Tanner

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Aus der Reihe: Simon Tanner ermittelt #1
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Karl hält seinen Löffel schwebend über dem Teller. Und fällt damit aus dem gemeinsamen Takt.

Der Thévoz hat angerufen, dass er sich leider erst heute Nachmittag um Ihr Auto kümmern kann.

Macht nichts!

Insgeheim ist Tanner natürlich enttäuscht, dass sein Auto immer noch in diesem bedauernswert lächerlichen Zustand verbleiben muss.

Wieder tauchen die Löffel in die Suppe.

Diesmal bestreiten Karl und Tanner den Suppen-Pas-de-deux. Ruth steht auf.

Ich habe ja was vergessen. Es tut mir Leid.

Sie holt aus dem Kühlschrank ein Töpfchen und löffelt in jeden Teller eine Wolke Crème fraîche. Während sie sich über Tanners Teller beugt, riecht er wieder Vanille und Zitrone.

Die Suppe ist wirklich perfekt. Als leidenschaftlicher Koch schmeckt Tanner zufrieden die angebratene Buttermehlschwitze, die Schalotten, den geraffelten sauren Apfel und den Honig. Vielleicht hat sie den Balsamico am Schluss vergessen, aber das behält er für sich.

Die Suppe würde auch Königin Elisabeth von England schmecken! Beide lachen, schauen ihn aber fragend an.

Wissen Sie, das war der Lieblingsspruch meines verstorbenen Vaters, wenn meine Mutter gut gekocht hat. Kurz nach dem Staatsbesuch von Elisabeth in der Schweiz, das muss in den Fünfzigern gewesen sein, war sie für viele Leute der Inbegriff von hoher Lebenskultur. Fragen Sie mich nicht, warum. Für meinen Vater war es so.

Den Rest der Suppe löffeln sie schweigend. Jeder in seinem Rhythmus.

Danach gibt's Kartoffeln, flache Bohnen mit Kichererbsen, einen mit Gruyère überbackenen Blumenkohl, in Olivenöl gebratene Zucchini, in Butter und Ingwer gesottene Karotten. Die gekochten Kartoffeln werden auf dem Tisch von jedem selber geschält, der Länge nach geteilt und je nach Vorliebe legt man Butterstückchen drauf oder Frischkäse oder bestreut sie nur mit Salz und Pfeffer.

Das Schälen, Bebuttern, Gemüseschöpfen und Würzen nimmt alle ganz gefangen.

Zwischendurch klingelt das Telefon und Karl verschwindet für einen kurzen Moment in der guten Stube.

Als Ruth und Tanner alleine sind, sagt sie unvermittelt zwei Dinge.

Sie waren ja heute Morgen auf dem Friedhof und haben sicher die Gräber gesehen. Anna Lisa war nicht unsere Tochter. Es gibt hier im Dorf zwei Familien, die Marrer heißen, ohne dass wir miteinander verwandt sind.

Nachher beim Kaffee werde ich Ihnen sagen, wer die Finidori sind. Einverstanden?

Sonst sagt sie nichts über die toten Kinder.

Bevor Tanner antworten kann, ist Karl wieder zurück, und er mag diese kleine Heimlichkeit, die ihm Ruth angeboten hat. Also redet er nicht davon.

Er ist erleichtert, dass sein Gefühl gestimmt hat. Was die tote Anna Lisa betrifft.

Tanner mag es, schweigend zu essen.

Als sie fertig sind und er Ruth seinen leeren Teller reicht, sagt sie ihm auf eine Weise danke, dass es klar ist, wofür sie ihm dankt.

So! Ich muss in die landwirtschaftliche Genossenschaft, Setzkartoffeln holen. Trinkt heute den Kaffee ohne mich. Ich bin mit dem Haymoz verabredet und da muss ich pünktlich sein, sonst macht er mir einen höheren Preis.

Aha, sie wusste ganz sicher, dass ihr Mann nicht zum Kaffee bleibt, registriert Tanner.

Karl steht auf, gibt seiner Frau einen Kuss und verlässt die Küche. Man hört, wie er im Korridor seine Schuhe anzieht, irgendetwas zu dem Hund sagt und das Haus verlässt. Weder Ruth, die weiter den Tisch abräumt, noch Tanner, der einfach dasitzt, sagen ein Wort. Eine Fliege landet exakt vor ihm auf dem Tisch. Als draußen der Traktor wegfährt, fliegt auch die Fliege wieder weg. Er schaut ihr nach und begegnet den Augen von Ruth.

Wissen Sie, Simon, mein Mann regt sich furchtbar über die Finidori auf. Wenn es keinen triftigen Grund gibt, meiden wir das Thema. Warum mein Mann sich so aufregt, erklär ich Ihnen einmal später, wenn es Ihnen recht ist.

Es ist ihm recht.

Wer sind denn nun diese Finidori?

Ruth bringt Kaffee, Zucker und Milch auf den Tisch. Sie antwortet erst, als beide in ihren Tassen rühren.

Warum Madame Finidori Sie zum Tee einlädt, kann ich nicht wissen. Hier in dieser Gegend spricht sich natürlich alles sehr schnell rum.

Ruth rührt in ihrem Kaffee.

Die Familie Finidori ist eines der ältesten und reichsten Geschlechter hier. Vielleicht sogar im ganzen Land. So genau weiß ich das nicht. Sie besitzen seit langer Zeit den Mondhof. Das ist nicht einfach ein Bauernhof, das ist ein Gutsbetrieb mit zweihundert Hektar Land und hundertzwanzig Kühen im Stall. Früher gehörte ihnen auch das ganze Areal mit dem Schloss vorne an der Straße. Sie haben das Schloss sicher gesehen auf dem Weg hierher?

Tanner nickt, möchte sie aber nicht unterbrechen.

Die alte Finidori ist eine strenge Dame. Keiner weiß so genau, wie alt sie ist.

Ihr Sohn leitet den Betrieb. Nicht nur den Gutsbetrieb, sondern ihm gehört auch noch ein Betonwerk und ein Sägewerk im Welschland und er ist an verschiedenen weiteren Betrieben beteiligt. Unsereins weiß da nicht so Bescheid.

Ich habe den Eindruck, dass du sehr genau Bescheid weißt, Ruth M., denkt Tanner still für sich.

Auguste Finidori, so heißt der Sohn der Alten. Entschuldigung! Wir nennen sie einfach so. Er ist ein rücksichtsloser und jähzorniger Mann. Aber er ist ein sehr einflussreicher Mann, auch in der Politik. Er war bis vor kurzem Nationalrat.

Vielleicht kommt Tanner deswegen der Name so bekannt vor. Aber seine Jahre in Marokko haben sein Interesse für die inländische Politikszene nicht gefördert.

Der Sohn von Auguste heißt Armand. Er kümmerte sich bis vor kurzem um die Auslandsgeschäfte. Seit einiger Zeit ist er krank und lebt zu Hause auf dem Hof. Er hat irgendeine seltene Hautkrankheit oder Sonnenallergie. Man sieht ihn praktisch nie. Auguste führt mit einem guten Dutzend Angestellten den Hof und kümmert sich um all die anderen Geschäfte. Die Frau von Auguste, also die Mutter von Armand, ist an einem Schlaganfall gestorben, schon damals in Afrika.

Wie? In Afrika …?

Bei der Erwähnung von Afrika klingt tief in seinem Inneren eine Saite an, deren Ton ein ganz unbehagliches Gefühl auslöst, das er im Moment aber nicht einordnen kann.

Also!

Ruth holt tief Luft und rückt näher an den Tisch, das heißt auch näher zu Tanner. Was für ein Parfum …

Es tut mir Leid, Simon, aber jetzt wird's kompliziert und ich hoffe, ich kann es Ihnen richtig darlegen.

Sie rührt unschlüssig in ihrem Kaffee. Überlegt sie sich, was sie ihm sagen soll und was nicht?

Auguste und Charlotte, so hieß seine Frau, waren zusammen in Afrika. Was sie dort gemacht haben, weiß ich nicht. Aber es gibt halt Gerüchte. Dass er dort sehr viel Geld gemacht hat und nicht immer auf ganz christliche Art. Mehr weiß ich nicht.

Oder willst du es mir nicht sagen? Tanner ist versucht zu fragen, verbietet sich aber diese Bemerkung.

Der Sohn von ihnen, eben der Armand, ist dort auf die Welt gekommen. In der Zeit, als Auguste in Afrika war, hat sein Bruder Raoul den Betrieb hier geführt. Zusammen mit der Alten, die zwar damals schon Witwe war, aber natürlich noch um einiges jünger. Den Raoul haben wir gut gekannt, das heißt, vor allem mein Mann war richtig befreundet mit ihm.

Ruth schweigt. Tanner wartet.

Raoul war ein liebenswürdiger Mensch, mit vielen Interessen und viel zu zart für so einen großen Betrieb. Seine Frau war ein Engel.

Pause. Die Fliege dreht wieder eine Runde.

Nachdem Auguste aus Afrika zurückgekehrt war, führte er den Betrieb zusammen mit Raoul. Das konnte natürlich nicht gut gehen, denn sie waren einfach zu verschiedene Temperamente. Zwei Jahre nach der Rückkehr starb auch die Frau von Raoul.

Sie schweigt und rührt wieder in ihrer Tasse.

Sie hat noch keinen Schluck Kaffee getrunken. Dafür ist das jetzt sicher der bestgerührte Kaffee aller Zeiten.

Woran starb denn Raoul und wann, fragt er vorsichtig, denn Ruth spricht sehr zärtlich von Raoul.

Wieso gestorben? Die Frage erschreckt sie.

Tanner macht sie auf die Verwendung der Vergangenheitsform aufmerksam und sie lacht ein nicht ganz überzeugendes Lachen. Nein, nein! Raoul ist nicht gestorben. Er hat es hier einfach nicht mehr ausgehalten und ist nach Australien gegangen, oder besser gesagt, er ist geflüchtet.

Wieder Pause.

Seine Tochter hat er allerdings hier zurückgelassen!

Er hat eine Tochter?

Ja, er hat eine Tochter, und als er wegging, haben wir uns, so gut es ging, um sie gekümmert.

Ruth steht schnell auf, nimmt die Zuckerdose vom Tisch und geht zum Schrank. Hinter seinem Rücken, an der Spüle stehend, füllt sie offenbar die Zuckerdose auf. Als er vorhin drei Löffel Zucker nahm – seit Marokko trinkt er den Kaffee schwarz und sehr süß – war die Zuckerdose bestimmt noch voll.

Ach, der Karl kommt schon zurück. Ich muss ihm beim Abladen der Kartoffeln helfen, entschuldigen Sie mich!

Für einen Moment spürt Tanner zärtlich ihre Hand auf seiner Schulter. Wie sanfter Flügelschlag. Er will ihre Hand anfassen. Bevor er sich ganz zu ihr umdrehen kann, ist sie schon aus der Küche verschwunden. Die Fliege, die vorhin auf dem Tisch gelandet ist, klebt jetzt an einem Fliegenfänger fest. Ihre Beine zappeln noch.

Tanner trinkt seine Tasse aus, steht auf und verlässt die Küche.

Im Gang steht der Hund vor der Haustür. Wahrscheinlich wollte er mit Ruth zusammen hinausgehen. Sie hat ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen.

Das kenne ich. Sehnsüchtig vor einer verschlossenen Tür stehen, ja doch! Das kennt der Tanner.

Der Hund dreht seinen Kopf zu Tanner. Er öffnet die Tür und der Hund schießt hinaus. Auf dem Platz vor der Scheune steht der Traktor mit einem Anhänger voller Holzkisten. Karl kommt gerade aus der Scheune heraus.

 

Entschuldigung, Karl, der Hund ist mir durch die Haustür entwischt.

Ach, das macht doch nichts. Der kommt schon wieder … äh … ist meine Frau noch in der Küche?

Interessant, denkt Tanner und antwortet sehr vage, sie sei schon vor einer Weile aus der Küche gegangen. Er wisse aber nicht, wohin.

Bis später, Simon, ruft Karl ihm zu und springt wieder auf seinen Traktor.

Kann ich Ihnen helfen, die Kartoffeln abzuladen?

Man muss ganz schön schreien, um den Traktorenlärm zu übertönen.

Nein danke, Simon, die bleiben auf dem Wagen, schreit Karl zurück und fährt los.

Interessant, denkt Tanner ein zweites Mal und sagt es dann noch ein paar Mal laut vor sich hin. Bei jeder Treppenstufe sagt er es, bis er bei der oberen Tür angekommen ist.

In seinem Zimmer blickt er auf sein Telefon. Zwei Uhr. Und keine Nachricht. Er legt sich mit den Schuhen auf das Bett.

Ob sie Raoul geliebt hat und ob die Katze schon einen Namen hat, wollte er Ruth noch fragen, und wie ihr Parfum heißt … und noch vieles mehr. Er fällt in einen tiefen Schlaf.

DREI

Die Jungs vom Nebenhaus bearbeiten ihre kleinen Trommeln. Oder haben sie sich von meinem Geld eine neue, größere Trommel gekauft?

Boumm … boumm … toktok … boumm … toktok …! Bei aller Liebe für ihre Trommelkunst, wir haben doch verabredet, dass sie nachmittags, während der Siesta, nicht trommeln. Immerhin hat mich diese Vereinbarung einiges gekostet. Boumm … boumm … toktok …

Himmel, ich bin ja nicht in Marokko. Es ist Karl, der heftig an die Tür klopft.

Simon! Der Portugies' ist da mit dem Auto. Er holt Sie ab. Zum Tee. Hören Sie mich?

Karl klopft. Jetzt rüttelt er an der Tür.

Ich komme! Ich habe es gehört! Ich bin wach! Sagen Sie ihm, dass ich in fünf Minuten bereit bin.

Tanner hat irgendwo eine Krawatte. Er sucht und findet. Sie hat ihm die Krawatte geschenkt. Das scheint jetzt eine gute Gelegenheit zu sein, sie einzuweihen. So schnell es geht, versucht er, einen Knoten hinzukriegen. Er zieht seine Jacke an und rast die Treppenstufen hinunter.

Es regnet in Strömen. Auf dem Vorplatz steht ein dunkelgrüner Geländewagen mit laufendem Motor und mit brennendem Licht. Aus seinem Auspuff kräuseln sich feine Rauchringe. Und nur ein Schlusslicht brennt!

Schau, schau, sagt er leise. Das Auto kenne ich doch!

Karl ist anscheinend wieder ins Haus gegangen, oder in den Stall.

Aus den Augenwinkeln sieht Tanner, dass in der Küche Licht brennt.

Vanille und Zitrone, singt es leise in ihm.

Mit großen Schritten erreicht er die Autotür, die sich jetzt öffnet. Er springt in den Wagen und schlägt die Tür zu. Das Auto startet sofort und er wird in den Ledersitz gepresst. Erst einige Atemzüge später kann er sich den Fahrer anschauen. Ein ungefähr sechzigjähriger, sehr kräftiger Mann. Unrasiertes Gesicht. Kurzes, schwarzes Haar mit grauen und weißen Einsprengsel.

Salz und Pfeffer, denkt Tanner. Und sein Charakter? Gelassenheit und Stärke?

Guten Tag, ich heiße Tanner. Danke, dass Sie mich abholen. Ich hoffe, wir sind nicht zu spät. Und wenn, ist es natürlich meine Schuld.

In diesem Moment schlittern sie um die leicht abschüssige Kurve beim Friedhof.

Deswegen müssen Sie aber nicht unser Leben aufs Spiel setzen!

Trockenes Lachen, schneller Seitenblick zu ihm.

Keinä Problema. Ich 'eiße Manuel.

Seine Stimme klingt nach mindestens fünfzig Zigaretten am Tag. Sie erreichen die kleine Brücke bei der Autobahn. Kein einziges Auto ist zu sehen. Glänzender Asphalt. Ein schwarzer Strom.

Eine dunkle Gestalt wankt ihnen auf der Straße entgegen. Sie kämpft mit einem großen Schirm gegen Wind und Regen.

Der Keinä-Problema-Manuel drosselt das Tempo. Tanner hätte eigentlich das Gegenteil erwartet. Manuel hebt die Hand zum Gruß, als die Frau auf der Höhe des Autos ist. Es ist die Frau, die Tanner heute Morgen auf dem Weg zum Friedhof gesehen hat, als sie Wegmarkierungsstangen einsammelte. Manuel bekreuzigt sich doch tatsächlich.

Sähr arme Frau. Kind kaputt!

Eine Stimme wie eine grobe Holzfeile. Aber man hört echtes Mitgefühl, trotz der Wortwahl.

Anna Lisa, sagt Tanner mitfühlend.

Manuel guckt ihn groß an und überfährt derweil fast eine Katze, die über die Straße rennt. Knapp entkommt sie ihrem vorschnellen Ende.

No! No! Nein! Vivian! Nicht Anna Lisa. Vivian! Anna Lisa von anderä Frau, auch sähr armä Frau!

Mittlerweilen sind sie bei einer Gruppe Häuser angekommen. Rechts von der Straße, wo das Gelände leicht gegen einen Bach abfällt, der von bulligen Weiden mit abgesägten Zweigen gesäumt wird, befinden sich Stallungen.

Links eine stattliche Villa mit französischem Charme und einem großen Walmdach. Dicht neben der Villa lugt ein kleines Haus zwischen den Bäumen hervor, bei dem sämtliche Fensterläden geschlossen sind. Beide Häuser sind ziemlich alt. Tanner schätzt achtzehntes Jahrhundert. Die Villa ist von einem sorgfältig gepflegten Garten umgeben. Eine mit Efeu bewachsene Mauer umschließt auf drei Seiten das Haus. Weiter oben, wo das Gelände sanft ansteigt, ein großer Hof.

Ruth M. hat wirklich nicht übertrieben!

Mächtige Scheune. Modernes, nicht besonders schönes Wohnhaus, mit drei Stockwerken. Viel Geld, wenig Geschmack! Remisen. Stallungen. Große Futtersilos.

Die Silos sind, denkt Tanner, neben den Traktoren die Statussymbole der heutigen Bauern. Gleich riesigen Phalli stehen sie und künden weit sichtbar von der Potenz ihrer Besitzer. Wenn diese Gleichung stimmt, dann ist hier verschwenderisch viel Potenz vorhanden.

Der Wagen hält vor dem Eingang der Villa. Manuel bedeutet Tanner auszusteigen und steckt sich eine Zigarette zwischen die rissigen Lippen.

Wie Tanner ihn beneidet.

Hasta la vista. Gracias!

Tanner merkt zu spät, dass es die falsche Sprache ist.

Keinä problema, heisert Manuel und zündet sich seine Zigarette an.

Als Tanner aussteigt, kommt ihm ein unglaublich dicker Zwerg mit einem kolossalen Regenschirm entgegen. Er rollt ihm entgegen! Sein kugelrunder Kopf hat die Farbe und Zartheit eines frisch geborenen Babys. Alterslos. Damit Tanner unter seinen Schirm passt, muss der Zwerg sich auf die Zehenspitzen stellen und zusätzlich den Arm ausstrecken, und immer noch muss Tanner sich bücken, um mit seiner Länge unter den angebotenen Regenschutz zu passen.

Bonjour, hellöu, bien venue, willkömmin ijn där Vor'ölle. Isch 'offe, Ihro wärtä Dürschlaucht sind auf Ihro exécution säälisch préparé, flötet der Zwerg sein Willkommen.

Nach der Holzfeile ist jetzt die Reihe an der kugeligen Falsettflöte!

Madame 'add Ihrä Föltärwerkzöige déjà sur la tavola.

Das ganze Kauderwelsch begleitet der Zwerg mit ausdrucksstarker, theatralischer Mimik, als ob er nicht bloß den Tanner überzeugen wollte, sondern irgendwelche unsichtbaren Zuschauer in der letzten Reihe eines großen Theaters. Und das im strömenden Regen.

Dije Altä ijst 'eute ganss bäsöndärs fröindlisch, also, isch sagä nür: Attenzione. Dann ijst sie gäfäährlisch!

Beim letzten Satz zieht er Tanner an seinem Ärmel zu sich runter und flüstert ihm das gäfäährlisch ins Ohr. Sein Atem riecht nach Marzipan.

Isch bijn Honoré, gänannt la boule! Där Bötlär! Nijscht där Gärtnär! Där Bötlär! Und jätzt fölgän Sie mijrrr, wänn sie mijrrr fölgän konntän, ssönst müssän Sije die Fölgän selbär trag'n.

Isch bijn Dannär! Simön Dannär! Den Martini bittä gärührrrt und nischt geschüttält, sagt Tanner, nur um auch einmal etwas zu sagen.

Der Zwerg setzt sich mitsamt Schirm und Tanner in Bewegung. Das heißt, er kommt ins Rollen, der Tanner ins Stolpern und sagt leichthin über seine Kugelschulter einen verblüffend klaren Satz. Aber das weiß ich doch längst!

Unter dem Vordach aus Glas, das die drei Steinstufen vor der Haustür überdeckt, schüttelt der Zwerg mit einer gewaltigen Eruption den Schirm und schließt ihn mit einer Eleganz, die Tanner diesem Körper nie zugetraut hätte. Der Griff des geschlossenen Schirmes reicht ihm bis über seine Augenhöhe.

A l'attaque, Mistär Bönd! Miss Mönij Pänny 'add 'eute malheureusement fräi, isch bringä Sie sälbär zü M, sagt der kleine Kugelmann verschmitzt und sie betreten die geräumige Eingangshalle.

Alte Steinfliesen in Schwarz und Weiß bedecken den Boden. An den Wänden hängen Waffen aller Art. Morgensterne, Hellebarden, Lanzen, große Landknechtsschwerter. Mitten in der Halle steht am Boden eine Kanone. Ihr Lauf ist freundlicherweise genau auf die Eingangstür gerichtet, so dass jeder, der eintritt, gleich als Erstes in eine Kanonenmündung blickt.

Wer die Strecke zwischen Eingangstür und Kanone lebend hinter sich bringt, erreicht eine breite Steintreppe, die in das obere Stockwerk führt.

Links und rechts von der Treppe führen zwei symmetrisch angelegte Gänge in die Tiefe des Hauses. Mitten im Raum hängt ein antiker Eisenleuchter, direkt über der Kanone, an dem nur jede zweite Glühbirne brennt.

Reiche Leute sind sparsam, denkt Tanner und hört gleichzeitig, gedämpft aus der Tiefe des Hauses, dass jemand Klavier spielt.

Angesichts der pompösen Eingangshalle denkt er sofort an einen großen Konzertflügel in einem luftig hellen Salon, in dem ein romantisches Kaminfeuer knistert. Er sieht wertvolle Bücher bis unter die Decke, bequeme Sofas und Fauteuils, alten Cognac in bauchigen Gläsern, in denen sich das knisternde Kaminfeuer widerspiegelt, Damen mit tief ausgeschnittenen Dekoll …

Träumen Sie nicht, Tanner! Nehmen Sie die Wolldecke und folgen Sie mir!

Honoré, der Zwerg, hält ihm tatsächlich mit seinen kurzen Ärmchen eine Wolldecke hin. Er hat sich unterdessen seines schwarzen Umhangs oder Mantels, den er draußen trug, entledigt. Auch seines Kauderwelschs.

Er steht, mit einer maßgeschneiderten Butleruniform, oder so was Ähnlichem, vor Tanner. Allerdings ist zu befürchten, dass der Schneider, der hier am Werk war, schon längst das Zeitliche gesegnet hat. Tanner nimmt die Wolldecke, aus Schweizer Armeebeständen, und klemmt sie sich unter den Arm.

Honoré, genannt la boule, steuert auf den linken Gang zu, der nicht erleuchtet ist, und vage erkennt man weitere schimmernde Waffen an den Wänden. Die ostasiatischen Abteilung. Linker Hand des Ganges befinden sich drei Holztüren. Die Türgriffe aus Messing leuchten matt in der Dunkelheit.

Der Zwerg hält vor einem dunklen, schweren Vorhang inne, dreht sich um, legt seinen Miniaturfinger auf seine Lippen.

Pst!

Tanner kann ihn nur noch schemenhaft erkennen, so dunkel ist es. Der Zwerg nestelt links an der Wand irgendwas, und das Klavierstück, das Tanner kennt, aber leider nicht erkennt, bricht ab. Wahrscheinlich hat der Zwerg eine in der Wand eingelassene Klingel bedient.

Gerade will Tanner ihn fragen, ob er vor der exécution, wie der Zwerg es vorhin nannte, nicht noch schnell auf die Toilette gehen könnte, als der sich wieder umdreht und die Nummer mit dem Pst wiederholt.

Gottergeben schweigt Tanner und harrt der Dinge, die da kommen. Er hätte besser die Flucht ergriffen. Jetzt wäre es gerade noch möglich gewesen.

Unvermittelt teilt der Zwerg den Vorhang und zieht ihn am Ärmel in den Raum. Hat er auf zehn gezählt?

Hier ist es aber ziemlich kühl, ist Tanners erster Gedanke und er ersetzt sofort in dem Satz, reiche Leute sind sparsam, das Wort sparsam durch geizig.

Dann sieht er tatsächlich den Flügel. Das heißt, er sieht zwei Kerzenstummel, die links und rechts von den Notenblättern flackern. Am Flügel sitzt niemand. Der Zwerg ist verschwunden, als ob er sich in Luft aufgelöst hätte. Außer den beiden Kerzen gibt es keine Lichtquelle.

Seine Augen gewöhnen sich nur langsam an die Dunkelheit. Tanner steht in einem großen Salon. Schwere Vorhänge schließen das Tageslicht aus. Roter Samt? Stattliche Möbel stehen ohne erkennbare Ordnung herum. Die meisten sind mit Tüchern bedeckt. Tatsächlich gibt es einen Kamin, aber es brennt kein romantisches Feuer darin. Abgesehen von der Romantik, hätte der Raum gut einen wärmenden Beitrag an seinen Klimahaushalt vertragen. Tanner fröstelt und ihm dämmert die Bedeutung der Wolldecke.

Wollen Sie noch lange so rumstehen, oder haben Sie Hämorrhoiden?

Die Stimme kommt aus der Tanner diagonal gegenüberliegenden Ecke des Raumes und er macht ein paar Schritte in diese Richtung.

 

Die Stimme, die ihn angesprochen hat, war gar nicht so unangenehm. Befehlsgewohnt ja, aber nicht unangenehm. Als Eröffnung findet Tanner die Frage etwas ungewöhnlich. Aber bitte!

Danke für Ihre fürsorgliche Nachfrage. Sie kennen sich aus mit diesem Problem? Ich habe im Moment wohl eher ein Augenleiden, denn ich sehe Sie schlecht bis gar nicht. Im Übrigen heiße ich Simon Tanner und bin gestern auf dem Marrerhof, bei Ruth und Karl, eingezogen.

Stille. Dann ein geradezu herzerfrischendes Lachen. Aber worüber?

Gut! Sie können parieren und lassen sich so schnell nicht einschüchtern! Gut!

Schön wär's, denkt er.

Kommen Sie, setzen Sie sich endlich.

Sie schlägt mit ihrem Stock auf den Tisch.

Tanner geht näher und sieht jetzt eine hochgewachsene Frau an einem runden Tisch sitzen.

Eine dicke Samtdecke bedeckt den Tisch. Vermutlich Ochsenblutrot. Der Saum reicht bis auf den Boden.

Seine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit.

Sie hat weißes Haar, das streng nach hinten geknotet ist. Die Haut spannt sich regelrecht über ihren Schädel und ihre hellwachen Augen blicken ihn neugierig an. Tanner ist sich sicher, dass sich früher die Männer scharenweise nach ihr umgedreht haben.

Die Samtdecke hat sie auf ihrer Tischseite bis weit über ihre Knie hochgezogen. Mit ihrer Linken hält sie den Zipfel der Decke in ihrer knochigen Hand.

Sie müssen entschuldigen, ich bin gleich fertig!

Mit mir?

Tanner verkneift sich diese Frage und sagt stattdessen, wohlwissend, dass nicht sie Klavier gespielt hat. Mit diesen Händen …

Sie haben sehr schön Klavier gespielt. Ich komme leider nicht drauf, was Sie gespielt haben.

Sie lacht wieder ihr lautes Lachen.

Das war jetzt unter Ihrem Niveau, Tanner! Sie wissen genau, dass nicht ich Klavier gespielt habe. Schauen Sie sich doch meine Hände an! Eigentlich wollten Sie fragen, wer gespielt hat? Stimmt's? Oder habe ich Recht?

Sie erhebt sich, stützt sich dabei auf ihren Stock, behält dabei aber weiterhin die Tischdecke in der Hand und ruft mit lauter Stimme.

Zwerg! Wo bleibst du? Wart nur! Hast du mich vergessen?

Tanner hört hinter sich ein Geräusch und schon schießt die uniformierte Kugel an ihm vorbei, nimmt den Stuhl weg, auf dem die Alte bis jetzt gesessen hat.

Isch bijn ja da. Nür käinä Aufrägüng, Madame!

La boule ijst niemand, där värgisst!

Schon gar nischt, wenn Madame gepisst.

Isch bringä jätzt zu Hinz und Künz,

Ihrän gold'nän, teurän Brünz.

Um Millimeter nur verpasst der niedersausende Stock den Rücken des Zwerges. In dem Stuhl, den Honoré an Tanner vorüberträgt, ist ein Gefäß eingelassen, in dem hörbar Madames Wasser plätschert.

Während die Alte ihren Rock glatt streicht, offensichtlich trägt sie keine Unterwäsche, oder Tanner versteht ihre Technik nicht, hört er draußen im Gang weitere Dichterworte des großen Honoré. Leider versteht er nur noch den Anfang der nächsten Zeile. Aliäs Läbän fließt in ruhigär Bahn,

Seulement Madame und ihr Galan …

Der Rest verliert sich leider in der Ferne. Tanners Sympathie für den kleinen Gnom wächst von Minute zu Minute.

Die Alte greift unter den Tisch und bringt eine Literflasche Kölnisch Wasser zum Vorschein. Mit einem: Wollen Sie auch, Tanner?, bietet sie ihm die Flasche an. Und mit einem: Danke, ich habe schon!, wehrt er entschieden das Angebot ab. Lieber wäre ihm jetzt eine Zigarette.

Und wo bleibt der angekündigte Tee, fragt er sich still.

Eine Wolke des wohl billigsten Kölnisch Wassers, das er je gerochen hat, umhüllt sie jetzt.

Gibt es für geizig noch eine Steigerungsform? Vielleicht schwergeizig? Analog zu schwerreich.

Sie stellt das Kölnisch Wasser wieder weg und knallt hintereinander zwei weitere Flaschen auf den Tisch.

Wollen Sie Malaga oder Orangensaft?, fragt sie und schaut ihn prüfend an.

Tanner kommt sich vor wie Bassanio in Belmont, der sich für die goldene, silberne oder bleierne Kassette entscheiden muss und dessen zukünftiges Glück – Liebe und Kapital – von der richtigen Wahl abhängt. Die silberne Kassette, das Kölnisch Wasser, hat er ja bereits abgelehnt.

Es bleibt die alles entscheidende Frage: Gold oder Blei?

Er entscheidet sich demütig für das Blei, wie der kluge Bassanio, der mit dieser Antwort alles gewann …

Trinken Sie keinen Alkohol? Wie fad!

Tanner bereut natürlich sofort seine Entscheidung, aber schon kommt Honoré mit zwei großen Wassergläsern angerollt und schenkt ihm zwei Fingerbreit Saft ein.

Gerührt und nicht geschüttelt, sagt er leise zu ihm und trollt sich wieder.

Die Alte schenkt sich selber ihr Glas randvoll mit Malaga ein und prostet ihm zu. Sie leert in einem Zug mindestens die Hälfte des Glases und greift noch einmal unter den Tisch.

Zum Vorschein kommt ein buschiger Kater, den sie sich auf ihren Schoß setzt. Der Kater glotzt Tanner an.

Ein Glück, dass seine neue Katzenfreundin Rosalind nicht hier ist! Dieses Monsterexemplar von Kater würde sie nicht mögen. Obwohl man sich in der Hinsicht ganz gewaltig täuschen kann!

Die Alte krault den Kater hinter den Ohren. Die Stelle müsste eigentlich längst wund sein, so wie sie krault. Dann spricht sie das erste Mal den Namen aus.

… Ah … wie meinen Sie, äh … das jetzt? Tanner ist verdattert.

Sie wollten doch vorhin ganz schlau herausfinden, wer Klavier gespielt hat. Stimmt's? Oder habe ich Recht?

Mit einem zweiten Schluck leert sie ihr Glas.

Wenn sie ihr Glas gleich nachfüllt, kann Honoré bald wieder den Spezialthron bringen, denkt Tanner, um sich abzulenken. Er macht in dem Moment nicht sein intelligentestes Gesicht. Er lockert die Krawatte und wiederholt einfältig noch einmal den Namen.

Rosalind? Ach so, Rosalind! … äh … sie hat Klavier gespielt? Und wer ist, äh … Rosalind, wenn ich fragen darf?

Jetzt fühlt er eine Wärme im Gesicht. Zum Glück ist es hier so dunkel. Tanner denkt an rotblonde Haare und an ein ovales Gesicht …

Rosalind ist meine Enkelin, sie hat Klavier gespielt. Ist das zu schwierig für Sie zu verstehen, Tanner?

Nein, nein, ich verstehe schon, beeilt er sich zu sagen.

Verstehen schon, aber ich kann es nicht so richtig fassen, denkt er und findet es irgendwie gemein, dass sein Gesicht nicht abkühlt. Deswegen habe ich Sie auch hergebeten, Tanner!

Pause. Der Kater gähnt.

Ich höre, dass Sie gestern das Pferd, das meine Enkelin abgeworfen hat, eingefangen haben. Dafür möchte ich mich bedanken.

Diesen Sidian, dieses Saubiest, einzufangen, dazu gehört was, das muss ich sagen. Das würde sich nicht jeder trauen. Es ist außerdem ein wertvolles Tier. Nicht auszudenken, was alles hätte passieren können, ohne Ihr mutiges Eingreifen. Stimmt's? Oder habe ich Recht?

Also, wissen Sie, es war …!

Schweigen Sie, Tanner! Ich bin noch nicht zu Ende!

Tanner schweigt und nippt an seinem Saft.

Meine Enkelin hatte keine Erlaubnis, mit diesem Pferd zu reiten, weil es noch nicht fertig eingeritten ist. Verstehen Sie etwas von Pferden? Nein! Das habe ich mir gedacht.

Er hat eigentlich weder Ja noch Nein gesagt, aber sie ist nicht zu bremsen.

Umso mehr Respekt. Und weiter habe ich gehört, dass mein Sohn nicht gerade höflich zu Ihnen gewesen ist.

Wieder versucht er dazwischenzugehen.

Nein, nein, lassen Sie, Tanner. Ich kenne meinen Sohn. Höflichkeit gibt's nicht in seinem Repertoire. Er hat sich gestern sicher saumäßig benommen. Stimmt's? Oder habe ich Recht? Würden Sie von mir eine Entschuldigung für sein Verhalten akzeptieren?

Er ist leider heute geschäftlich unterwegs, sonst würde er sich selber entschuldigen.

Jetzt sind Sie unter Ihrem Niveau, Madame. Der Mann, den ich gestern gesehen habe, der würde sich nie und nimmer entschuldigen. Er behält den Gedanken für sich.

Selbstverständlich, Madame, sagt Tanner stattdessen laut und deutlich. Und macht Anstalten aufzustehen.

Sitzen bleiben, Tanner! Die Audienz ist noch nicht beendet! Trinken Sie noch Saft! Zweeerrg …!