türkisfarbe an, deren Intensität von Minute zu Minute wächst. Wo das Tiefblau auf das Türkisblau trifft, trennt eine weiße Linie die beiden Wasser, als ob jemand mit Kreide eine Trennlinie gezogen hätte. Zu allem Überfluss der Farben legt die untergehende Sonne ihre glutrote Straße über den See. Mit einem Saum aus purem Gold.

Das vorbeiziehende Ausflugsschiff durchkreuzt mit weiß schäumender Bugwelle die gespiegelte Sonnenbahn. Das Oberdeck des Schiffes ist übervoll. Dicht gedrängt sitzen Ausflügler. Kinder stehen an der Reling. Sie winken einem schmalen Segelboot zu, das heftig schaukelnd das brodelnde Kielwasser des Schiffes kreuzt.

Die Hitze des Tages, der als der heißeste Tag des Jahrhunderts in die Annalen der Meteorologen eingehen wird, liegt schwer über dem sanften Land. Obwohl die Sonne bereits tief im Westen steht, ist noch kein Anzeichen von Abkühlung zu spüren.

Schon seit Tagen ist das Land unter einer Gluthitze gefangen, die alle gewohnte Emsigkeit zum Erliegen bringt. Der Fleiß, auf den sich die Bewohner des kleinen Landes einiges einbilden, ist arg gefährdet. Dem einen oder andern wird langsam klar, unwillig zwar, dass es für Menschen in heißen Ländern nicht so einfach ist, den ganzen lieben langen Tag tätig und fleißig zu sein. In der Glut des Tages bildet sich in manch einem überhitzten Gehirn ungewohnte Trägheit. Und plötzlich aufflammende wilde Begierde, wo sonst gewohnheitsmäßig Taubheit herrschte.

Einzelne Schulen sind bereits seit einer Woche wegen Hitze geschlossen. Die Nachrichten berichten täglich über zunehmende Wasserknappheit, über eine steigende Sterblichkeitsrate unter alten Menschen und erteilen medizinische Ratschläge. Der Ozongehalt der Luft hat längst alle von den Umweltorganisationen genannten Grenzwerte überschritten. Mittlerweile allerdings auch die von der Industrie akzeptierten Kennziffern. Die Regierung des Landes berät Maßnahmen. Verantwortungsvolle Kreise fordern mindestens autofreie Sonntage. Die großen Lebensmittelketten behalten sich vor, bei anhaltender Hitze die Öffnungszeiten ihrer Läden auf den Abend zu verlegen.

Die Gäste auf dem Schiff sind vorwiegend Japaner. Mitarbeiter eines großen Konzerns. Sie sind auf einer Besichtigungstour europäischer Niederlassungen ihrer Firma. Eine davon hat zu einer Dreiseenfahrt eingeladen. Unter den japanischen Gästen sind auch Mitarbeiter des hiesigen Betriebs. Zum Teil mit ihren Familien, denn die Geschäftsleitung legt großen Wert auf persönlichen Kontakt mit den japanischen Geschäftsfreunden. Den Gästen, die während zweier Wochen ein aberwitziges Besichtigungsprogramm in ganz Europa absolvieren, macht die Hitze offensichtlich nichts aus. Fröhlich lächelnd sitzen sie in bunten, luftigen Kleidern auf den harten Bänken. Nicht zum ersten Mal fragen sich die schwitzenden einheimischen Manager, ob ihre japanischen Geschäftsfreunde vielleicht doch von einem anderen Stern stammen.

Ein riesiger Schwarm Möwen begleitet mit gierigen Schreien das weiße Schiff.

Das Segelboot kämpft immer noch gegen die Wellen. Das kleine Boot mit einem viel zu großen Segel wird heftig hin und her geworfen. Der Baum schlägt wild von einer Seite zur anderen. Die beiden Segler versuchen verzweifelt, die Großschot einzuholen. Offensichtlich hat sich in der Hektik des Manövers das Schot verheddert. Jetzt versucht einer aufzustehen, um den Baum mit seinen Händen festzuhalten. In diesem Moment rammt das Segelboot einen Gegenstand im heftig bewegten Kielwasser des Ausflugsschiffes. Der stehende Segler wird mit Wucht über Bord geworfen. Die Kinder auf dem Schiff schreien aufgeregt. Am Heck des Schiffes entsteht Bewegung. Der zweite Segler hat sich vor Schreck erhoben und wird in diesem Moment durch den wild schlagenden Baum ebenfalls vom Boot gemäht. Für einen Moment sind beide über Bord gefallenen Segler untergetaucht. Das unbemannte Boot driftet jetzt überraschend schnell weg vom Schiff. Immer mehr Gäste drängen sich auf dem Aussichtsdeck des Ausflugsschiffes und halten angestrengt Ausschau nach den beiden Seglern im Wasser. Die Motoren stoppen. Offensichtlich hat die Mannschaft von dem unglücklichen Manöver des Segelbootes Notiz genommen. Die Schraube beginnt nun rückwärts zu drehen, um das Schiff vollends zu stoppen. Das Schiff erschauert, als ob es sich gegen die Umkehr der Fahrtrichtung sträuben würde. Ein anhaltendes Vibrieren durchströmt das Deck. Die Mannschaft öffnet auf der Steuerbordseite die Reling und steht mit Rettungsringen bereit. Zögernd beginnt das Schiff Rückwärtsfahrt aufzunehmen. Aufgeregte Schreie auf dem Oberdeck. Alle starren auf einen wild um sich schlagenden Körper im Wasser. Es ist eine Frau mit langen blonden Haaren. Plötzlich werden ihre Bewegungen ruhiger. Offensichtlich hält sie sich an einem schwimmenden Gegenstand fest. Die Gäste auf dem Schiff können nicht ausmachen, was es ist. Vom anderen Segler fehlt jede Spur. Das Segelboot ist schon weit abgedriftet. Das Ausflugsschiff ist mittlerweile auf der Höhe der Schwimmerin angekommen und der Kapitän spricht beruhigende Worte durch ein Megafon. Die Frau klammert sich mit beiden Händen fest und versucht, rittlings auf einem unterhalb der Wasseroberfläche schwimmenden Objekt zum Sitzen zu kommen. Sie schafft es und winkt zum Schiff. Die Wellen schaukeln sie hoch und jetzt kann man sehen, dass sie lacht. Offensichtlich hat sie noch nicht bemerkt, dass ihr Segelpartner auch über Bord ging. Auf dem Schiff macht die Mannschaft ein Rettungsfloß klar, allerdings schwer behindert durch die Fahrgäste. Plötzlich hört man von der blonden Schwimmerin einen panischen Schrei. Sie lässt sich wieder ins Wasser fallen und krault mit hektischen Schwimmbewegungen weg von ihrem kurzfristigen Rettungsgegenstand. Eine Serie von rollenden Wellen überflutet ihren Blondschopf. Und jetzt kann man nach und nach auch den Gegenstand erkennen, auf dem die Schwimmerin gerade eben noch saß. Zuerst sieht man starre Beine, dann einen ungeheuer aufgeblähten Bauch. Auf dem Schiff herrscht plötzlich Totenstille. Der Körper dreht sich, die Beine verschwinden. Aus dem aufgewirbelten Wasser erhebt sich ein Kopf. Er ist offensichtlich zertrümmert. Aus dem Maul hängt eigenartig verdreht eine bleiche Zunge. Zwei mächtige Hörner glänzen nass im Goldlicht. Beide Ohren sind abgeschnitten. Es ist der mächtige Schädel einer toten Kuh.

EINS

Tanner hält keuchend inne und lehnt sich an den kühlen Sandstein. Trotz der relativ niedrigen Temperatur im Turm ist er schweißgebadet. Was für eine unsinnige Idee, ausgerechnet an diesem heißen Tag die vielen Treppen hinaufzusteigen. Wie vollkommen verlassen wirkt die sonst so geschäftige Stadt. Jeder, der es sich leisten kann, sitzt zu Hause bei geschlossenen Fensterläden und trinkt Eistee oder Bier.

Der historische Platz vor der roten Sandsteinkirche liegt in grellem Sonnenschein. Das Licht lässt ihn, dank der strengen Schattenrisse, noch geometrischer erscheinen. Die gepflegten Häuser aus vergangenen Jahrhunderten wirken als Architekturensemble wie eine scharf ausgeleuchtete Theaterkulisse. Der quadratische Platz neben der Kathedrale mit seinen vierunddreißig mächtigen Kastanien träumt selig von Italien. In regelmäßigen Abständen stehen die alten Bäume, die wohl einen tiefschwarzen Schatten, aber keine Kühle mehr spenden können. Die Hitzeschwaden stehen zwischen den Bäumen geradeso wie in den schmalen Gassen zwischen den Häusern. Das einzig Erfrischende ist das Wasser, das unentwegt in den großen Brunnen plätschert.

Tanner hat seine Arme bis über die Ellbogen ins Wasser gehalten und die beiden steinernen Köpfe betrachtet, die als Wasserspeier dienen und irgendwie an Asterix und Obelix erinnern, bevor er stur seinen Plan ausgeführt hat, den Turm trotz der quälenden Hitze zu besteigen.

Er war vom Bahnhof zu Fuß auf alten Wildwechseln in Richtung Münster gegangen. Seit vielen Jahren ist er das erste Mal wieder in seiner Geburtsstadt. Eine Flut von Erinnerungen begleitete jeden seiner Schritte.

Bei dem alten Kasten in der Nähe des Bahnhofs zum Beispiel, in dem er während des Studiums aushilfsweise unterrichtet hatte.

Was für ein ohrenbetäubender Lärm in seiner Klasse. Die Schüler waren zu Beginn kaum zu bändigen. Die Gelegenheit war günstig. Er hatte nächtelang nicht mehr schlafen können, bis er im Umgang mit der Bande eine halbwegs brauchbare Strategie fand. Er ließ sie sich in Rollenspielen austoben, bis die anderen Lehrer Einspruch erhoben. Nach fünf Wochen hatte er sich geschworen, sein Studiengeld in Zukunft anders zu verdienen.

 

Er arbeitete in der Folge nachts bei der Bahnpost oder machte für kleine Transportbetriebe die Buchhaltung.

Er musste unwillkürlich lächeln.

Oje, ich und meine Buchhaltervergangenheit!

Er verstand nämlich selber nicht viel davon, aber die ölverschmierten Kleinunternehmer, die alles aus ihren dicken Portmonees bezahlten, die sie aus der Gesäßtasche zogen, egal ob es sich um private oder geschäftliche Ausgaben handelte, verstanden noch weniger von Zahlen als er. Er staunt noch heute über sich, wenn er an die Berge von Rechnungen denkt, die er in dieser Zeit sortierte. Meist saß er in schlecht gelüfteten Wohnungen an Esstischen, die sich unter der Last unbezahlter Rechnungen krümmten. Aber er war süchtig nach den Geschichten der Fahrer, die ihm von ihren Erlebnissen erzählten, von Russland, dem Nahen Osten oder dem hohen Norden. Damals hatte er ein geradezu schmerzhaftes Fernweh.

Um das städtische Theater hat er vorhin bewusst einen weiten Bogen gemacht. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass seine Gedanken während des ganzen Weges um seine Theatersehnsucht kreisten, die ihn einen Großteil seiner Jugend- und Studienzeit fesselte. Dem Ort, in dem sich damals seine Leidenschaft kristallisierte, wollte er heute nicht leibhaftig begegnen. Vielleicht morgen.

Da er den Gang am Theater vorbei vermied, kam er auch nicht am zweitwichtigsten Tatort seiner Jugendzeit vorbei.

In den Augen der Eltern war dieser Ort der Drogenumschlagplatz der Stadt. Womit sie sicher Recht hatten. Er ging heimlich hin. Zeitweise jeden Abend. Drogen interessierten ihn nicht. Aber er war dabei, als Cat Stevens mit seiner Gitarre auftrat, bevor seine Weltkarriere begann. Und er war fasziniert von der schummrigen Atmosphäre des Lokals. Und von der Möglichkeit, Mädchen kennen zu lernen. Das war das Wichtigste. Es spielte sich zwar nur in seiner Phantasie ab, aber immerhin war es sehr aufregend. Er war damals viel zu schüchtern, ein Mädchen anzusprechen.

Einmal lernte er eine Frau kennen. Das heißt, ein Mann sprach ihn im Club an, ob er nicht Lust hätte, einer Freundin ohne männliche Begleitung Gesellschaft zu leisten. Sein Herz schlug bis zum Halse und er brachte kaum ein Wort heraus. Sie hatte pechschwarze Haare, tiefblaue Augen und war etwa dreimal so alt wie er. Nach einer Stunde, in der praktisch nur sie gesprochen hatte, beschloss die kleine Gruppe, in einen Grenzort des Nachbarlandes zu fahren. Man fuhr mit zwei Autos. Schon auf der Fahrt über die nahe Grenze hielt sie irgendwo am Straßenrand, küsste ihn, griff ungeniert nach seinem Schwanz. Kaum hatte sie ihn berührt, machte er auch schon seine Hose nass, was sie in Begeisterung versetzte. Er schämte sich seiner Unerfahrenheit. Nachdem sie zwei Stunden in einem öden Nachtlokal verbracht hatten, fuhr sie ihn nach Hause. Da in dieser Nacht seine Eltern nicht zu Hause waren, gingen sie in die Wohnung. Kaum waren sie in seinem Zimmer, riss sie sich mit dramatischen Bewegungen die Kleider vom Leib. Durch die grünen Holzjalousien der Fensterläden fiel helles Mondlicht auf ihren schlanken Leib. Er wusste nicht recht, was tun. Danach sprachen sie kein Wort. Als sie gegangen war, sah er auf dem Teppich einen Fleck, und so hantierte er mitten in der Nacht mit Teppichschaum und Staubsauger. Seine Mutter bemerkte am nächsten Tag einen fremden Geruch in der Wohnung. Er stellte sich dumm, fühlte aber, wie die Hitze in sein Gesicht strömte, floh in sein Zimmer und versuchte nicht mehr an die Nacht zu denken.

Tanner bog in eine der unzähligen Gassen, die sternförmig von allen Seiten auf das Münster zuführen. Bevor er ins Münster ging, schlenderte er durch den Kreuzgang. Der quadratische Innengarten leuchtete grell hinter den schlanken Säulen.

Im Münster war es vollkommen leer und kühl. Tanner setzte sich eine Weile auf eine der Holzbänke. Es herrschte absolute Stille. Die Sonne brach mit goldenen Lichtfingern in den hohen Raum und ergriff von dem hohen Raum Besitz.

An der Kasse, wo man für die Turmbesteigung bezahlen muss, schlief ein Mann mit offenem Mund. Leise hat Tanner das Geldstück auf die kleine Kassentheke gelegt und ist in die Wendeltreppe eingestiegen.

Endlos ist der Aufstieg. Immer schmaler werden die Treppen und Durchgänge. Die Luft ist zwar verhältnismäßig kühl, aber trocken und muffig. Auf der Höhe des Uhrwerks angekommen, betrachtet er das technische Wunderwerk, die unzähligen Zahnräder, die Unruh, den Schwinger, die Wellen, die Schnecken und die Gestänge mit derselben Faszination wie damals, als er noch ein Kind war.

Als er die letzten Stufen der schmalen Holztreppe erklimmt, die sich an den mächtigen Glocken vorbei in die Höhe windet, und er auf den umlaufenden Balkon des Turmes tritt, trifft ihn die heiße Luft wie ein Schlag ins Gesicht. Als hätte jemand vor seiner Nase eine Backofentür geöffnet. Einen Moment lang kann er kaum mehr atmen. Der Temperaturunterschied beträgt mindestens dreißig Grad, gefühlsmäßig. Er stützt sich schwer atmend auf die Sandsteinbrüstung.

Da liegt sie nun, seine Geburtsstadt.

Verkleinert und perspektivisch zusammengestaucht. Die ineinander gefügten Dächer mit einer Vielzahl von Lukarnen leuchten matt in allen nur denkbaren Rottönen. Es herrscht eine dumpfe Stille. Als ob unsichtbar ein gewaltiges Tier die Stadt niedergerungen und sich rittlings auf ihre Dächer gesetzt hätte und mit heißem Atem alles Lebendige in Schach hielte.

In Richtung Westen liegt der große Strom. Wasser wie Blei, das die Stadt in zwei Teile zerlegt. In nördlicher Richtung erkennt man die Anlagen der chemischen Industrie, in der sein Vater sein Leben lang schuftete. Ohne sie wäre die Stadt nichts. Gar nichts.

Er hatte jahrelang Reagenzgläschen gewaschen, wie er immer wieder stolz betonte. Später musste er nachts die laufenden Versuche in den Labors überwachen. Seine Chefs, die Chemiker und Doktoren, waren seine Götter. Sein Vater musste in dieser Welt das absolute Ideal eines pflegeleichten Arbeiters verkörpert haben. Noch in den ödesten Arbeitsvorgängen hatte er seine Pflicht mit Sorgfalt, Hingabe und absoluter Treue ausgeübt. Für ein lächerliches Entgelt. Und er identifizierte sich mit seiner Firma bis zur Selbstaufgabe. Wehe, es fiel ein kritisches Wort. Noch in den krassesten Momenten der Ausbeutung hatte er Verständnis und verteidigte auch ganz offensichtlich zynische Maßnahmen seiner Firma.

Als man in Westafrika Pflanzenschutzmittel einer chemischen Firma entdeckte, die zu Kriegszwecken verwendet wurden, war sein Vater erbost über die Berichterstattung, nicht über das Verbrechen.

Als er zwei Jahre vor dem Pensionierungsalter in den Ruhestand trat, kürzte man ihm kaltschnäuzig die Rente. Der Vater schluckte es und beschwor seinen Sohn, die Kriegsvorbereitungen gegen die Firma einzustellen. Tanner wusste damals nicht, ob er die Firma oder seinen Vater hassen sollte. Dass die geliebte Firma einen Großteil ihrer Gewinne im Ausland erzielte, auch auf Kosten der Dritten Welt, verdrängte sein Vater immer. Genauso wie er an die Märchen von der starken Landesverteidigung während des Zweiten Weltkrieges glaubte, hatte er auch die Mär vom auserwählten Fleiß des Landes und seiner Bewohner verinnerlicht. Nun ist der Vater schon lange tot und seine geliebte Firma hat sich einen poetischen Namen zugelegt. Tanner beugt sich über die Brüstung und sammelt Speichel in seinem Mund. Er spuckt, verfolgt das scheinbar langsame Fallen. Wie damals als Kind fragt er sich, wie es wohl wäre, selber zu fallen. Wie lange würde der Fall dauern? Würde man den Aufschlag gerade noch spüren und erst danach wäre man tot? Oder fliegt man geräusch- und schmerzlos ins andere Land? Wie durch ein Schlupfloch in der Zeit vielleicht?

Aber die Seele? In welchem Moment wüsste sie, dass sie aus dem Körper herausmuss? Vor dem Augenblick des Aufpralls? Oder schleicht sie sich erst aus dem Körper, wenn er zerschmettert am Boden liegt? Und was macht sie danach? Kehrt sie zurück in Gottes Schoß, wie er es als Kind geglaubt hat? Oder macht sie sich bereit für einen neuen Körper?

Er lacht laut auf.

Mein Gott, jetzt lebe ich schon so lange und bin der Lösung von entscheidenden Fragen noch nicht ein Jota näher.

Im Gegenteil. Damals hatte er noch die tröstende Illusion, dass er irgendwann alles verstehen würde. Wenn er einmal groß und erwachsen wäre. Jetzt ist er groß und erwachsen. Und wo sind sie, die erwarteten Erkenntnisse? Das Schönste, was er über den Tod weiß, sind immer noch die Worte von Hamlet.

sterben, schlafen/Schlafen, vielleicht auch träumen

Noch einmal lacht er auf. Eine Taube, die unbemerkt hoch über seinem Kopf in einer Turmnische geschlummert hat, fliegt erschreckt in den heißen Himmel.

Tanner lässt sich erschöpft auf den Boden nieder. Eines ist genauso geblieben wie damals: Nie und nimmer hätte er die Kraft, sich auf diese Brüstung zu stellen und zu springen. Obwohl er heute Gründe hätte.

Ach Elsie, wann wirst du wieder erwachen? Erwachen. Was für ein Glück wäre das!

Lieber Gott, mach, dass sie aufwacht! So hätte er als Kind gebetet. Heute kann er es nicht mehr.

Er fährt sich mit der Hand durch die Haare und muss wieder lachen.

Hat er nicht selber immer lauthals verkündet, dass solche Vorstellungen wie Glück oder Gott eine Erfindung des Menschen sind? Weil der Mensch die Gleichgültigkeit des Lebens nicht ertragen kann.

Ja, das war doch eines seiner Lieblingsthemen. Wie oft hat er damit in Gesellschaft brilliert.

Meine Herrschaften, mit dem Glück verhält es sich wie mit dem Lottospiel. Es folgt nicht Ihren Wünschen. Oh nein! Sie glauben, dass Sie eines Tages das große Los gewinnen? Und zwar, weil es Ihnen zusteht? Und einzig, weil Sie daran glauben, denken Sie, Sie könnten dadurch das Glück in die Knie zwingen? Sie hätten sich durch diesen tagtäglichen, fleißigen Glauben sogar das Recht auf Glück erworben? Lachhaft. Es gibt nur Mathematik. Kühle, emotionslose Mathematik. Es gibt kein persönliches Schicksal. Es gibt kein Glück. Keinen Gott. Das meiste, was einem widerfährt, hat man sich sowieso selber eingebrockt.

Er verscheucht den Gedanken an Elsie.

Wenn man durch die Ritzen der Brüstung schaut, gewinnt man den Eindruck, dass das Leben unter der gewaltigen Hitze eingeschlafen ist, aber es hat sich nur in mehr oder weniger kühle Häuser zurückgezogen.

Wie gut, dass er an so einem Tag auf diesen Turm gestiegen ist. Vielleicht sollte er sein Leben hier oben verbringen. Hier oben sitzen bleiben wie ein Buddha. Oder wie Baudolino. Blieb der nicht so lange auf einer Säule sitzen, bis die Menschen glaubten, er sei ein Heiliger? Sie brachten ihm Essen und Trinken, fragten ihn um Rat, überhäuften ihn schließlich mit Geschenken. Leider hat er vergessen, warum Baudolino jemals wieder von seiner Säule gestiegen ist. Sicher wegen einer Frau. Wahrlich der einzige Grund, um von einer Säule zu steigen, auf der man sonst alles hat.

Wann ist er das letzte Mal mit einer Frau zusammen gewesen? Seit Elsie im Koma liegt, nicht mehr.

Er will den Gedanken nicht zu Ende denken, aber es gelingt nicht ganz. Er zwingt sich aufzustehen und schaut angestrengt über die Stadt, über der jetzt so etwas wie ein Schleier liegt.

Mehr als ein Jahr kein Kontakt zu einer Frau. Wenn ihm das jemand prophezeit hätte! Er hätte nur gelacht.

Mehr als ein Jahr lang pendelte er praktisch nur zwischen seiner Wohnung am See und der Klinik. Er lebte vollkommen zurückgezogen. Gesprochen hatte er in der ganzen Zeit hauptsächlich mit Ärzten. Und natürlich mit Elsie, aber das war sehr einseitig. Und ab und zu mit Ruth und den Kindern. Ach ja, und mit Michel, der sich große Sorgen um ihn machte.

In diesem Augenblick wird die Tür aufgestoßen und drei junge Japanerinnen stolpern kichernd gegen die Balustrade. Ihr Lachen bricht abrupt ab, als sie sehen, dass sie nicht allein auf dem Turm sind.

Tanner nickt ihnen zu. Sie nicken zurück, lehnen sich über die Brüstung und gleich kichern sie von neuem. Sie unterhalten sich schnell, mit hohen Stimmen. Ab und zu werfen sie ihm verstohlene Blicke zu. Wenn er lächelt, drehen sie sich schnell weg und lachen erneut. Alle drei tragen weiße Sommerhütchen. Eng aneinander gepresst, lehnen sie sich an die Brüstung. Aufmerksam studiert Tanner ihre Körper. Ihre Kleidchen sind am Rücken tief ausgeschnitten, zeigen eine makellose Haut. Die Mädchen lassen ihre nackten Arme über die Brüstung baumeln. Die Größte von ihnen hat einen unglaublich runden Po. Tanner schließt seufzend seine Augen. Ungefragt tauchen Bilder von Harumi auf.

 

Er hatte sie vor langer Zeit in Paris kennen gelernt. Ihre Affäre dauerte leider nur ein paar Wochen. Aber nie hat er ihre Haut vergessen. Und ihre Art der Hingabe.

Seufzend öffnet er die Augen. Die drei Mädchen verschwinden gerade durch die Tür. Die Letzte dreht sich kokett um, winkt ihm zu, lächelt und schließt die Tür.

Na ja, auch gut.

Tanner bleibt noch einen Moment, damit es nicht aussieht, als folge er den drei fernöstlichen Kichererbsen, und beginnt dann gemächlich den Abstieg.

Draußen betrachtet er die Fassade des Münsters. Links sticht der heilige Georg einen kleinen, ziemlich süßen Drachen ab. Rechts teilt der heilige Martin seinen kostbaren Samtmantel.

Zu sehen sind in harmloser Darstellung eine der Kernkompetenzen und eine der Haupttugenden unserer westlichen Zivilisation. Das arrogante Bezwingen der Natur vom hohen Ross aus und das Mitleid. Wobei Ersteres bis zur Vollendung, beziehungsweise Zerstörung, gekonnt ausgeführt wurde und wird. Mitleid hingegen? Mit sich selbst im besten Fall. Aber vielleicht bewegt er sich ja einfach in einem zu schlechten Milieu, so dass er selten dem Mitleid begegnet. Er dreht sich um, geht auf das Eckhaus gegenüber dem Münster zu. In diesem Haus hat er während des Studiums für ein paar Wochen gearbeitet. Früher war hier das Maschinenamt der Stadt untergebracht. Heute nennen die das Finanzen, Controlling, Informatik.

Mensch, haben die früher eine ruhige Kugel geschoben.

Bereits um neun Uhr schickte man ihn los, um umfangreiche Einkäufe für die erste Pause zu tätigen. Nicht selten befand sich auch Schnaps auf seinem Einkaufszettel.

Er liebte diese Gänge. Er konnte ruhig durch die Gassen der Altstadt schlendern und die Auslagen der Geschäfte bewundern. Man erwartete ihn erst wieder gegen zehn Uhr. Dann wurde ausgiebig ein zweites Frühstück verschlungen, gar zu anstrengend waren die ersten zwei Arbeitsstunden gewesen. Danach schleppte sich die Zeit bis gegen Mittag. Pause. Nach dem Essen döste jeder ungestört an seinem Arbeitspult. Nach einer Kaffeepause gegen drei Uhr kam dann eine gewisse Hektik auf, denn es mussten ja doch in Gottes Namen noch einige Dinge erledigt werden, bevor es Feierabend wurde. Ein angenehmes Leben bei festem Gehalt, Ferien und Feiertagen. Aber das ein ganzes Leben lang? Für den jungen Tanner eine Horrorvorstellung. Ach ja, da gab es diese blonde Sekretärin. Sie war fünfunddreißig Jahre alt und eine Grenzgängerin, die bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit ein helles Lachen bereithielt und einen steil aufgerichteten Busen unter ihren hellblauen Pullöverchen zur Schau trug. Regelmäßig streckte sie ihre Arme in die Höhe, räkelte sich mit Inbrunst, gähnte und ordnete genüsslich ihren BH oder das, was er für Geheimnisse barg, mit zärtlich kräftigem Griff. Anschließend pflegte sie nach schräg links zu blicken, wo sie damit rechnen konnte, dass Tanner sie anstarrte wie ein Weltwunder. Dann zwinkerte sie ihm zu und er wurde rot. Er wartete natürlich sehnsüchtig auf diese kleinen Turnübungen, die, dem Himmel sei es gedankt, mit schöner Regelmäßigkeit stattfanden und so den Tag in erträgliche Portionen zerlegten. Ihr Busen stellte das wenige, physikalische Wissen in Frage, das sein Lehrer mühsam in die Tanner’schen Hirnwindungen eingetrichtert hatte.

Eines Tages lud sie ihn zum Nachtessen in ihr kleines Appartement ein. Im Schimmer einer monströsen Kerze mit mehreren Dochten zog sie ihren berühmten hellblauen Pullover und ihren BH aus. Damit war das physikalische Weltbild sogleich wieder im Lot.

Seufzend wendet sich Tanner von dem Hause ab, auch von der Erinnerung, und trottet ziellos in Richtung Innenstadt.