Wintertauber Tod

Text
Aus der Reihe: Simon Tanner ermittelt #3
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Wintertauber Tod
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

In einem abgelegenen Schweizer Dörfchen sind eines Morgens alle Türen mit Zeichen aus Katzenblut bemalt. Bis auf sieben. Kurz darauf wird eine grausam verstümmelte Leiche gefunden, und ein Zwillingspaar verschwindet spurlos. Sie alle waren Bewohner der sieben Häuser ohne Blutzeichen an der Tür. Simon Tanner, der seit seinem freiwilligen Abschied aus dem Polizeidienst in dem nebelverhangenen Dorf wohnt, begibt sich auf die Spur. Zusammen mit seinem Freund und ehemaligen Kollegen Kommissar Serge Michel entdeckt er, dass es sich bei dem Blut an den Türen um alttestamentarische Schutzzeichen handelt. Missgunst, Ränkespiele und lang unterdrückte blutige Geheimnisse tun sich hinter der idyllischen Dorfkulisse auf. Erst die Erwähnung einer selten gewordenen Apfelsorte bringt Tanner auf die Spur einer längst vergessenen Gewalttat.


Urs Schaub, geboren 1951, arbeitete lange als Schauspiel-Regisseur und war Schauspiel-Direktor in Darmstadt und Bern. Als Dozent arbeitete er an Theaterhochschulen in Zürich, Berlin und Salzburg. 2003 bis 2008 leitete er das Theater- und Musikhaus Kaserne in Basel, 2006 bis 2010 war er Kritiker im «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens. «Wintertauber Tod» ist der dritte von vier Kriminalromanen mit dem charismatischen Ermittler Simon Tanner. Urs Schaub lebt in Basel.

Foto Yvonne Böhler

Wüsste man, wer diese Notizen macht.

aus

Monsieur Traum Robert Pinget

JAHRE ZUVOR

Das Ganze begann mit einem Fehler.

Genau genommen gibt es in solchen Fällen natürlich keinen Anfang. Aber den Fehler gab es, und er war schlimm. Bemerkt hat ihn trotzdem keiner.

Am wenigsten der Mann, der ihn machte.

Wenn ein in der Regel zuverlässiger Beamter auf einem labyrinthisch weit verzweigten Rangierbahnhof die erste Weiche falsch stellt, was dann?

Der weitere Weg des heranrollenden Güterwagons wäre zwar falsch, aber dennoch klar vorgegeben. Mit unvorhersehbaren Folgen. Im besten Fall würde der Waggon an einem falschen Ort zu stehen kommen, im schlimmsten einen Unfall verursachen. Unabhängig davon, aus welchem Grund der Weichensteller den Fehler gemacht hat.

Aber man würde ihn bemerken. Den Fehler.

Vielleicht hat der Beamte am Stellwerk, wie seit Tagen, an diese elende Summe gedacht, die in seinem Sparbuch steht und die seine Zukünftige nach wie vor als zu bescheiden bezeichnet, um ihn zu heiraten. Vielleicht hat er sich deswegen verzweifelt über Möglichkeiten zur Vermehrung besagter Ersparnisse den Kopf zerbrochen. Und wer weiß, vielleicht hat ihn die sehnlichst erwünschte Geldsumme so sehr abgelenkt, dass er die Weiche, ohne es zu merken, falsch betätigte. Möglicherweise würden dadurch einige eilige Güter erst Tage danach wiedergefunden, dazu noch verdorben, und die Eisenbahngesellschaft würde eine Konventionalstrafe zahlen müssen, die das besagte elende Sümmchen des Weichenstellers um ein Vielfaches übersteigt. Wahrscheinlich würde er in der Folge seine Stelle verlieren, sich aus Verzweiflung dem Suff hingeben, denn das Einzige, was er in seinem Leben gelernt hat, ist Weichenstellen, und er würde fortan aus Verzweiflung … und so weiter.

Inmitten dieser Spekulationen bliebe eine Wahrheit unveränderlich: Der Güterwaggon stünde trotzdem am falschen Ort.

Manz wusste nichts von derart komplexen Gedankengängen.

Er fühlte sich einfach verpflichtet, die Leiche zuzudecken. Schließlich war es bitterkalt, und zudem sah der offene Bauch nicht gerade appetitlich aus. Er wollte keine Spuren beseitigen, tat es aber gründlich.

Wie durch ein Wunder war es das erste Opfer einer Gewalttat, mit dem er es in seiner Zeit als Polizist zu tun hatte. Zu seinem Alltag hatte bisher die Kontrolle der Polizeistunde und der Hotelmeldezettel gehört. Immerhin gab es in dem kleinen Straßendorf eine Dorfkneipe mit angeschlossenem Hotel, das vorwiegend von durchreisenden Vertretern frequentiert wurde; ein Restaurant, das gut dreihundert Meter neben dem Bahnhof lag, mit diesem eigentlich gar nichts zu tun hatte und trotzdem Bahnhofrestaurant hieß; sowie ein französisches Gourmetrestaurant mit Gästezimmern. Hier pflegten ab und zu Tänzerinnen zu übernachten, die in einem Nachtlokal auftraten, das zu den wenigen Attraktionen des nahe gelegenen Bezirksstädtchens gehörte.

Vor wenigen Jahren brannten in einer Nacht vier verschiedene Häuser gleichzeitig. Trotz aller Nachforschungen und Untersuchungen der Polizei aus dem Hauptort gelang es nicht, den Täter zu überführen. Das war eigentlich Manz’ schlimmster Fall, obwohl auch damals keine Menschen zu Schaden kamen.

Zu seinen weiteren Pflichten gehörte die Schlichtung unzähliger Nachbar- oder Familienstreitigkeiten (was sehr oft dasselbe bedeutete); die administrative Erfassung von Fahrraddiebstählen und einer Vielzahl weiterer kleiner Delikte, die vor allem eines mit sich brachten: einen unendlichen Fluss an Papieren und Formularen, der ihn mit dem Kommissariat in der Kantonshauptstadt wie mit einer Nabelschnur verband. Schließlich war er einer der letzten Dorfpolizisten im ganzen Land, eine Art Vorposten im Niemandsland zweier zusammentreffender Sprachregionen. Besser gesagt: ein Restposten in einem wirtschaftlich und politisch vergessenen Teil des Landes.

Ob dieser Landstrich deswegen so schön war? Der Dorfpolizist Manz hatte da so seine eigene Theorie. Davon wird viel später noch einmal die Rede sein. Wie auch immer: Nach seiner Pensionierung würde der Posten endgültig eingespart werden, ein Nachfolger war nicht vorgesehen. Das war längst beschlossene Sache. In seinen Augen wurde mit dieser Entscheidung das ganze Gebiet zur rechtsfreien Zone erklärt. Ganz zu schweigen von denen, die Hilfe benötigten!

Vor zwei Jahren hatte den Bahnhofsvorstand dasselbe Schicksal ereilt. Seither hielten am kleinen Bahnhof zwar nach wie vor im Stundentakt Züge, aber alles lief automatisiert ab und wirkte wie ferngesteuert, obwohl die Lokomotiven noch von leibhaftigen Menschen gesteuert wurden. Die Bahnhofsschalter waren mit Brettern vernagelt. Beim Billetkauf war jetzt Schluss mit dem beliebten Schwätzchen, das die Dorfbewohner mit Monsieur Veillon regelmäßig gepflegt hatten. Der Automat empfing per Tastendruck seine Befehle und spuckte leise scheppernd seine schäbigen Tickets aus. Die schönen Fahrkarten aus Karton, zum Teil zweifarbig, die man sammeln und zu ansehnlichen Häufchen hatte stapeln können, gab es längst nicht mehr. Brauchte jemand eine Auskunft, trat er an eine Infosäule, wo sich zu bestimmten Tageszeiten und meist nach langer Wartezeit schnarrend eine Stimme meldete. Der kleine Wartesaal war zum Depot eines Vertreters für Strumpfwaren verkommen.

In der Dienstwohnung des Bahnhofsvorstandes lebte jetzt eine kinderreiche Familie aus den ehemaligen Krisengebieten des Kosovo. Lange Zeit wusste man nämlich nicht, was man mit der leeren Wohnung anfangen sollte. Wer will schon in einem heruntergekommenen Bahnhof wohnen? Genauso ratlos war man gegenüber der Flüchtlingsfamilie, die durch eine administrative Panne der Kantonshauptstadt in dem Dorf gelandet war. Als man sie nicht mehr ab- oder zurückschieben konnte, brachte man sie aus lauter Verlegenheit im Gasthof Zum Hirschen unter. Dort, wo sonst vorwiegend Vertreter übernachteten. Ein paar Tage später erinnerte sich ein Schlauberger aus dem Gemeinderat, der wegen der laufenden Hotelkosten nicht mehr schlafen konnte, an die leere Bahnhofswohnung. Man ließ sich unter fadenscheiniger Begründung von der Heilsarmee einige Möbel schenken – und auch noch gratis liefern – und zwei unangenehme Probleme waren auf einen Schlag gelöst. Die geniale Idee des schlauen Gemeinderates wurde mit reichlich Weißwein begossen.

Kurz darauf – als handelte es sich um einen Virus – schlossen die Schalter des kleinen Postamtes. Demnächst würde, wie gesagt, den Polizeiposten dasselbe Schicksal ereilen, und im nächsten Sommer würde die genossenschaftseigene Käserei für immer dicht machen.

Den Reigen der Schließungen hatte vor einem Jahr ausgerechnet die Kirche begonnen. Die Obrigkeit der Diözese degradierte ohne Voranmeldung die kleine Kirche zu einer Filiale der Nachbargemeinde und suchte für den frühzeitig pensionierten Seelsorger nur noch pro forma einen Nachfolger. Natürlich fand man keinen. Damit war die Sache abgeschlossen, und die Mitglieder der kleinen Kirchgemeinde rieben sich die Augen. Ein frisch eingesetzter Priester aus dem größeren Nachbarort hielt seine Sonntagspredigt fortan also zweimal. Die wenigen Leute, die regelmäßig zum Gottesdienst kamen – es waren vorwiegend ältere Frauen –, meinten die Wiederholung der Worte zu fühlen und verschlossen sich immer mehr dem jungen Priester gegenüber, der sich redlich Mühe gab, den zum zweiten Mal vorgetragenen Predigtworten den Tau der Frische zu verleihen.

Aufgebackenes Brot bleibt aufgebackenes Brot!

So hörte man die alten Frauen zwischen ihren Gebeten murmeln. Als der Priester einmal aus Versehen in seiner Predigt auch noch die Namen der beiden Ortschaften verwechselte, lachten die Anwesenden böse auf, bekreuzigten sich und warfen sich bitter lächelnd Blicke der Bestätigung zu.

Manz hatte nun mittlerweile den Tatort so aufgeräumt, wie er glaubte, es tun zu müssen. Schließlich war er ein Mensch, der schon immer Wert auf Ordnung gelegt hatte. In den offenen Hauseingang war nämlich der Schnee hineingeweht worden, der draußen fast einen Meter hoch lag. Nachgemessen hatte er natürlich nicht, aber der Schnee lag auf jeden Fall höher als in all den Jahren zuvor, in denen der Polizist hier seinen Dienst verrichtet hatte. Bevor er den Leichnam zudeckte, fegte er also den Schnee gründlich nach draußen und sammelte einige Gegenstände auf, die ganz offensichtlich aus dem schmalen Vorratsschrank, der im Flur stand, herausgefallen waren. Wahrscheinlich hatten die Windböen die Schranktür aufgeweht, und so waren einzelne Gegenstände auf dem Leichnam zum Liegen gekommen. Es waren einige rote Bändel, diverse Schnüre, weiße Kerzenstummel und farbige Papierschnitzel, kurz, alles Dinge, die man durchaus in einem Schrank aufbewahrte, erklärte sich der Polizist den Sachverhalt. Geduldig sammelte er alles auf und verstaute es wieder fein säuberlich im Wandschrank. Einige herumliegende geschälte Äpfel, zum Teil blutverschmiert, legte er auf eine Handschaufel und entsorgte sie in den Abfalleimer, der hinter dem Haus stand. Über die Äpfel machte er sich keine weiteren Gedanken, die waren sicher auch aus dem Schrank gefallen, schließlich handelte es sich um einen dieser in alten Häusern üblichen Vorratsschränke, die für gewöhnlich im Flur standen. Die Bewohner dieser ärmlichen Häuser hatten oft gar keinen Kühlschrank oder nur einen ganz kleinen. So war man auf einen Vorratsschrank im unbeheizten Flur angewiesen.

 

Danach schloss er die Haustür hinter sich, holte einen Augenblick lang Atem und musterte die Umgebung. Das Nachbarhaus lag still und verschlossen da. Nichts rührte sich. Die Fenster schauten kalt und abweisend auf den Polizisten. So kam es ihm auf jeden Fall vor.

Er fragte sich in diesem Augenblick, ob die Mutter vom Müller Franz, dem Täter, der ja bereits in der hinter seiner Amtsstube liegenden Zelle saß, die er höchstens alle paar Monate als Ausnüchterungszelle brauchte und sonst zum praktischen Ablageort für jede Art von Akten umfunktionierte, ob sie also, die Schweigerin, wie man sie insgeheim im Dorf nannte, über die furchtbare Tat ihres einzigen Sohnes im Bilde war?

Als der untersetzte junge Mann, der bereits einen Bauchansatz hatte, vor zwei Stunden an der Tür des Polizeipostens geklopft hatte und dann still, fast scheu in die Amtsstube getreten war, um sofort und ohne Umschweife in ruhigen, ja geradezu gesetzten Worten seine Tat zu gestehen, hatte der Polizist zweimal nachfragen müssen, weil er die Geschichte einfach nicht glauben konnte. Und das, obwohl beide Hände von Franz voller schwarz-braunem, eingetrockneten Blut waren. Auch um den Mund herum war er verschmiert. Wahrscheinlich hatte er sich mit den blutverschmierten Händen über den Mund gewischt. Franz beteuerte im gleichen Atemzug, dass seine Mutter nichts davon gewusst und mit der Sache überhaupt nichts zu tun habe. Am besten wäre es, hatte er vorgeschlagen, wenn sie gar nichts davon erführe. Das sei natürlich nicht möglich, erwiderte der Polizist, aber darüber könne man nachher noch reden. Er solle jetzt sowieso am besten einfach schweigen. Er würde ihn fürs Erste in die Zelle sperren, vorher müsse er aber noch etwas aufräumen. Ob Franz so gut sei, einen Moment Platz zu nehmen? Vorher könne er sich aber, wenn er wolle, die Hände und das Gesicht waschen. Franz wusch sich die Hände und das Gesicht, war dann so gut und setzte sich. In aller Seelenruhe hatte der Polizist dann die Zelle leergeräumt, anschließend den Franzli, wie ihn im Dorf jeder nannte, hineinbefördert und die Gittertür zweimal abgeschlossen. Er hatte noch kurz überlegt, ob er die Zelle feucht aufnehmen solle, aber das schien ihm dann doch übertrieben. Den Schlüssel steckte er sorgfältig in die Hosentasche seiner Uniformhose. Bevor er seine Vorgesetzten in der fernen Kantonshauptstadt benachrichtigte, musste er selber an den Ort des Geschehens gehen. Er wollte sicher sein, dass Franzli die Wahrheit gesagt hatte. Glauben konnte er es immer noch nicht. Das Opfer kannte er natürlich, und auch das Haus.

Also stapfte er durch den Schnee. Zuerst die Hauptstraße entlang, dann den Weg hinunter zum alten Zollhaus. Noch zehn Meter vom Haus entfernt, konnte er sich immer noch nicht vorstellen, dass Margot Fuchs tot sein sollte. Ein paar Schritte weiter blieb ihm nichts anderes übrig.

Sie lag im offenen Hausflur am Boden, der Schnee war rot von ihrem Blut. Ihr Leib war von unten bis oben aufgeschlitzt. Manz musste sich an den Türrahmen lehnen. Aufgeschlitzte Leiber hatte er in der Fremdenlegion gesehen. Aber damals herrschte Krieg. Warum hatte der Franzli denn so eine Wut auf die Margot? Sie hat sich doch immer sehr lieb um ihn gekümmert. Manz schaute auf den übel zugerichteten Körper. Trotz ihres Zustandes konnte man immer noch sehen, dass Margot die schönste Frau weit und breit gewesen war. Wie oft hatte Manz nachts heimlich vor ihrem Haus gestanden und gehofft, er könne einen Blick auf sie erhaschen.

Einmal war ihm das Glück hold gewesen und er hatte sie nackt im Licht ihrer Küche stehen sehen. Sie trocknete sich gerade mit einem Tuch ausgiebig und gründlich die nassen Haare. Und da hatte er endlich gesehen, wovon die Männer im Dorf hinter vorgehaltener Hand sprachen: ihre wunderbar weißen Brüste, die so ungewöhnlich herausfordernd aufgerichtet standen, wo doch schon kleinere naturgemäß der Erdanziehung gehorchen mussten. Dies bisschen Sachwissen über die weibliche Anatomie hatte er sich beim verschämten Studium gewisser reich bebilderter Magazine angeeignet, die er sich per Nachnahme kommen ließ. Bei Margot handelte es sich in Manz’ Augen aber um ein Wunder der Natur. Da war sein Schwanz auf der Stelle ungeheuer angeschwollen und er selber zur Salzsäule erstarrt. Er hatte zum Himmel gefleht, dass der Augenblick ewig dauern möge.

Aber ewig gibt es möglicherweise da oben, aber ganz sicher nicht auf Erden.

Als sie sich mit dem Handtuch energisch die Haare frottierte, wippte ihr Busen wunderbar träge hin und her und auf und ab. Da überkam es ihn mit Macht und er öffnete seine Hose. Sie bürstete ihr wildes Haar und betrachtete sich noch eine Weile stumm im Spiegel. In diesem Augenblick war sie die Bild gewordene wollüstige Fantasie eines großen Künstlers.

Er spritzte aufstöhnend in den Eukalyptusbusch und hatte im selben Moment eine Vision von Gottes Herrlichkeit.

In der Fremdenlegion war ER ihm nämlich abhanden gekommen. Aber jetzt hatte er, Manz, SEIN schönstes Kunstwerk gesehen und sich in seiner höchsten Lust mit ihr und IHM vereinigt. Leider dauerte es wie gesagt nur eine kurze Ewigkeit und keine ganze. Aber die reichte, um ein Leben lang davon zu träumen und sich alle nur erdenklichen Hoffnungen zu machen. Gut, er war deutlich älter als sie, aber er hätte sie bis ans Ende ihres Lebens auf Händen getragen. Und wenn sie ihn geheiratet hätte, hätte sie ganz bestimmt nicht so ein schlimmes Ende genommen. Aber er war überzeugt, dass er ihr mit seinem Gehalt als Dorfpolizist sowieso zuwenig gewesen wäre. Wie oft hatte er vergebens über seinem abgegriffenen Sparheft gesessen und sehen müssen, dass der Betrag immer etwa gleich kümmerlich blieb, egal wie sparsam er lebte. So blieb er Junggeselle und sie sein ewiger Traum, ohne dass er je mehr als eine Handvoll scheuer Sätze mit ihr gewechselt hätte. Er tröstete sich damit, dass er eben mit seinem Beruf verheiratet war.

Manz seufzte, bekreuzigte sich und sprach ein kurzes Gebet für die tote Füchsin.

Danach dachte er nichts mehr, sondern konzentrierte sich aufs Aufräumen und Schneewischen. Erst ganz am Schluss konnte er sich nicht beherrschen und fasste sie an.

Ein einziges Mal ihren Körper berühren, so wie er sich das jahrelang erträumt hatte.

Er zog die Handschuhe aus und legte seine zitternden Hände auf ihre Brüste. Er zuckte aber gleich wieder erschrocken zurück, denn ihr Fleisch war so eiskalt, dass es ihn ängstigte und er nun am ganzen Körper schlotterte. Panisch machte er kehrt und rannte zurück auf seinen Polizeiposten.

Sieben Monate später wurde Franz Müller vom Gericht in der Kantonshauptstadt als voll zurechnungsfähig eingestuft und wegen Totschlags im Affekt (und weil er wegen einiger früherer Delikte vorbestraft war) zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Franzlis Mutter saß schmal und klein im Gerichtssaal.

Manz, drei Reihen hinter ihr, nahm mit Befriedigung zur Kenntnis, wie schnell und zuverlässig die Gerechtigkeit in diesem Land arbeitete. Er war zwar bereits seit drei Monaten pensioniert, fühlte sich aber immer noch als ein Teil dieses Ganzen.

EINS

Tanner liebte seit kurzem Spaziergänge. Jeden Morgen, egal bei welchem Wetter, machte er sich auf den Weg. Wie das kam, konnte er sich selber nicht erklären. Die Lust dazu war eines Tages plötzlich da gewesen.

Er lächelte, während er sich die Schuhe anzog.

Früher hatte er Spaziergänge gehasst, sie als die langweiligste Sache auf der Welt empfunden. Direkt qualvoll.

Jetzt wählte er bereits zwischen sechs Standardspaziergängen, die sich sowohl in Länge, Topographie als auch im Erlebnispotential deutlich unterschieden. Heute hatte er sich für die kürzeste, dafür aber meistens bei weitem erlebnisreichste Variante entschieden, nämlich die durchs Dorf. Die nächst längeren Spaziergänge führten entweder um das Dorf herum oder am See entlang bis zum Ringmauerstädtchen, wo man deutsch sprach und die besten Gipfelis weit und breit erhielt. Oder in die entgegengesetzte Richtung bis zum Städtchen auf dem Hügel mit seiner eindeutig französischen Ausprägung, wo man die besten Croissants weit und breit bekam. Diese beiden Spaziergänge erforderten jedoch eine Rückfahrt mit der Eisenbahn, denn wer geht beim Spazieren schon gerne denselben Weg zurück. Der längste Spaziergang führte um den See herum, was allerdings einen ganzen Tag in Anspruch nahm. Eine weitere Variante führte hinaus aufs melancholische Land, weg von Dorf und See. Dazu hatte er heute aber keine Lust, denn in der Nacht war der erste Schnee gefallen. Wiesen und Dächer waren weiß. Und es war ungewöhnlich still, denn noch waren die Straßen nicht geräumt.

Er war gespannt, wie sich das kleine Dorf präsentieren würde, da es hier laut Aussage der Einheimischen äußerst selten schneite. Auf jeden Fall nicht, seit Tanner in dem altehrwürdigen Maison Blanche Wohnsitz genommen hatte. Die Leute sagten, dass es vor Jahren einen Jahrhundertschneefall gegeben und auf den Straßen über ein Meter Schnee gelegen habe. Drei Tage sei das Dorf damals von der Außenwelt abgeschnitten gewesen. Neun Monate später seien dann übrigens überdurchschnittlich viele Kinder zur Welt gekommen. Diese Information hatte er von Solène erhalten, und sie lachte dabei ziemlich anzüglich. Seither soll hier kein Schnee mehr gelegen haben. Vielleicht mal ein bisschen Puderzucker. So nannten es die Leute, wenn ein bisschen Schneestaub die Landschaft bedeckte.

Das hier war kein Schneegebiet, es war eine Nebellandschaft.

Offiziell hätten eigentlich alle französisch sprechen müssen. Das Dorf lag exakt an der Sprachgrenze. Allerdings auf der falschen Seite.

Tanner schloss die schwere Haustür hinter sich und atmete die Schneefrische.

Gerade passierte sein Nachbar auf dem Schnee bedeckten Trottoir das offene Tor der Einfahrt. Er schleppte eine schwere Kiste und stieß über dem roten Wollschal, der seine Standeskleidung zierte, keuchend weiße Wolken in die Luft. Es handelte sich um keinen geringeren als den Chefkoch und Inhaber des französischen Nobelrestaurants, das in Sichtweite von Tanners Wohnsitz lag, ganz am Anfang des Dorfes. Sein Wohnhaus dagegen war in direkter Nachbarschaft, dicht neben Tanners Haus. Lediglich ein schmales Gartenband trennte die beiden Häuser voneinander.

Allo! Guten Morgen, Tanner! Gefallen Sie der Schnee? Ist mal eine Wechsel, oder?

Sein Deutsch war fließend, aber nicht immer ganz korrekt. Er war einer der wenigen im Dorf, die wirklich französisch sprachen. Sein Name war Claude Marnier. Die Bewunderer seiner Kochkunst nannten ihn Marnier le Grand. Die Anspielung auf den berühmten Liqueur war durchaus beabsichtigt.

Kommen Sie doch auf ein Glas Wein, wenn Sie eine Weile haben. Muss dringend eine Sache fragen, bitte.

Ja, ja. Ich komme zum Kaffee. Nach dem Spaziergang. Bis dann! Tanner verließ das Grundstück durch die Schnee bedeckte Einfahrt, ging aber in die andere Richtung als Marnier. Heute knirschte der Kies nicht unter seinen Füßen, denn der Schnee dämpfte alle Geräusche. Nur der Brunnen plätscherte unbeeindruckt seine ewige Melodie.

Dreihundert Meter weiter vorne, an der einzigen nennenswerten Kreuzung der Dorfstraße, wechselten in diesem Augenblick die Ampeln auf grün, und eine Reihe von Lastwagen und Personenwagen fuhr betont langsam und erstaunlich geräuscharm durch das Dorf. Tanner schüttelte den Kopf und steckte die Hände in die Taschen seines warmen Wollmantels.

Leider entsprach diese Situation ganz und gar nicht dem Alltag, hatte es die Gemeinde vor Jahrzehnten doch verpasst, sich anlässlich der nationalen Landesausstellung im Welschland vom Kanton eine Umfahrungsstraße schenken zu lassen. Man hatte damals Angst, dass kein einziger Gast mehr den Weg ins Dorf finden würde. Das heißt, die Gastronomen und Hotelbesitzer hatten Angst und das notwendige Gewicht im Gemeinderat. Also wurde das Geschenk und damit die entlastende Umfahrungsstraße abgelehnt.

 

Tanner ärgerte sich jedes Mal, wenn er an diese Dummheit dachte.

Seit nun vor ein paar Jahren die Autobahn gebaut worden war, hatte sich die Situation sogar noch verschärft, und das Dorf war heute doppelt gestraft. Viele der potentiellen Gäste rasten auf der Autobahn vorbei, ohne die Existenz des gastlichen Dorfes auch nur zu ahnen. Dafür donnerten die Lastwagen, die für die Güterversorgung des Bezirks zuständig waren, nach wie vor über die enge Dorfstraße. Unangenehm war das natürlich für alle. Für die Restaurants und das Hotel jedoch war es eine regelrechte Katastrophe. Früher hatten die vielen Welschlandreisenden hier gerne einen kürzeren oder längeren Zwischenhalt gemacht. Tatsächlich verband eine lange, gewachsene Tradition den Reiseverkehr mit dem Dorf. Zu Napoleons Zeiten war zum Beispiel das Haus, in dem Tanner wohnte, Herberge und Relaisstation für die Postkutschen aus und nach Paris gewesen. Solche Dinge prägten den Charakter eines Dorfes nachhaltig und waren nicht beliebig ersetzbar.

Der Hotelparkplatz hinterm Hirschen war praktisch leer. Hingegen parkten auf dem weiter vorne gelegenen Kneipenparkplatz einige Autos, zwei Traktoren und ein Jeep.

Keine gute Saison für das Hotel, dachte Tanner. Für die notorischen Dorfsäufer war allerdings immer Hochsaison. Die Fahrzeuge kannte er bereits alle, denn die standen praktisch jeden Tag hier.

Er grüßte den Besitzer der Autowerkstatt, der mit einem überdimensionierten Reisigbesen den Platz vor der Werkstatt vom Schnee befreite. Den alten Ford hatte Tanner hier ohne weitere Bedenken zur Wartung und zur Reparatur gebracht. Von seinem neuen Wagen allerdings hätten die mit Sicherheit nichts verstanden. Also brachte er ihn lieber nicht hierher, was ihm natürlich etwas übel genommen wurde. Trotzdem grüßte der Werkstattbesitzer freundlich zurück. Gelästert wurde auch in diesem Winkel der Erde ausschließlich hinterm Rücken.

Tanner überquerte diagonal die Kreuzung und hielt auf den Eingang zum einzigen Laden des Dorfes zu. Aus Solidarität und Sympathie kaufte er dort so oft wie möglich ein. Schlimm, wenn dieser Laden auch noch dicht machen müsste. Zudem genoss er die kleinen Schwätzchen mit den attraktiven Zwillingsschwestern, die den Laden gemeinsam führten. Für die Dorfbewohner hatte das Geschäft ebenfalls einen doppelten Nutzen: Für sie stellten die Zwillinge und ihr Laden so etwas wie eine letzte dörfliche Informationsbörse dar. Am heutigen Morgen war viel los, und als Tanner eintrat, verstummten die Gespräche verdächtig schnell.

Tanner grinste.

Ach ja, stimmt. Ich bin ja ein Fremder.

Tanner machte sich da keine Illusionen und wusste, dass sich auch in hundert Jahren nichts an der Situation ändern würde. Um dazuzugehören hätten seine Vorfahren schon mindestens Fähnchen schwenkend Napoleon die Ehre erweisen müssen, als der mit seinem Achtspänner durch das Dorf donnerte und vor Schreck erstarrte Hühner überfuhr.

Er ließ sich also nichts anmerken und sprach laut und deutlich einen freundlichen Gruß in die Runde, den man entweder mit gar keiner Reaktion oder höchstens einem leichten Nicken beantwortete. Nur die beiden Schwestern machten das Spielchen nicht mit und begrüßten ihn herzlich. Sie waren eben gute Geschäftsfrauen. Und auch sonst waren sie mit den meisten Dorfbewohnern nicht zu vergleichen.

Andererseits konnte er es den Leuten nicht verdenken. Zu viele Gerüchte waren über ihn im Umlauf, und er hatte noch keines widerlegt. Man wusste zwar, dass er vor einiger Zeit, nach einem polizeilichen Dienst in Marokko, in dieser Gegend gestrandet war. Man wusste, dass er danach maßgeblich an der Aufklärung der schrecklichen Kindsmorde in der nachbarschaftlichen Gemeinde beteiligt gewesen war und sich dabei in Elsie Marrer, eine junge attraktive Mutter eines dieser ermordeten Kinder, verliebt hatte. Elsie war hier im Dorfe wohlbekannt – und auch wohlgelitten. Sie wurde dann – so munkelte das Dorf über Elsies Schicksal – nicht ganz ohne Tanners Schuld vom Mörder in einem Eiskeller grausam gefangen gehalten und sei nach über einem Jahr im Koma schließlich im Krankenhaus verstorben. Elsies andere Kinder lebten seither bei Verwandten. Dass er diese Kinder nicht adoptiert hatte, wenn er sich schon einmal mitschuldig gemacht hatte, war ein weiterer Punkt, über den man sich den Mund zerriss. Dann gab es natürlich noch Spekulationen über das Vermögen, das er angeblich angehäuft hatte. Auf jeden Fall war es für alle Dorfbewohner offenkundig, dass er nicht zu arbeiten brauchte. Auch fuhr er eines der elegantesten Autos in der Gegend. Woher kam nur all dieses Geld? Tanners Vergangenheit präsentierte sich folglich mit einer Fülle interessanter Fragezeichen. Dass es ihm offensichtlich vollkommen egal war, was die Leute dachten, machten sie ihm zum größten Vorwurf. Denn für alle anderen war doch genau das am wichtigsten. Die einfach gestrickte Beweisführung endete damit, dass Tanner sichtlich anders war als die Dorfbewohner oder – was auf das Gleiche hinauslief – gar nicht dazugehören wollte. Damit hatten sie sich in ihren Augen auch das Recht erworben, ihn abweisend zu behandeln.

Tanner füllte wie immer einen großen Einkaufskorb mit allerlei Leckereien und brachte ihn zur Kasse. Später würde sich ein Schüler oder eine Schülerin vom gegenüberliegenden Schulhaus ein wenig Taschengeld dazuverdienen und die Einkäufe in seinen Hausflur stellen. Solène, die um drei Minuten ältere Zwillingsschwester, saß an der Kasse.

Tanner, haben Sie eine Katze?

Nein, Solène. Ich habe keine Katze. Wieso? Haben Sie eine zu verschenken?

Also, erstens bin ich Solange. Solène steht dort hinten und räumt Regale ein. Dass Sie uns immer noch nicht unterscheiden können!

Sie schüttelte dramatisch ihren hübschen Kopf.

Daraus schließe ich, dass wir Ihnen immer noch so gar nichts bedeuten. Was machen wir bloß falsch?

Tanner war felsenfest davon überzeugt, sie richtig erkannt zu haben. Schließlich steckte in Solènes Schürze immer ein roter Kugelschreiber. Solange zog Bleistifte vor. Auch war ihr Gesicht deutlich schmaler, so dass die relativ hohen Backenknochen, die beide besaßen, bei Solange ausgeprägter wirkten. Außerdem gab es gut unterscheidbare körperliche Merkmale, auch wenn sich die beiden tatsächlich auf den ersten Blick wie ein Ei dem anderen glichen. Und selbst bei Eiern gibt es bekanntlich Unterscheidungskriterien. Doch die Zwei spielten für ihr Leben gerne dieses Verwechslungsspielchen und er – er machte gerne mit.

Oh, das tut mir leid, Solange. Ich muss euch einfach mal besser kennen lernen, dann werde ich euch auch nicht mehr verwechseln.

Tun Sie das, Monsieur, tun Sie das! Aber nicht immer nur darüber reden!

Schon allein diese Aussage bewies, dass es sich um Solène handelte. Nie und nimmer hätte Solange so frech geflirtet.

Die beiden Schwestern warfen sich durch die Regale hindurch einen Blick zu und lachten übermütig. Die Kundschaft blickte missbilligend, und Solène senkte ihre Stimme.

Ach ja, wegen der Katzen. Nein! Ich habe keine zu verschenken. Aber … im Dorf sind letzte Nacht offenbar alle Katzen verschwunden. Auf einen Schlag. Ist das nicht sonderbar?

Ach so. Jetzt verstehe ich.

Tanner blickte sie an und wartete, bis sie wieder zu lachen begann, aber sie meinte es ernst.