Wintertauber Tod

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Aus der Reihe: Simon Tanner ermittelt #3
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DREI

Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe und katapultierte das kleine Dorf ins Rampenlicht der Nation. Da konnte Serge Michel toben und schreien wie seine Lunge Sauerstoff hergab. Ändern konnte er nichts mehr. Und natürlich wollte es am Ende keiner gewesen sein.

Ja, Herrgott im Himmel! Die Nachricht hat wohl kleine Füße bekommen und ist in Eigenregie zur Redaktion dieser Scheißzeitung marschiert, oder was? Ich verlange vom Polizeipräsidenten eine offizielle Untersuchung. Und zwar sofort! Und wenn er die nicht bewilligt, hat er heute Abend meine Kündigung auf dem Schreibtisch, und ich gehe endlich nach Indien und finde mich selbst! Und dann wehe euch!

Michel holte geräuschvoll Luft. Das gesamte Kommissariat saß still auf den Stühlen oder stand unbeweglich und wartete, bis der Anfall vorüber war. Nur Michel tobte wie ein wildgewordener Stier.

Mein Gott, ist das denn zu fassen? Anfänger! Alles Anfänger und Idioten. Dilettanten aller Welt: vereinigt euch. Wir stopfen euch alle in eine große Rakete und jagen euch mit einem großen Knall zum Mond. Oder besser noch: Wir verfrachten alle in ein Schiff und verbannen euch auf eine einsame Insel, das ist billiger.

Außer sich vor Wut blickte Michel in die Runde.

Habe ich nicht laut und deutlich verboten, über diesen Fall zu sprechen? Das totale Informationsverbot habe ich verhängt, absolute Plaudersperre. Und? Gilt mein Wort nichts mehr? Was haben wir jetzt? Den größten Informationsgau aller Zeiten. Da, seht euch die Überschrift an!

Michel pfefferte die Zeitung quer durch den Raum.

Wisst ihr, was jetzt passiert? Die Presse wird die nächsten Tage das Dorf belagern und die Bewohner fest im Griff haben. Anständige Polizeiarbeit können wir sowas von vergessen, das glaubt ihr gar nicht. Wenn das Interesse dann nachgelassen hat, wird man das Dorf fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Die Spuren werden zertrampelt sein, und vor lauter falschen Behauptungen rachsüchtiger Dorfbewohner und durchgeknallten Theorien karrieregeiler Journalisten wird die Wahrheit sich verflüchtigt haben wie das Tröpfchen edler Duftstoffessenz in einem Schweinestall.

Dieser etwas unglückliche Vergleich wollte erst einmal verdaut werden, weswegen die verdatterten Zuhörer mit Verspätung feststellten, dass Michel, der Wütende, verstummt war. Die plötzliche Stille war fast beängstigender als sein Herumbrüllen. Alle Blicke galten nur ihm.

Was guckt ihr? Hat einer eine Bibel da? Und zwar das alte Testament. Ich muss dringend etwas nachsehen. Ich brauche sofort eine Bibel. Mensch, sucht eine Bibel!

Das war das erlösende Stichwort. Endlich gab es etwas zu tun. Alles kam in Bewegung, bückte und reckte sich, wühlte in Schubladen und Schränken, deren Untiefen man schon länger nicht mehr ausgelotet hatte. Einer, der um die Ecke wohnte, telefonierte sogar mit seiner Frau. Aber es war wie verhext: keine Bibel weit und breit.

Ein Weilchen schaute Michel dem Treiben zu. Dann stand er auf. Ich sehe, ihr habt keine. Gebt euch keine Mühe. Ich gehe jetzt und besorge mir eine. Irgendwo wird ja in dieser gottlosen Zeit eine Bibel aufzutreiben sein.

Wütend stapfte er zur Tür hinaus.

Tanners Vermutung über die Beschaffenheit der Farbe hatte sich bestätigt. Es war eindeutig Blut. Ob es tatsächlich von den verschwundenen Katzen stammte, wie die Sensationspresse behauptete und Tanner vermutete, musste zuerst noch durch weitere Untersuchungen ermittelt werden.

Das Dorf befand sich in Aufruhr. Innerlich. Äußerlich schien es in einen Zustand der Lähmung gefallen zu sein. Sie lag bleiern über den Straßen und Gärten. Die Fensterläden der meisten Häuser waren auch am helllichten Tag geschlossen, so dass das stets rundum verriegelte Herrschaftshaus beim Bahnhof jetzt nicht einmal mehr besonders auffiel. Die Straßen waren wie leergefegt, einzelne Familien Hals über Kopf abgereist. Einige Dorfbewohner hatte man mit Nervenzusammenbrüchen in die Klinik einliefern müssen. Der Gemeinderat beschloss daraufhin, die Schule vorerst zu schließen.

Es hatte Tanners ganze Überredungskunst gekostet, die beiden Schwestern zu überzeugen, trotz allem ihren Laden zu öffnen.

Das Dorf braucht jetzt dringend zumindest scheinbare Normalität als Gegenpol.

Ihr müsst den Laden öffnen. Die Leute brauchen einen Ort, wo sie reden, wo sie sich austauschen können. Das Schlimmste, was jetzt passieren kann, ist, dass sich jeder zu Hause verschanzt und einkapselt. Wisst ihr was? Wir machen aus eurem Laden ein richtiges Informationszentrum.

Meinen Sie wirklich, Tanner? Mir macht das alles Angst. Lasst uns doch lieber in den Süden fahren. Das haben Sie doch selber vorgeschlagen.

Aber Solène, das war vor ein paar Tagen. Heute haben wir doch eine ganz andere Situation. Es kann nicht Ihr Ernst sein, jetzt wegfahren zu wollen.

Nein. Sie haben ja Recht. Was meinst denn du, Solange?

Ich finde, Herr Tanner hat Recht. Wir machen den Laden auf und eröffnen eine richtige Nachrichtenbörse. Ich habe auch schon eine Idee.

Im Laufe eines einzigen Nachmittags räumten die beiden den seitlichen Lagerraum des Ladens leer, liehen sich Tische und Stühle aus dem Schulhaus und eröffneten ein kleines Café. Die Längswand diente als großes Anschlagbrett, dort hingen bereits sämtliche Zeitungsartikel zum Dorf. Kaffee und Tee wurde in der Wohnung gebraut und in großen Thermoskannen ins Café gebracht. Alle anderen Arten von Getränken waren im Laden ja bereits vorhanden. Desgleichen Biskuits und Kuchen. Gegen Abend wagten sich bereits einige Leute aus ihren Wohnungen heraus, saßen ein Weilchen im neuen Café beisammen und redeten über die ganze Sache. Solange kümmerte sich ab sofort ausschließlich um das Kommunikationszentrum – dieses Wort sprach sie mit Stolz aus –, und Solène schmiss den Laden.

Das Leben der Menschen im Dorf hatte sich seit dem Morgen schlagartig verändert.

Wie fröhlich (zumindest über weite Strecken) war der Abend vor zwei Tagen gewesen, als Michel und die beiden Schwestern bei Tanner essen waren. Tanner hatte einen ganzen Nachmittag mit den Vorbereitungen zum großen Gastmahl zugebracht. Die Lammkeule spickte er mit Knoblauchzehen, pinselte sie dann mit einer großzügigen Portion einer selbstgemischten Honig-Senf-Rosmarin-Sherry-Paste ein und garte sie beinahe vier Stunden lang äußerst langsam im Ofen – wobei er selbstverständlich nicht vergaß, sie alle zwanzig Minuten mit dem eigenen Saft zu übergießen. Als Beilage bereitete er ein Risotto radicchio rosso vor. Des Weiteren kochte er getrocknete Zwetschgen in Rotwein und verlas Bohnen sorgfältig von Hand. Das eine Ende der Bohnen schnitt er ab; die natürliche Spitze des anderen Endes jedoch ließ er unversehrt. Im Wasserdampf nur kurz der Hitze ausgesetzt, blieben die Bohnen schön knackig. Jetzt nur noch schnell mit Eiswürfelwasser abgeschreckt, damit sie ihre schöne Farbe behielten; eine große Zwiebel in Butter angeschwitzt; die Bohnen kurz darin geschwenkt; mit Mangold, Frühlingszwiebeln, Lauch, Petersilie, verschiedenen Gewürzen, Olivenöl, Salz, Pfeffer und acht frischen Eiern vermengt – und fertig war die Frittata alle erbe, die kalt und in Streifen geschnitten ein Teil des Vorspeisentellers werden sollte. Dann wurden von Tanner noch Zucchini in dünne Streifen geschnitten, gesalzen und einzeln in Olivenöl gebraten. Die dünnen Fischfilets würzte er leicht und schweißte sie in Folie ein, um sie später zum zweiten Gang nur kurz in heißes Wasser zu tauchen. Diese Methode garantierte, dass auch nicht ein einziges Geschmacksatom verloren ging.

Die beiden Frauen waren viel zu früh gekommen und hatten Tanner empfindlich bei den letzten Vorbereitungen in der Küche gestört. Er war gerade beim Herstellen einer eigenen Olivenpasten-Kreation aus schwarzen und grünen Oliven, Walnüssen, Pinienkernen, fein geschnittenem, rohen Fenchel und ebenso feingeschnittenen, getrockneten und ungeschwefelten Aprikosen. Zum Glück hatte er die gebrannte Crème gerade noch fertig bekommen, bevor die beiden kichernden Schwestern ihren Auftritt machten, denn in ihrer Anwesenheit hätte Tanner sich nicht mehr zu der Konzentration befähigt gefühlt, die unabdinglich war, damit eine Crème brûlée gelang.

Und Michel?

Michel erschien tatsächlich mit dem Glockenschlag, und sein Auftritt im geliehenen Smoking – Michel hatte die Aufforderung tatsächlich ernst genommen – war natürlich eine kleine Sensation: Die beiden Damen waren von seiner imposanten Erscheinung und von seinem Charme hingerissen. Vor allem Solène hing entzückt an seinen Lippen, und es schien, als besäße sie die Gabe, seine Inspiration ins Unendliche zu steigern. Bereits nach zwei Flaschen Weißwein und drei Flaschen Rotwein (allesamt vom Weingebiet auf der gegenüberliegenden Seeseite) begann er von seinem glücklichen und ereignisreichen vorherigen Leben als Maharadscha des kleinen Königsstaats Phukhtu in Indien zu berichten. Seine ausufernden Abenteuergeschichten kamen derart bestechend und detailgetreu daher, dass sich selbst Tanner dann und wann dabei ertappte, wie er ihm Glauben schenkte. Michel hatte sich auch in allen anderen Belangen übertroffen, und so übernachtete er in Tanners Wohnzimmer und schlief, die gesamten indischen Wald- und Holzreserven zersägend, seinen gewaltigen Lügenrausch aus. Eine Heimfahrt im Auto wäre einer Kriegserklärung an Land und Leute gleichgekommen. Deswegen konnten die beiden Männer erst am nächsten Morgen ihre beruflichen Probleme erörtern. Das heißt, es sprach vorwiegend Tanner, denn Michels Bewusstsein war zu Beginn des Frühstücks noch stark umnebelt. Die Unterlagen über die seltsamen Todesfälle im städtischen Spital (vorwiegend Männer) hatte er sowieso vergessen. Er habe sich eben um den Smoking kümmern müssen und darüber das Wichtigste vergessen. So die Ausrede. Allerdings lieferte auch das Dorf genug Gesprächsstoff. Am Abend zuvor hatten die beiden Schwestern natürlich immer wieder über die mysteriösen Vorgänge diskutieren wollen, was Tanner und Michel jedoch teils aus Schweigepflicht, teils um die Stimmung nicht zu verderben, abblockten. Jetzt konnten sie endlich ungestört reden.

 

Gegen Ende des Frühstücks erhielt Michel den Anruf vom Labor. Ich habe es doch geahnt, Michel. Und die Schlafmützen wissen immer noch nicht, ob es Katzenblut ist?

Nein. Ich kann auch nichts dafür, das muss noch weiter untersucht werden.

Nun gut, wir werden sehen. Aber es kann doch kein Zufall sein, dass kurz vorher jemand an die zwanzig Katzen verschwinden lässt, oder? Der hat die doch geschlachtet und mit dem Blut die Zeichen gemalt, da mache ich jede Wette.

Du sprichst von einem Monster, von einer Bestie, Tanner.

Wenn überhaupt, so spreche ich von einem kranken Menschen. Aber wenn du es vorziehst, kannst du gerne von der Bestie Mensch sprechen. Diese dünne Humusschicht aus Erziehung und Kultur, die uns vom Verhalten einer Bestie trennt, kann je nach Situation blitzschnell –

Bitte, Tanner, heute Morgen ertrage ich keine Vorträge. Ich weiß, es ist dein Lieblingsthema, du könntest mir jetzt stundenlang wissenschaftliche Fakten um die Ohren hauen und mich am Schluss mit den farbigsten Beispielen k.o. schlagen, um zum Wiederaufwachen dann noch das hohe Lied auf Shakespeare anzustimmen, deinen literarischen Lieblingsgott, der all das schon gewusst hat: die Natur, die machtvoll ist und böse, ebenso die Natur des Menschen, und so weiter. Aber verschone mich heute bitte. Ich bin nicht in Stimmung. Zudem kenne ich deinen Vortrag in- und auswendig. Mal ganz was Praktisches: Hast du eine Schachtel Aspirin?

Muss es eine ganze Schachtel sein oder genügen zwei Tabletten? Ach, Tanner jetzt sei nicht beleidigt. Du hast ja Recht mit allem, aber ich habe einfach Kopfschmerzen. Ja, es genügen zwei Tabletten.

Tanner wartete, bis Michel seine beiden Tabletten geschluckt hatte.

Wie denkst denn du über die Sache?

Ja, wie denke ich? Da hat jemand einem ganzen Dorf den Krieg erklärt, denke ich.

Und wieso sollte ein Einzelner so was tun?

Michel schob ein Stück Brot mit Marmelade in den Mund.

Er fühlt sich vielleicht nicht besonders geliebt.

Und dann stiehlt man zwanzig Katzen, schlachtet sie und beschmiert mit dem Blut die Haustüren?

Er ist eben krank. Wie du in deinem Vortrag sicher schlüssig bewiesen hättest, wenn ich dich gelassen hätte. Abgesehen davon – wir wissen immer noch nicht, ob es wirklich Katzenblut ist.

Okay. Vielleicht hast du Recht, Michel. In diesem Dorf würde es mich auch gar nicht wundern, wenn jemand einen solchen Hass entwickelte.

Tanner überlegte einen Moment.

Du kennst ja sicher den Satz, dass es zur Erziehung eines Kindes ein ganzes Dorf braucht.

Nein, habe ich noch nie gehört. Stimmt das denn?

Natürlich stimmt das. Das genau ist ja heute das Problem.

Was ist das Problem?

Dass es zumeist dieses Dorf nicht mehr gibt.

Welches Dorf meinst du?

Michel sprach mit vollem Mund. Er war so aufs Essen konzentriert, dass sein Gehirn wieder einmal ausgeschaltet war.

Tanner seufzte.

Also, soll ich es dir wirklich erklären?

Selbstverständlich. Ich lerne gern dazu.

Mit dem zitierten Satz ist die Erkenntnis gemeint, dass ein Kind, um die Vielfalt des Lebens und vor allem auch die Vielzahl der notwendigen Verhaltensregeln zu lernen und zu verinnerlichen, eine gewisse Anzahl miteinander kommunizierender Menschen braucht, die es über eine lange Zeitspanne seines Lebens hautnah erleben und damit auch die Fähigkeit entwickeln kann, die verschiedensten Arten von Beziehungen aufzubauen. Traditionell gehören – neben den Eltern und vielen Geschwistern – die Großeltern, möglichst viele Großtanten und Großonkel, Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins dazu. Sowie Nachbarn, Freunde und Bekannte. Ein ganzes Universum eben, auf das sich ein Kind beziehen kann, und von dem es gleichsam allmählich geformt und erzogen wird. Die Regeln, die zum Beispiel die Eltern aufstellen, können vom Kind in genau dieser Form oder als Varianten bei den anderen erlebt werden. Und so lernt der kleine Mensch sinnfällig durch gelebte Beispiele und wird durch ein vielfältiges Beziehungsnetz mit sich und der Welt konfrontiert. Er lernt die Regeln, all die Codes, er lernt Einfühlung und so weiter. Verstehst du, Michel? Soll ich noch eine neue Marmelade aufmachen?

Nein, nein, mir reicht diese. Danke. Und was hat das jetzt alles mit unserem Dorf zu tun?

Nun, ich habe dir eben einen positiven Verlauf geschildert. Einen Modellfall, sozusagen. Das Prinzip hängt gar nicht mal so sehr von der Sippe, respektive Großfamilie, ab, die es ja heute bekanntlich in der beschriebenen Form nur noch selten gibt. Dieses sogenannte »Dorf« kann in der Stadt auch ein kleines, vertrautes Quartier sein, ein Wohnblock oder eben ein veritables Dorf wie dieses hier.

Tanner ließ Michel etwas Zeit. Dann erklärte er weiter.

Da, wo es dieses Dorf, in welcher Form auch immer, eben nicht gibt, entstehen die Schwierigkeiten.

Michel schaute ihn fragend an.

Ja, verstehst du denn nicht? Es kann ja auch einmal schief laufen. Ein Einzelner wird von seinem Dorf aus irgendeinem Grund abgelehnt, ja vielleicht sogar gequält. Es wurde ihm oder seinen Lieben ein gravierendes Unrecht angetan, was weiß ich. Die Familie wurde ausgegrenzt, aus religiösen, politischen und anderen Gründen. Es gibt Orte, da reicht dafür schon die falsche Hautfarbe. Verstehst du? Insofern könntest du Recht haben.

Womit könnte ich Recht haben?

Tanner verdrehte die Augen.

Ja, du hast doch gesagt, er fühlt sich vielleicht nicht besonders geliebt.

Ach so, ja genau. So könnte es sein.

Wie geht ihr denn jetzt vor, Michel?

Michel lehnte sich zurück und steckte sich ein letztes Stück Brot in den Mund.

Ich sehe es doch auf deine Stirn gemeißelt, dass du bereits einen Schlachtplan hast, und da will ich dir natürlich nicht vorgreifen. Du, übrigens, die Marmelade schmeckt ausgezeichnet. Hast du die selbst eingemacht?

Nein, die hat mir erst gestern Abend Solange mitgebracht. Sie hat sie eingemacht. Was ich damit sagen will: Wir haben das Glas gerade erst aufgemacht.

Aha. Solange kann also gut Marmelade einkochen. Sieh an. Schade, dass das Glas jetzt schon leer ist. Aber sie kocht dir sicher noch eine Marmelade, meinst du nicht? Wenn du sie freundlich bittest? Was dir sicher nicht schwer fallen wird.

Michel versuchte sich an einem ernsten Gesicht, doch das Lachen siegte.

Auf deine Anspielungen kann ich verzichten, Serge Michel. Jetzt mal ernsthaft. Also, mein Vorschlag: Lasst sämtliche Zeichen fotografieren. Ich zeige die Bilder dann einem Semiotiker.

Michel verschluckte sich.

Semi … was?

Ein Semiotiker kann uns erklären, was die Zeichen bedeuten. Falls sie überhaupt etwas bedeuten. Als sie zuerst entdeckt wurden, meinte Solange ganz intuitiv, dass sie etwas mit dem Tod zu tun haben.

Aha. Mit dem Tod.

Michel guckte bedeutungsvoll an die Küchendecke und wippte mit dem Kopf.

Wusste ich’s doch.

Was wusstest du, Michel? Kannst du etwas deutlicher werden, bitte?

So. So. Solange. Sie gefällt dir also?

Ja, Michel, stell dir vor: Die beiden Schwestern gefallen mir. Was genau möchtest du wissen? Teilen wir uns jetzt die Frauen auf? Welche möchtest du denn haben?

Nein, nein. Wo denkst du hin? Bitte, verschon mich mit so was. Ich dachte nur, dir gefällt vielleicht Solange besser als Solène. So als Typ, meine ich, ganz prinzipiell. Weil sie stiller ist. Irgendwie mehr Tiefe hat und –

Michel, du wolltest einen Vorschlag von mir.

Entschuldige, mein Kopf. Sprich weiter, Meister.

Tanner hob die Augenbrauen.

Michel tat ganz harmlos.

Bitte, ich höre.

Also, es gibt zwei Möglichkeiten: Du tust nichts, wartest auf den nächsten Zug des Täters und beginnst dann vielleicht sein Motiv oder seine Stoßrichtung zu erkennen. Oder du schickst sofort deine Leute in alle Familien und lässt sie möglichst viele Geschichten über Beziehungen, Streitigkeiten und Händel zusammentragen. Wir werten dann alles gemeinsam –

Michel unterbrach ihn.

Moment mal. Was heißt da: Wir werten aus? Arbeitest du wieder bei der Polizei?

Nein. Aber ich bin dein Freund, und vier Augen sehen mehr als zwei, oder?

Michel knurrte irgendetwas Unverständliches und verdrehte die Augen. Tanner nahm es als Zeichen seines Einverständnisses.

Also, wo war ich stehen geblieben? Ach ja. Wir werten aus, und wenn wir Glück haben, finden wir was. Abgesehen vom Verschwinden der Katzen ist ja noch kein Verbrechen geschehen. Blutige Zeichen an Türen schmieren ist natürlich eklig und eine Straftat, aber noch lange kein kapitales Verbrechen. Apropos, wieso musst du dich eigentlich mit der ganzen Sache beschäftigen?

Weil die anderen im Moment überbeschäftigt oder unterbesetzt sind. Was weiß denn ich. Dem Michel kann man ja alles anhängen.

Und für welche Variante meines Vorschlages wirst du dich entscheiden?

Michel rieb sich die Hände.

Ich schicke sofort meine Leute los, die haben eh nichts zu tun.

Gut. Mach das. Soll ich noch mehr Kaffee kochen?

Michel nickte, und während Tanner den Kaffee zubereitete, berichtete er von seinen bisherigen Erkenntnissen über das Verschwinden von André Tillieux. Michel hörte andächtig zu, er sprach erst, als Tanner geendet hatte.

Viel ist das nicht.

Ich weiß, es ist wenig, aber anscheinend ist Monsieur Marnier in Schwierigkeiten. Welcher Art die sind, weiß ich noch nicht. Aber das kriege ich bald heraus.

Die Sache wird hoffentlich nicht auch noch in meiner Abteilung landen.

Wie kommst du denn darauf?

Ich habe ein ungutes Gefühl. Ich kenne leider viele Fälle, die ganz genauso anfangen und dann bei der Mordkommission enden.

Und genauso viele, die ganz harmlos enden.

Dein Wort in Gottes Ohr.

Wohin, bitte?

Du verstehst schon.

Später am selben Tag, nachdem er stürmend das Kommissariat verlassen hatte, steuerte Michel sofort die größte Buchhandlung der Stadt an, die unweit seines Büros lag. Er stellte sich breitbeinig vor eine der mit Information beschrifteten Theken und verkündete der jungen Buchhändlerin, deren Wangen rot leuchteten wie bei einem auf Hochglanz polierten Weihnachtsapfel, gebieterisch sein Begehr.

Michel stellte sich das vor wie in einer Kneipe, wenn er ein Bier verlangte. Auch dort bestellte er an der Theke und bekam das Gewünschte prompt vor die Nase gestellt. Hier bestellte er eben eine Bibel, also würde er auch eine Bibel bekommen.

Als die junge Frau endlich wieder erschien, trug sie einen Riesenstapel Bücher in ihrem Arm.

Also, hier sind die neuesten Übersetzungen. Da sind zwei mit Illustrationen. Hier haben wir eine ganz kostbare Ausgabe, in Leder gebunden. Dies hier ist die kleinste, zum Mitnehmen –

Entschuldigen Sie die Unterbrechung, aber ich brauche einfach nur eine stinknormale Bibel. Altes Testament, Moses und all die Typen. Ich muss nämlich dringend was nachlesen, an das ich mich nicht mehr so richtig erinnern kann. Der Religionsunterricht ist doch schon ziemlich lange her, und da ich sowieso die meiste Zeit geschwänzt habe … Verstehen Sie? Ich brauche einfach nur eine Bibel!

Die Buchhändlerin schaute ihn verständnisvoll an.

Meinen Sie vielleicht eine Schulbibel?

Ich weiß es doch auch nicht. Ich dachte, Bibel ist Bibel.

Dann kam ihm der rettende Gedanke.

Wissen Sie, in Hotelzimmern liegen doch auch immer Bibeln in den Schubladen. So was brauche ich.

Ach so. Ja, das haben wir vorrätig. Einen Moment bitte.

Michel setzte sich in ein gemütliches Restaurant, legte die Billigdruckbibel mit abwaschbarem Einband vor sich hin, bestellte ein großes Bier, eine Portion Waadtländer Saucisson und schlug das erste Kapitel auf.

Einen Augenblick lang überlegte er, wie peinlich es wäre, würde ihn jemand hier mit der Bibel in der Hand entdecken, aber schon bald zog ihn der Text ganz in seinen Bann.

Die Waadtländerwurst war bereits kalt, als er sie anschnitt, und – oh Wunder – auch das bemerkte er kaum. Nach dem Essen bestellte er sich noch zweimal ein Bier und anschließend einen Kaffee.

 

Später setzte sich eine junge Frau mit kurzen, schwarzen Haaren und einem auffallend fröhlichen Blick an seinen Tisch. Ihre kleine Freitagtasche – gefertigt aus verblichenen Lastwagenplanen – hielt sie auf dem Schoß, als wäre sie ein kleines Tier.

Irritiert schaute er auf.

Entschuldigen Sie vielmals, wenn ich Sie störe und mich einfach an Ihren Tisch setze, aber ich beobachte Sie jetzt schon seit über einer Stunde und bin fasziniert, wie lange und konzentriert Sie in der Bibel lesen.

Ach so. Ja, ich weiß auch nicht, äh, ich muss jetzt sowieso mal … Entschuldigung, wissen Sie, wie spät es ist?

Ja, es ist gerade vier Uhr vorbei.

Was? Das darf nicht wahr sein. Mein Gott, ich sollte ja schon längst zurück im Büro sein!

Suchen Sie eine bestimmte Stelle?

Nein, das heißt … Wie kommen Sie darauf?

Weil Sie so viel geblättert haben. Da hatte ich den Eindruck, dass Sie eine bestimmte Stelle suchen. Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Ich kenne die Bibel ziemlich gut.

Michel kratzte sich verlegen am Kopf.

Nur Mut. Ich beiße Sie nicht. Ach ja, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Anita Schön.

Ach ja? Wie schön. Also, ich wollte sagen, ich heiße … nein, entschuldigen Sie, ich muss jetzt bezahlen und dann sofort ins Büro.

Anita winkte dem Kellner.

Der Herr möchte seine Rechnung, Carlo. Also, welche Stelle haben Sie gesucht?

Ja, wissen Sie, diese Stelle mit dem Blut. Mit dem Blut an den Haustüren. Ich habe gedacht, das sei eine Geschichte aus dem Alten Testament, und bald habe ich das halbe Buch gelesen, aber die Stelle habe ich immer noch nicht gefunden.

Ich kenne die Stelle, von der Sie reden. Und sie steht tatsächlich im Alten Testament.

Carlo kam herangeschlurft.

Sie möchten die Rechnung?

Bringen Sie mir noch einen Kaffee. Möchten Sie auch etwas trinken, Frau äh, Schön?

Sie nickte.

Nennen Sie mich bitte Anita. Ich möchte einen Schwarztee.

Also, Sie kennen die Stelle? Wo steht denn das mit dem Blut?

Er schob die Bibel über den Tisch zu ihr hinüber.

Sie schob die Bibel zurück.

Zweites Buch Moses, Kapitel zwölf.

Wie bitte?

Das ist die Stelle, die Sie suchen.

Und das wissen Sie auswendig?

Ja. Schauen Sie nach.

Michels Gesichtsausdruck blieb skeptisch, aber er blätterte, fand die Stelle und begann zu lesen.

Er blickte auf und lächelte.

Das ist ja unglaublich. Sie haben Recht. Kennen Sie die ganze Bibel auswendig?

Anita lachte.

Nein, nein. Aber lesen Sie jetzt erst einmal die Stelle. Ich trinke meinen Tee.

Anita hatte längst ihren Tee getrunken, als Michel wieder aufblickte, denn er war ein langsamer Leser.

Er schlug das Buch wütend zu.

Mein Gott, das ist ja furchtbar.

Was meinen Sie?

Na ja, die ganze Geschichte. Ich meine, hier wird von einer ungeheuren Brutalität berichtet. Gegen Unschuldige. Gegen Kinder. Das ist ja ekelhaft. Ekelhaft und tragisch.

Michels Wut war nicht gespielt. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

Carlo, noch ein großes Bier.

Was meinen Sie mit tragisch?

Anita fragte ihn ganz ruhig.

Nun, ich lese hier von den furchtbarsten Brutalitäten, und noch heute geht es dort, wo sich die biblischen Geschichten zugetragen haben, immer wieder schrecklich zu. Und keine Lösung in Sicht.

Und auch noch alles im Namen Gottes. Was soll denn das für ein Gott sein? Schon als Kind kam ich damit nicht klar.

Sie haben natürlich Recht. Dahinter verbirgt sich eine große Tragik. Aber das eine hat nicht zwingend etwas mit dem anderen zu tun. Es handelt sich ja noch nicht um einen heutigen Staat, sondern ganz generell um das auserwählte Volk Gottes als Idee. Abgesehen davon finden sich bei allen Staatsgründungen auf der ganzen Welt üble Dinge. Auch bei unserem Staat. Interessant ist aber tatsächlich die Rolle dieses Gottes, da haben Sie vollkommen Recht.

Auserwähltes Volk Gottes! Wenn ich das schon höre. Das ist doch pubertärer Blödsinn. Und mit was für Folgen! Vor allem: Was ist das für ein Gott, der sein auserwähltes Volk nur aus Ägypten führen kann, indem er alle erstgeborenen Tiere und Menschen ermordet? Und das in einer einzigen Nacht! Stellen Sie sich das vor, Anita. Ein Massaker! Und das soll ein Gott sein, noch dazu ein allmächtiger? Einen Massenmörder nenne ich das, der gehört doch vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag.

Anita lachte.

Sie sind lustig. Aber das Ganze ist doch vor mehr als dreitausend Jahren passiert. Sie müssen es mehr als Mythos sehen. Nicht wie Tagespolitik.

Ach ja? Na, mir soll es egal sein. Ich habe es aus einem ganz anderen Grund gelesen.

Michel nahm sein Bier entgegen und leerte es bis auf die Hälfte.

Warum haben Sie es denn gelesen?

Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich bin Kommissar der Mordkommission, und es hat mit einem komplizierten Fall zu tun. Ach ja. Entschuldigung, ich heiße Michel. Also, Serge Michel. Verstehen Sie? Michel ist mein Nachname.

Ich verstehe. Serge ist ein schöner Name, den man nicht oft hört.

Das stimmt. Mich nennen sowieso alle Michel.

Gut. Dann sage ich Serge. Hat es denn etwas mit dem Blut an den Türen zu tun? Am Anfang erwähnten Sie nämlich das Blut.

Ganz genau.

Michel beugte sich über den Tisch und senkte seine Stimme.

Wir haben nämlichen einen Irren, der Haustüren mit Blut beschmiert.

Ihr habt ihn schon?

Nein, ich meine, es gibt einen, der das tut. Lesen Sie keine Zeitung? Die Presse ist heute voll davon.

Nein, ich habe heute tatsächlich noch keine Zeitung angeschaut. Aha. Und der beschmiert also Haustüren? Mit dem Blut von Lämmern, wie in der Bibel?

Nein, nein. Schlimmer. Wahrscheinlich handelt es sich um Katzenblut.

Das ist ein kranker Mensch.

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich dachte, möglicherweise ist er religiös motiviert.

Und dann? Wäre er dann weniger krank?

Wir wissen noch nichts über sein Motiv, wissen Sie. Genauso wenig haben wir eine Ahnung über sein Ziel. Wenn er denn eins hat. Er hat bis jetzt drei sehr ungewöhnliche Dinge getan. Er hat mindestens zwanzig Katzen eingesammelt, hat sie geschlachtet und mit ihrem Blut auf neunundzwanzig Türen Zeichen gemalt. Und das alles in einem kleinen Dorf, das jetzt ziemlich unter Schock steht.

Das kann ich mir vorstellen. Weiß man denn schon etwas über die Bedeutung der Zeichen?

Mein Kollege, also äh, ein Freund von mir kümmert sich darum. Er versteht mehr davon als ich. Aber wissen tun wir noch so gut wie gar nichts.

Anita lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.

Wenn die biblische Szene wirklich Vorbild sein sollte, wäre das Blut ein Zeichen des Schutzes. Das heißt: Alle, die Blut an der Tür haben, werden verschont. Würde das einen Sinn ergeben?

Michel legte seine Stirn in Falten.

Wenn ich das wüsste.

Dann lehnte er sich ebenfalls zurück und kam eigentlich erst jetzt dazu, sein Gegenüber in Ruhe zu betrachten.

Wie kam es, dass sich ein derart hübsches Wesen so gut in der Bibel auskannte? Klug war sie auch. Sein Bild einer frommen Frau sah ganz anders aus.

Er räusperte sich.

Wie kommt es, dass Sie die Bibel so gut kennen?

Sie lachte.

Wie kommt es, dass Sie die Bibel nicht kennen, Serge? Es handelt sich dabei immerhin um eine der wichtigsten Grundlagen unserer westlichen Kultur.

Michels Hand fegte durch die Luft, als wollte sie einen Schwarm Fliegen verscheuchen.

Ich glaube nicht an Gott und so. Es interessiert mich einfach nicht. Hat es noch nie getan. Der Unterricht in der Schule war grauenhaft langweilig. Abgesehen davon, dass es mit unserem praktischen Leben rein gar nichts zu tun hat.

So, so. Was Sie nicht sagen.

Sie beugte sich vor und stützte das Gesicht auf ihre Hände.

Nehmen wir doch mal Ihren Beruf. Sie klären Morde auf und sorgen dafür, dass die Schuldigen vor Gericht gestellt werden. All das tun Sie, weil es in der Bibel heißt: Du sollst nicht töten.