Tanner

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Aus der Reihe: Simon Tanner ermittelt #1
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ZWEI

Halte mich! Nimm meine Hand! Bitte halte mich!

Er rudert wild mit den Armen und verstrickt sich dabei immer mehr in den grünen Schlingpflanzen. Er hört seine Stimme gar nicht, obwohl er doch laut schreit. Plötzlich sieht er einen Schatten auf sich zuschweben. Hilfe, ein Haifisch! Es ist aber bloß ein schwarzes, rundes Ding, das, von der Strömung getrieben, an ihm vorüberschwebt. Wie eine rabenschwarze Qualle.

Das ist dein Reiterhelm! Der geht ja kaputt im Wasser!

Das lose Kinnleder schlängelt sich wie ein Aal dem Helm hinterher. Der Helm verschwindet aus seinem Gesichtsfeld, und er schwimmt panisch hinterher.

Jetzt überholt ihn von schräg hinten ein schmaler, länglicher Fisch. Wie elegant!

Nein! Es ist eine Reitpeitsche aus geflochtenem Leder. Sie zieht wie ein Pfeil in Zeitlupe seine Bahn. An ihm vorbei in die Tiefe der Dunkelheit.

Ich kann ja das Wasser atmen. Hallo! Schaut mal her! Ich kann das Wasser atmen! Wie ein Fisch!

Obwohl er schwimmt, wird es immer dunkler, und er fällt in die Tiefe. Unter seinen Füßen öffnet sich eine Falltür. Grelles Licht blendet ihn unvermittelt.

Vor Schreck wacht Tanner auf. Durch das Fenster sticht ein flacher Sonnenstrahl und bildet über seinem Bett in leicht verschobener Form ein buntes Fenster ab. In zartrosa Farben. Rosenfing-rig. So wird dieses Licht in dem Buch genannt, das auf seinem Tisch liegt.

Er schüttelt ungläubig seinen Kopf. Er weiß nicht, wo er ist. Schweißgebadet, das Bett zerwühlt. Auf dem Tisch steht eine kleine Kuh, die ihn neugierig anschaut.

Ach so! Ich bin in meinem neuen Zimmer!

Er wundert sich, dass die Katze nicht mehr im Zimmer ist. Das Fenster ist geschlossen und beide Türen auch. Wahrscheinlich hat sich die Katze beim ersten Sonnenstrahl in ein jungfräuliches Mädchen verwandelt und ist einfach aus dem Zimmer geschlichen. Leise, um den fremden Mann nicht zu wecken.

So, Tanner, nun komm mal in die Wirklichkeit zurück, das ist ja lächerlich.

Er steht auf und öffnet das Fenster. Eine frische Morgenbrise bläst ihm ins verschlafene Gesicht und die Sonne blendet seine Augen. Er schließt sie.

Wen habe ich denn da gerufen in meiner Not?

Und wie wenn man in einem Bilderbuch blättert, kommen ihm einzelne Stationen seines Traumes in den Sinn. Er befand sich, ohne sich einer Vorgeschichte entsinnen zu können, auf einem Schlitten. Hinter ihm saß eine ihm unbekannte Frau und umschlang zärtlich, aber kraftvoll seinen Oberkörper. In ihrer Hand hielt sie eine Reitpeitsche. Auf welchem Belag sie Schlitten fuhren, wusste er nicht. Es war auf jeden Fall kein Schnee. Eher Eis. Aber entweder berührten die Kufen des Schlittens das Eis nicht, oder das Eis sah nur aus wie Eis und war in Wahrheit etwas ganz Weiches und Sanftes. Sie froren nicht und die Fahrt wurde immer schneller und schneller. Die Frau hinter ihm rief immer wieder denselben Satz. Wie ein Refrain.

Higher, higher to the sky!

Als Kind bekam Tanner beim Überschreiten einer gewissen Geschwindigkeit immer Angst. In seinem Traum hatte er keine Angst. Er fühlte sich glücklich und behütet. Es war ein Glücksgefühl, so stark, wie er es im wirklichen Leben nur ausnahmsweise erlebt hatte, und wenn, nur in homöopathisch verdünnter Dosis. Unvermittelt landeten sie im Wasser und die ihn so wohlig beschützenden Arme lösten sich. Dann kam die Panik.

Jetzt kommt ihm in den Sinn, dass er, kurz vor dem Traum, oder war es während des Traumes, einen aufheulenden Motor gehört hat. Und quietschende Reifen beim Bremsen oder bei einem rasanten Start. Kavalierstart nannte man das früher. Tanner hält sein Gesicht unter das kalte Wasser und beschließt, sich vorläufig nicht mehr zu rasieren. Auf dem Display seines Telefons sieht er, dass es eben acht Uhr ist. Eine Uhr trägt er schon lange nicht mehr. Obwohl er zwei besitzt. Er kleidet sich an und ist bereit, sich seinen Vermietern zu stellen. Sie hören sicher seine Schritte. Spätestens wenn er die Außentreppe hinuntersteigt.

Er öffnet die Haustür und blickt in einen dunklen, engen Korridor. Ein wenig Licht fällt durch eine Glastür, die sich ganz am Ende des Ganges, an der linken Längsseite, befindet. Vorne links ein Holzgestell mit Schuhen und Stiefeln, dann eine Waschmaschine, darüber eine Garderobe, die hoffnungslos überfüllt ist. Mit Mänteln, Jacken und Arbeitskleidung. Weiße Wandschränke schließen sich an, die den schmalen Gang noch enger werden lassen. Am Boden liegt ein großer, wolfsähnlicher Hund mit braunschmutzigem Fell und einem fast schwarzen Kopf. Beim Öffnen der Tür hebt er seinen Kopf und schaut Tanner ruhig an. Unbeweglich.

Guten Tag! Wir haben uns ja gestern schon durch die Scheibe der Haustür in die Augen gesehen.

Tanner spricht sehr leise.

Als ob er zufällig das richtige Passwort gefunden hätte, schnüffelt der Hund einen geradezu andächtigen Moment lang in seine Richtung und legt dann die große Schnauze wieder auf seine mächtigen Pfoten.

Er schließt daraus, dass er eintreten darf.

Du bist aber ein schöner Hund! Schöner Hund.

Aus der ersten Tür rechts hört er jetzt Küchengeräusche und die Stimme eines Nachrichtensprechers. Auch riecht er den unwiderstehlichen Duft von Gebratenem. Sofort meldet sich bei ihm ein bohrendes Hungergefühl. Er hat ja gestern nur noch ein Käsebrot gegessen. Tanner klopft. Die Geräusche brechen abrupt ab und einen Moment später verstummt auch der Nachrichtensprecher mitten in seinem Satz. Er öffnet entschlossen die Tür.

Das Erste, was er sieht, ist der Kochherd. Genauer gesagt, er blickt in eine Eisenbratpfanne, in der eine goldbraune Röschti brutzelt. An einem großen Esstisch, der links vor dem Fenster zum Gemüsegarten steht, sitzt ein Mann mit krausem, dunkelblondem Haar. Gerade wollte er eine Gabel voll Röschti in den Mund schieben. Eine Bewegung, die er aber wegen Tanners Eintreten eingefroren hat. Rechts am Spültrog, über dem sich ein zweites Fenster auf die Straße hinaus befindet, steht Ruth M. Dunkelblond und kräftig. Sie hält einen Strauß Osterglocken in ihrer Hand.

Guten Tag, ich bin Simon Tanner. Ihr neuer Zimmerherr.

Eigentlich wollte er nur seinen Namen sagen. Zimmerherr? Wie ein Findling steht das Wort in der Küche.

Da beide weiterhin bewegungslos verharren, ihn dabei aber freundlich anschauen, spricht er weiter.

Ich hoffe, dass es in Ordnung ist, dass ich in Ihrer Abwesenheit das Zimmer bezogen habe. Es gefällt mir sehr gut. Und vielen Dank für die Blumen.

Der Mann bewegt sich jetzt als Erster, legt seine Ladung Röschti ungegessen zurück auf den Teller, erhebt sich und streckt ihm seine Hand entgegen.

Guten Tag. Herzlich willkommen. Ich bin der Karl.

Tanner drückt seine Hand und erschrickt nicht über den kräftigen Händedruck. Den hat er angesichts der Statur erwartet. Tanner erschrickt über die Rauheit seiner Hand. Wie die Rinde einer Eiche.

Ohne sich gegen diesen Gedanken zur Wehr setzen zu können, fragt er sich, wie diese Hand sich wohl anfühlt für seine Frau, wenn er sie berührt beim Sex?

Um ihm nicht mehr in seine klaren Augen schauen zu müssen, wendet er sich der Frau zu, die sich ihrerseits abwendet, um die Blumen abzulegen und ihre nassen Hände abzutrocknen. Dann gibt sie ihm ihre Hand, die angenehm weich und vom kalten Wasser schön kühl ist.

Machen Sie sich darüber keine Gedanken, bitte!

Sie sagt es mit dunkler Stimme.

Wie bitte? Siedend heiß wird es Tanner. Kann sie Gedanken lesen?

Ja, ich meine, darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Wegen dem Zimmer. Ich habe Ihnen ja geschrieben, Sie sollen sich wie zu Hause fühlen. Sie lacht.

Herzlich willkommen. Ich heiße Ruth. Mögen Sie Kartoffeln zum Frühstück? Nehmen Sie bitte hier Platz, wenn es Ihnen recht ist. Wollen Sie Tee oder Kaffee zum Frühstück? Wir essen immer um acht Uhr. Aber Sie können auch später essen, wenn es Ihnen lieber ist. Hatten Sie gestern eine gute Fahrt? Es ist übrigens erstaunlich, dass der Hund nicht gebellt hat, als Sie eben hereingekommen sind. Sie lacht immer noch.

Tanner beantwortet die Fragen ungefähr in der gestellten Reihenfolge und setzt sich Karl Marrer gegenüber, bekommt Kaffee eingeschenkt und einen Teller voller himmlisch duftender Röschti.

Ruth Marrer setzt sich nicht an den Tisch, sondern hantiert in seinem Rücken weiter mit ihren Blumen. Tanner weiß nicht, ob er essen soll, solange sie sich nicht auch hinsetzt.

Greifen Sie kräftig zu!

Freundlich ermunternd löst Karl das Dilemma und sie essen schweigend.

Tanner spürt in seinem Rücken eine unbestimmte Unruhe. Plötzlich weiß er, dass ein stummer Dialog über seinen Kopf hinweg stattfindet. Allerdings mehr von Ruth zu Karl. Er ist ja ungedeckt Tanners Beobachtung ausgesetzt. Wahrscheinlich signalisiert sie ihm ihren ersten Eindruck über ihn. Negativ oder positiv?

Wollen Sie nicht auch essen, Ruth?

Er will damit den stummen Dialog unterbrechen und testen, wie das klingt, wenn er einfach Ruth sagt. Mit den Vornamen haben sich ja beide vorgestellt, bei gleichzeitigem Sie.

Ich will nur noch die Blumen schneiden und in die Vase stellen, gibt sie lachend zurück.

Karl legt seine Gabel auf den leeren Teller und räuspert sich umständlich.

Es tut mir Leid, äh … Ihnen gleich etwas, äh … sagen zu müssen. Er macht eine verlegene Pause. Tanner schaut ihn fragend an. Er spürt, wie Ruth in seinem Rücken den Atem anhält.

Ihr roter Ford, also … wie soll ich es sagen, wissen Sie … also kurz gesagt … alle vier Pneus sind heute Nacht zerstochen worden. Es ist eine Sauerei!

Die Fortsetzung übernimmt Ruth.

Wissen Sie, so etwas ist hier noch nie passiert. Wir haben schon alle Nachbarn gefragt, ob sie etwas bemerkt haben. Aber niemand weiß etwas. So haben wir heute früh die Autowerkstatt im nächsten Dorf benachrichtigt. Die schicken im Laufe des Morgens einen Mechaniker vorbei, der das in Ordnung bringt. Ich hoffe, es ist Ihnen recht, dass wir so gehandelt haben.

 

Ruth blüht richtig auf. Nicht weil sie froh ist, dass die Pneus von seinem Auto zerstochen sind, sondern offensichtlich über die Tatsache, dass die Sauerei ausgesprochen ist.

Dies war also der Dialog hinter seinem Rücken. Sie wollte unbedingt, dass es sofort zur Sprache kommt, Karl wollte vielleicht warten, bis Tanner gefrühstückt hat.

Vielleicht hat er von den quietschenden Reifen heute Nacht doch nicht geträumt.

Hat hier im Dorf jemand einen schwarzen Golf GTI?

Tanner stellt die Frage so sachlich wie möglich.

Die beiden gucken ganz verdattert ob seiner konkreten Frage. Ruth überlässt es Karl, die nicht sehr überzeugende Antwort zu geben.

Nein, äh … nicht dass ich wüsste. Kennst du jemanden, Ruth?

Bevor sie antworten kann, knurrt der große Hund im Korridor. Draußen fährt ein Wagen vor.

Das ging aber schnell!

Tanner versteht nicht. Ruth merkt es.

Der Automechaniker!

Sie blickt durch das Fenster über der Spüle. Sie zögert.

Es sei nicht von der Autowerkstatt. Es sei der Portugies' vom Mondhof. Karl solle rausgehen und fragen, was er wolle.

Karl erhebt sich, verdreht dabei die Augen und fordert Tanner auf, doch ruhig weiterzuessen, bevor die Kartoffeln kalt werden.

Tanner überlegt, ob er bei der Gelegenheit auch aufstehen soll, um den Schaden am Auto zu begutachten. Aber erstens weiß er, wie vier zerstochene Reifen aussehen, es ist ihm vor drei Jahren in Marokko passiert, und zweitens kann er auch zuerst fertig essen und sich das Auto nachher in aller Ruhe anschauen.

Draußen bellt kurz der Hund. Danach ist wieder Ruhe.

Seltsam, dass weder Karl noch Ruth gefragt haben, warum er sich nach einem schwarzen Golf GTI erkundigt hat?

Und außerdem wäre es doch nahe liegend gewesen, auch die Polizei zu benachrichtigen, obwohl Tanner keine besondere Lust hat, gleich am ersten Tag mit der hiesigen Polizei in Berührung zu kommen. Na ja! Eins nach dem anderen!

Wie meinen Sie, fragt Ruth und dreht sich einen Moment vom Fenster weg.

So ein gutes Frühstück habe ich noch nie gegessen, daran könnte ich mich glatt gewöhnen.

Bevor Ruth auf sein Kompliment antworten kann, fährt draußen das Auto weg und sie hören, dass Karl zurückkommt.

Karl setzt sich schwer und schaut Tanner prüfend an.

Kennen Sie die Finidori vom Mondhof, Simon?

Ich kenne gar niemanden in dieser Gegend, außer unserem gemeinsamen Bekannten, der mir freundlicherweise das Zimmer vermittelt hat. Und der wohnt ja auch nicht mehr hier, antwortet er wahrheitsgetreu.

Obwohl? Er weiß, dass er diesem Namen schon mal irgendwo begegnet ist. Der Name ist ziemlich ungewöhnlich, aber Tanner kommt nicht dahinter, wo er ihn gehört hat. Das behält er aber für sich und schaut Karl fragend an.

Ja also, äh … es ist so, und ich verstehe es auch nicht, also kurz gesagt, die Madame Finidori fragt höflich an, ob Sie heute Nachmittag um fünf Uhr zum Tee zu ihr kommen könnten. Auf den Mondhof. Sie hat den Portugiesen geschickt mit der Einladung.

Die letzte Bemerkung ist mehr an Ruth adressiert denn an Tanner.

Die Alte Oder …? Ruth fragt mit auffallender Heftigkeit.

Karl zuckt mit den Schultern.

Ja also, äh … das müssen Sie halt selber entscheiden, äh … ob Sie da hingehen wollen, Simon. Sie entschuldigen mich. Die Arbeit ruft. Wegen dem Auto machen Sie sich keine Sorgen, das bringen wir in Ordnung. Der Thévoz ist mir sowieso noch was schuldig vom Holz dieses Winters. Aber es tut uns Leid wegen den Umständen.

Karl lächelt Tanner entschuldigend zu und geht nach draußen. Ruth lächelt auch.

Ich muss ins Städtchen einkaufen gehen, wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie es bitte, es macht mir keine Umstände. Haben Sie genug gefrühstückt?

Tanner bedankt sich, ebenfalls lächelnd, und sagt, dass er nichts brauche.

Mittagessen ist um halb eins!

Von uns war noch nie jemand auf dem Mondhof eingeladen!

Bevor er sie fragen kann, wer denn die Finidori sind, verschwindet Ruth durch die Tür, die von der Küche in ein weiteres Zimmer führt, wahrscheinlich in das Wohnzimmer, oder wie es hier heißt, in die Stube. Wo das Telefon klingelt.

Einige Fragen hätte Tanner schon, vor allem auch wegen des vielsagenden Lächelns bei ihrer letzten Bemerkung.

Und er hätte Ruth auch noch beibringen müssen, dass er kein Fleisch isst. Und das auf einem Schweizer Bauernhof …

Er hört Ruth leise telefonieren, versteht aber kein Wort. Er trinkt seinen Kaffee aus und beschließt jetzt, seinen Morgenspaziergang in das Dorf zu machen. Abends der Friedhof, morgens das Dorf.

Er geht kurz in sein Zimmer, zieht einen Pullover an, denn es ist trotz des Sonnenscheins noch kühl. Er entscheidet sich für seine alte Nikon mit dem guten Objektiv. Er stopft noch ein kleines Wachstuchheft in seine Jackentasche.

Gerade als er die Treppe wieder runterkommt, schließt Karl die vordere Stalltür.

Heute Abend kriegen wir Zuwachs!

Tanner setzt eine verständnislose Miene auf und Karl lacht.

Meine schöne Laura kalbt heute Nacht. Sie kriegt ein Junges. Ich hoffe, ein Mädchen. Die Muni sind ja doch nur für den Metzger. Verstehen Sie mich, Simon?

Ja, Simon versteht. Auch Simon mag Mädchen lieber.

Viel Glück denn! Auf die Mädchen!

Karl steigt auf seinen Traktor und fährt mit elegantem Schwung davon.

Beim Stichwort Metzger hätte er doch ganz bequem das Thema Fleischessen anschneiden können. Nichts wäre einfacher gewesen! Ungenutzte Gelegenheit Nummer tausendunddrei, gratuliere Tanner!

Wo ist eigentlich meine neue Freundin? Immerhin haben wir unsere erste Nacht zusammen verbracht.

Und jetzt gehst du nicht ins Dorf, Tanner, sondern du guckst dir jetzt erst mal dein Auto an und anschließend gehst du noch mal beim Friedhof vorbei, denn da bist du gestern unterbrochen worden.

Er wollte ja gestern gerade die Namen und die Geburts- und Todesdaten der beiden Kinder überprüfen, als er durch ein gewisses einzelnes Pferd unterbrochen wurde.

Sein dunkelroter Ford sieht genauso aus, wie ein Auto aussieht, wenn alle vier Reifen zerstochen sind. Irgendwie beschissen. Keine Eleganz mehr. Bei jedem Reifen eine einzige, klare Einstichstelle.

Da hatte jemand ein sehr scharfes und ein sehr großes Messer zur Hand. Und vor allem weiß dieser Jemand damit umzugehen. Das waren keine übermütigen Nachtbuben, die, unbefriedigt von der Disco, unbedingt noch einen Spaß haben mussten. Die Einstiche unterscheiden sich jedoch in einem Punkt. Sie sind nicht alle vier gleich breit. Das heißt, dass der Täter das Messer nicht jedes Mal gleich tief in den Reifen gestoßen hat. Die meisten Messer verbreitern sich in der Regel zum Heft hin. Vielleicht hat beim dritten Stoß die Kraft, oder die Wut, nachgelassen. Beim vierten Einstich war er offensichtlich schon zufrieden, als die Luft rauszischte.

In den Mänteln der Reifen sind sehr stabile metallische und textile Gewebe eingearbeitet. Viermal hintereinander das Messer bis zum Heft in einen Pneu zu wuchten, das braucht schon sehr viel Kraft …

Der Täter hat rund um das Auto mögliche Fußspuren verwischt. Das ist ganz deutlich zu sehen. Auch das pflegen besoffene oder übermütige Nachtbuben nicht zu tun.

Unweit des Autos findet Tanner einen Fichtenzweig, der sicher gute Dienste geleistet hat. Neben dem linken Hinterrad entdeckt er eine nur zur Hälfte verwischte Spur. Man sieht noch deutlich die vordere Hälfte einer kräftigen Profilsohle. Die Profillinien verlaufen im Zickzack quer zur Schuhsohle. Da die Tat nachts begangen wurde, hat der Täter diese Spur übersehen.

Er muss irgendwie diesen Abdruck konservieren, um ihn später abgießen zu können. Denn bald kommt wahrscheinlich der Automechaniker, danach ist die Spur verloren.

Tanner geht in die Scheune und findet eine rostige Schaufel mit abgebrochenem Stiel, die achtlos in einer Ecke lehnt. Mit dieser flachen Schaufel kann er so viel Erde mit der Fußspur zusammen weggraben, dass der Abdruck der Schuhsohle unberührt bleibt. In der neuen Einstellhalle findet er beim Holzstoß an der alten Wand einen sicheren Platz.

Um diese Spur wird er sich später kümmern, falls es notwendig sein wird. Im Städtchen gibt es sicher ein Malergeschäft, wo man ein Kilo Gips kaufen kann. Aber deswegen wird er heute nicht auf das Angebot von Ruth zurückkommen, dass sie ihm etwas besorgen könne. Er möchte den Fund vorläufig für sich behalten.

Sonst findet er keine weiteren Anhaltspunkte. Keine abgebrochene Messerspitze. Vielleicht hat der Täter am Auto Fingerabdrücke hinterlassen, aber wie viele Menschen haben das Auto in letzter Zeit angefasst? Und Tanner hat vergessen, wann er das Auto das letzte Mal gewaschen hat.

Am Brunnen wäscht er sich die Hände und reibt den Dreck von den Hosen.

Er hat gehofft, dass Ruth aus dem Haus kommt. Sie wollte ja einkaufen gehen. Gerne hätte er sie über Madame Finidori ausgefragt, aber das Telefongespräch dauert wohl etwas länger.

Er nimmt seinen Fotoapparat und macht ein paar Aufnahmen von den Rädern. Dann wandert er erneut zum Friedhof.

Unterwegs wird er von einem langsam fahrenden Traktor überholt. Auf dem kleinen Anhänger sitzt eine Frau mit Kopftuch und düsterem Gesichtsausdruck. Sie sammelt während der langsamen Fahrt die orangefarbenen Wegmarkierungsstangen ein. Der Winter ist vorbei, auch wenn es noch kühl ist. Er grüßt beide, den Fahrer und die Frau, wird aber nur angestarrt. Sie tragen beide ein schwarzes Band am Oberarm. Diese Art, Trauer zu tragen, kennt er bislang nur aus südlichen Ländern.

Wieder steht Tanner vor dem rostigen Friedhofstor. Er öffnet es vorsichtig und heute gelingt es ihm ohne Quietschen.

Irgendetwas hat sich verändert.

Auch wenn er nicht begreift, was es ist, spürt er die Veränderung. Er geht ein paar Schritte weiter. Irgendetwas ist seit gestern verschoben, oder anders angeordnet. Er erinnert sich an die Bilderrätsel, die er als Kind so geliebt hat. Finde fünfundzwanzig Unterschiede!

Jetzt weiß er es. An der hinteren Mauer steht, halb versteckt hinter einem Buchsbaum, eine nagelneue Gießkanne aus leuchtend gelbem Kunststoff. Tanner ist sich sicher, dass die gestern noch nicht da war. Zwar steht auf jedem Friedhof, den er besucht, irgendwo eine gelbe Plastikgießkanne herum. Aber jetzt ist er sich ganz sicher, dass die gestern noch nicht da war. Das leuchtende Gelb bringt die ganze Komposition des Friedhofs durcheinander. Und auf dem frischeren Grab sind die verwelkten Blumen weggenommen und durch verschiedene grüne Pflanzen ersetzt worden. Und mit Wasser begossen.

Auf dem ersten Kreuz, am etwas älteren Grab, steht Vivian Steinegger. Geburts- und Todesdatum. Auch auf dem zweiten Kreuz steht der Name eines Mädchens. Anna Lisa Marrer. Geburts- und Todesdatum.

Ein sechsjähriges Mädchen und ein knapp fünfjähriges Mädchen.

Vivian ist vor zwei Jahren, Anna Lisa vor knapp einem Jahr ermordet worden.

Und eines heißt Marrer, wie seine Vermieter.

Aber das hätte ihm sein Freund doch erzählt, wenn seine Marrer erst kürzlich eine Tochter verloren hätten. Und dann noch unter diesen grauenvollen Umständen. Nein, das kann nicht sein!

Er wendet sich fröstelnd ab und betrachtet erneut die Gießkanne. Das Preisschild klebt noch zur Hälfte an dem Griff. Er hebt die Gießkanne hoch und sieht, dass der Besitzer auf den Boden mit grünem Filzstift, in großen Buchstaben geschrieben hat. Marrer.

Viele haben zu Hause einen grünen Filzstift. Dass der Begrüßungszettel gestern Abend auch mit einem grünen Filzstift geschrieben war, lässt er als Indiz, dass Anna Lisa doch die Tochter von seinen Marrers war, nicht gelten. Es kann nicht sein, sonst wären diese Leute doch in einem ganz anderen Zustand.

Da verlässt sich Tanner definitiv auf seine Menschenerfahrung. Er hat zu viele Mütter und Väter erlebt, die ihre Kinder zu Grabe getragen haben.

Fünf Pflanzen sind angepflanzt auf dem Grab. Ob das ein Zufall ist? Eine Pflanze für jedes Jahr, das Anna Lisa leben durfte.

Ein Kuckuck ruft.

Er muss direkt auf einem der Bäume neben dem Friedhof sitzen. Da die Bäume erst ganz winzige Blätter haben, müsste man doch den Vogel sehen. Aber in dem heillosen Durcheinander der Äste hoch über seinem Kopf kann er ihn nicht ausmachen. Tanner starrt in die Höhe, bis sein Nacken wehtut. Er hört ihn ganz nahe, kann ihn aber nicht sehen.

 

Das gibt's doch nicht. Wo bist du denn, du Vogel, du. Zeig dich!

Tanner geht aus dem Friedhof hinaus, die Baumkrone immer schön fixierend, bis er einmal ganz um den Baum herumgegangen ist. Er lässt seinen Kopf enttäuscht nach vorne fallen, denn der Nacken schmerzt.

Im Gras, direkt vor seiner Nase, liegt eine vom Regen nasse Reitpeitsche. In diesem Moment rauscht es über seinem Kopf. Ein wahrhaft metaphysisches Rauschen und er weiß, das ist der Kuckuck. Jetzt könnte er ihn sehen! Aber er kann seinen Blick nicht von der Reitpeitsche lösen, als ob sie verschwinden würde, wenn er wegschaut. Er geht in die Knie und betrachtet die Peitsche von allen Seiten, ohne sie anzufassen. Die Peitsche ist insgesamt etwa sechzig Zentimeter lang, hat einen schwarzen Griff mit einem Knauf und geht dann über in ein helles, geflochtenes Leder. Ziemlich neu und ziemlich teuer.

Er nimmt die Peitsche in die Hand. Da ist natürlich kein Preisschild dran. Aber auf dem Knauf ist ein Metallplättchen eingelassen und auf dem Metallplättchen befindet sich ein eingravierter Buchstabe.

Er steht auf und ruft in Richtung des weggeflogenen Kuckucks.

Danke! Ohne dich hätte ich diese Peitsche nie gefunden.

Ohne Zweifel gehört diese Peitsche dem Mädchen, das gestern vom Pferd gefallen ist. Wer so einen Helm trägt, hat auch so eine Peitsche.

Unweit der Stelle, wo die Peitsche lag, ist ein Fleck mit niedergetrampeltem Gras.

Hier ist das Mädchen vom Pferd gefallen, murmelt er leise und beginnt, die Stelle zu untersuchen. Es gibt einige Blätter mit braunen Flecken. Das könnte ihr Blut sein. Er riecht daran und reibt einige Flecken zwischen seinen Fingern.

Er ist sich nicht sicher. Aber dass die Halskette mit dem kleinen goldenen Medaillon, die er jetzt zwischen den Grasnarben findet, auch dem Mädchen gehört, da ist er sich sofort sicher. Auf der Rückseite des Medaillons ist zwar nicht der gleiche Buchstabe wie bei der Reitpeitsche eingraviert, aber trotzdem. Tanner versucht das Medaillon zu öffnen, aber es bleibt verschlossen. Er sucht in seiner Jackentasche, aber er hat kein Messer dabei.

Er sucht noch eine gute halbe Stunde das ganze Umfeld systematisch ab, kann aber nichts mehr finden. Nur viele Hufspuren von dem großen Pferd.

Vom Friedhof aus, der auf einer leichten Kuppe liegt, sieht man die Autobahn, die noch ziemlich neu sein muss. Je nachdem, wie der Wind dreht, kann man die Autos sicher bis hierher hören. Heute nicht. Geräuschlos ziehen die Autos und Lastwagen ihre Bahn. Über der Autobahn kreist gelassen ein großer Vogel.

Hinter der Autobahn steigt das Gelände wieder sanft an. Man sieht vier Bäume nebeneinander stehen. Gegen den hellen Horizont geben ihre noch blätterlosen Baumkronen eine scharfe Silhouette ab.

Unwillkürlich muss er an eine Kinderzeichnung denken.

Die Bäume sehen aus wie Vater, Mutter, ein Junge. Und ein Mädchen. Alle geben sich die Hand. Nur das Mädchen steht etwas abseits, und seine Baumkrone wächst, als wäre es erschreckt worden, von seinen Eltern weg.

Rechts von der Baumgruppe erkennt man die Dächer eines Bauernhofes und ein hohes Silo, über dem eine zerrissene Fahne flattert. Da man nur die Dächer sieht, spürt man das sanfte Abfallen der Landschaft zum See hin.

Auf der geteerten Straße, die an dem Friedhof vorbei ins Dorf führt, fährt ein heller Opel Kombi vorüber. Eine Hand winkt ihm aus dem offenen Fenster zu. Tanner winkt etwas unsicher zurück. Ob das Ruth ist, die vom Einkaufen zurückkommt? Bei der Fahrt ins Städtchen hat er sie nicht bemerkt. Vielleicht gibt's noch eine andere Straße?

Ob er ihnen beim Mittagessen von seiner gestrigen Begegnung erzählen soll? Sie wüssten bestimmt, wer das war. Denn immerhin möchte er ja die Peitsche und das Medaillon nicht einfach behalten.

Tanner, sagt er lachend zu sich selber, du willst doch einfach dieses Mädchen wiedersehen.

Sein besseres Ich sagt vor seinem inneren Hohen Tribunal tapfer etwas von Bürgerpflicht und wertvollen Gegenständen, die man doch nicht einfach behalten kann …

Ach, lass es, Tanner. Und damit basta!

Er schaut auf sein Telefon und sieht, dass er doch mehr Zeit mit seiner Untersuchung des Bodens zugebracht hat, als er dachte. Es geht schon gegen zwölf Uhr. Bald ist Mittagessenszeit. Er fotografiert den Friedhof und auch die frischen Gräber. Eigentlich weiß er nicht genau, warum.

Bloß indem ich die Gräber der Kinder fotografiere, finde ich den Mörder nicht!

Der Kuckuck ruft. Diesmal aus der Ferne.

In der Küche sitzt Karl schon am gedeckten Tisch und liest die Zeitung. Ruth steht am Kochherd und hantiert mit einem Stabmixer. Sein Gruß geht im Lärm der Küchenmaschine unter.

Karl nickt und bedeutet ihm, er solle nur reinkommen.

Da der Kochherd direkt bei der Eingangstür steht, muss er gezwungenermaßen sehr nahe an Ruth vorbei, und trotz der vielfältigen Gerüche aus den vielen Pfannen riecht Tanner ganz deutlich ihr Parfum. Vanille und Zitrone. Er könnte schwören, dass sie heute Morgen noch kein Parfum verwendet hatte.

Das Geräusch des Stabmixers bricht ab und jetzt hört man wieder den Nachrichtensprecher. Wie am Morgen.

Stört es Sie, wenn wir die Nachrichten hören? Uns Bauern interessiert ja vor allem das Wetter. Sie seufzt.

Wenn der Boden nicht bald trocken wird, bekommen wir Probleme.

Sie prüft mit einem schnellen Blick, ob er, der Städter, auch versteht. Ihre Zunge schnellt kurz über ihre lächelnden Lippen.

Sie haben mich vorhin im Auto nicht erkannt, als ich Ihnen zugewinkt habe, oder?

Karl blickt über den Zeitungsrand.

Wahrscheinlich bist du so schnell gefahren, dass man dich gar nicht sehen konnte.

Seine Augen blitzen heiter in Tanners Richtung und verschwinden wieder hinter die fett gedruckte Überschrift des Leitartikels.

BSE und MKS – APOCALYPSE COW?

Seine Augenbotschaft soll wohl heißen, jetzt geht's los. Achtung. Und tatsächlich dreht sich Ruth erst zu ihm, holt tief Luft und sagt dann doch nichts. Dann lächelt sie Tanner an.

Sie essen kein Fleisch, Simon.

Feststellung oder Frage?

Unser gemeinsamer Freund hat es uns verraten. Für uns ist das kein Problem. Wir essen sowieso viel Gemüse. Wenn es Sie nicht stört, dass wir Fleisch essen, gibt es also kein Problem. Heute allerdings habe ich, quasi zu Ihrer Begrüßung, nur Gemüse gekocht. Ich hoffe, es wird Ihnen schmecken.

Ohne seine Antwort abzuwarten, dreht sie das Radio lauter, denn jetzt kommt der Wetterbericht. Erleichtert setzt er sich an den Tisch. Karl blättert in der Zeitung. Der Wetterbericht ist, landwirtschaftlich gesehen, deprimierend. Regen, Regen und nochmals Regen. Dazu Bise. So nennt man hier den strengen Nordwind, der tagelang durch die Seelandschaft bläst. Und Schnee bis in die Niederungen. Ruth und Karl schweigen.

Ruth setzt sich ans Kopfende des Tisches, den Kochherd im Rücken. Sie schöpft eine goldgelbe Suppe in die Teller.

Wir haben letztes Jahr sehr viel Kürbis tiefgefroren. Guten Appetit!

Tanner denkt an rotblonde Haare! Das Medaillon hat er in seiner Jackentasche.

Drei Löffel senken sich synchron in das flüssige Gold.

Wie sich ihre Haare wohl anfühlen?

Drei Löffel verschwinden in drei Mündern.

Sanft! Ruth sagt es leise zu ihm.

Wie bitte? Seine Augen fragen. Vor dieser Frau musst du dich in Acht nehmen, Tanner!

Ich sagte sanft! Kürbis ist ein sanftes Gemüse. Hat meine Mutter immer gesagt. Finden Sie nicht auch, Simon?

Wie Recht Sie haben, Frau Ruth Marrer! Sie wissen ja gar nicht, wie Recht Sie haben!

Laut fragt er, ob ihre Mutter denn noch lebe?

Ja. Ruth antwortet schlicht.

Gemeinsam tauchen ihre Löffel in die köstliche Suppe.