Verschollen in Ostfriesland

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Verschollen in Ostfriesland
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Ulrich Hefner

Verschollen in Ostfriesland

Kriminalroman


Zum Buch

Jagd nach dem Phantom Der Bürgermeister von Diekenhörn, Enno Ollmert, ist spurlos verschwunden. Bis weit über die Grenzen der Stadt hinaus, war er vor allem für seine Unersättlichkeit und seinen unstillbaren Hunger nach Macht und Einfluss bekannt. Dabei missachtete er alle Regeln und machte sich so tagtäglich neue Feinde. Als seine Jacht führerlos vor Baltrum aufgebracht wird – eine Blutlache an Bord – sieht es zunächst so aus, als wäre er auf seinem Segeltörn einem Unfall zum Opfer gefallen. Doch Hauptkommissar Trevisan ist skeptisch. Zu viele Ungereimtheiten, zu viele offene Fragen und dazu ein Opfer, dem alles zuzutrauen ist –sogar das Arrangement des eigenen Todes. Trevisan muss all sein Können und sein ermittlerisches Gespür aufbieten, um Licht ins Dunkel zu bringen. Doch wird es ihm gelingen Enno Ollmert noch lebend aufzufinden oder ist er schon längst tot? Die Zeit drängt, denn mit jedem Tag, der vergeht, verblasst der Schatten des Mannes immer mehr, bis am Ende nichts mehr von ihm übrig bleibt.

Ulrich Hefner wurde 1961 in Bad Mergentheim geboren. Er lebt in Lauda-Königshofen, im beschaulichen Taubertal, ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Hefner arbeitet als Polizeibeamter und ist freier Autor sowie Journalist. Der Autor ist Mitglied bei den Polizei-Poeten und im Deutschen Presseverband. Ulrich Hefners Begeisterung für die Nordsee stammt noch aus Kindheitstagen, als er Geschichten um die Hanse und Störtebeker verschlungen hat. Heute zieht es ihn immer wieder selbst an die Küste, wo nun auch seine eigenen Helden wirken. „Verschollen in Ostfriesland“ ist der achte Band seiner Krimiserie um den Wilhelmshavener Ermittler Martin Trevisan. ehr über den Autor finden Sie unter: www.ulrichhefner.de und www.autorengilde.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © xenias / photocase.de

ISBN 978-3-8392-7006-6

Gedicht

In den Tiefen des Ozeans,

verschollen,

doch eines Tages kommt das dunkle Geheimnis

aus der Tiefe wieder empor,

und aus

Vermutung wird Gewissheit,

aus

Lüge wird Wahrheit,

und plötzlich scheint die gesamte Welt

Kopf zu stehen.

Prolog

Cuxhavener Küstenheiden, Mai 2019

Er lief wie ein Uhrwerk, präzise, gleichmäßig und genau im richtigen Tempo. Wenn man einmal über den Punkt hinaus war, wenn man das Gehirn und all seine Gedanken ausschalten konnte und die gleichförmige Bewegung die Herrschaft über Geist und Körper übernommen hatte, dann war alles ganz einfach. Der Fuß folgte dem Fuß, die Arme schwangen im Gleichklang, und die Kraft und die Energie befeuerten die Sehnen, Gelenke und die Muskulatur – und das Dasein folgte einem einzigen Sinn, der Bewegung. Er kannte diesen Zustand, er trainierte ihn, so oft er konnte, denn Marathon laufen war seine Leidenschaft. Jeden Samstag folgte er dem gleichen Weg. Von Altenwalde hinüber nach Arensch, hinunter nach Oxstedt und dann querfeldein zurück, um noch einmal die gleiche Strecke zu bewältigen. Zwei Mal folgte er den Wegen durch die Wiesen und Wälder, bevor er sein geplantes Pensum hinter sich gebracht hatte. 42 Kilometer und knapp 200 Meter bis zum Ziel. Die Strecke war genau abgemessen, er wusste nicht mehr, wie oft er sie schon hinter sich gebracht hatte, bei Sonnenschein, bei Regen, im Wind und selbst bei Schnee. Heute war gutes Wetter, ideales Wetter sogar, ein leichter, kühler Wind, die Temperaturen nicht zu hoch, beinahe ideale Wettkampfbedingungen. Auf so einen Tag hoffte er auch, wenn in zwei Wochen, an einem Samstag, der Wangerlandmarathon bevorstand, von Wilhelmshaven an die Küste und über Jever zurück. Schließlich hatte er einen Titel zu verteidigen. In der Altersklasse über 50 war er vor zwei Jahren als Sieger durch das Ziel gelaufen. Mit einer Zeit von drei Stunden und 22 Minuten hatte er alle hinter sich gelassen und mit einem Vorsprung von über vier Minuten auf den Zweitplatzierten gewonnen. Er war bekannt im Umland in den Kreisen der Läufergemeinde. Der Wangerlandmarathon war nicht der einzige Event, an dem er in den letzten Jahren teilgenommen hatte. Sogar in München, Paris und New York war er schon gelaufen.

Seit nunmehr 20 Jahren widmete er sich diesem Sport, nachdem er dem Tennis den Rücken gekehrt hatte.

Laufen war gut, Laufen war gesund und hielt ihn in Form. Bei einer Größe von beinahe 1,80 Meter und einem Gewicht von 60 Kilo mochte er wohl ein wenig unterernährt wirken, doch das täuschte, denn sein Körper bestand neben den üblichen Zutaten aus reiner Muskulatur, Fett suchte man vergebens.

Mathias Wegener war ein Läufer aus Leidenschaft. Das Laufen war ein ausgezeichneter Gegenpol zu seiner Arbeit, die er vorwiegend im Büro und im Labor verrichtete. Nur hin und wieder war er draußen im Außendienst, und dann meist nur kurz, um ein paar Proben zu entnehmen oder einer Bohrung beizuwohnen. Mathias Wegener arbeitete beim Institut »Flachser und Kollegen« in Cuxhaven und war Geologe. An seiner Tätigkeit war nichts Abenteuerliches, denn er arbeitete im Bereich der Bodenanalysen für die Baubranche und erstellte vorwiegend Gutachten für Großbaustellen und Bauprojekte. Das Laufen hielt ihn fit.

Er war wie jeden Samstag gegen 9 Uhr an seinem Haus im Meisenweg in Altenwalde gestartet und am Ende der Siedlung nach rechts in den Wald abgebogen. Wie immer waren ihm auf dem ersten Teil der Strecke etliche Jogger begegnet. Erst, als er nach dem Wald die kleine Schonung hinter sich gelassen und die Cuxhavener Küstenweide durchquert hatte, nahm die Zahl an Joggern und Spaziergängern ab. Schließlich trabte er ganz alleine über Wald und Flur, und seine Gedanken verschwammen, bis sie sich schließlich im Nichts auflösten. Am Waldparkplatz überquerte er die Landstraße K7, die wie jeden Samstag um diese Zeit nur wenig befahren war. In Arensch bog er links ab und folgte dem Feldweg, der hinter dem Ferienhotel »Dünenhof« nach Süden bis Oxstedt führte. Die Zahl der Spaziergänger und Jogger nahm zu. Er durchquerte den Ort und lief ein kurzes Stück auf Asphalt am Möhlendiek entlang, bevor ein Waldweg nach links abzweigte, der wieder nach Norden in Richtung Altenwalde führte. Er befand sich auf der zweiten Runde und fühlte sich noch immer kräftig. Ab und zu warf er einen Blick auf seine Armbanduhr, mit der er seine Laufzeit überwachte und lächelte. Für die letzten acht Kilometer lag er gut in der Zeit und würde wieder einmal unter drei Stunden und 30 Minuten das Ziel in Altenwalde erreichen.

Er hatte den Nordholzer Weg hinter sich gelassen und befand sich auf dem Möhlendiek. Sein gelbes T-Shirt war von Schweiß durchnässt, und die zweite Flasche Wasser, die er am Gürtel bei sich trug, war zur Hälfte geleert, doch hoffte er, dass die verbliebene Menge für die letzten Kilometer ausreichen würde. Als der Gehweg endete und er den Ort verließ, lief er am rechten Straßenrand. Es herrschte nur wenig Verkehr, und der Waldweg, dem er im Anschluss folgen musste, lag gerade mal 300 Meter entfernt. Den Wagen hinter sich hörte er erst, als der Motor laut aufheulte. Seine Konzentration ruhte fest in seinem Körper. Die Straße war breit genug, deshalb hielt er die Augen nach vorne gerichtet. Erst im letzten Moment, als er spürte, dass etwas nicht stimmte, wandte er den Kopf. Er nahm etwas Rotes wahr, doch bevor er registrierte, dass der Wagen direkt auf ihn zuschoss, wurde er hoch in die Luft geschleudert. Alles in ihm war ein einziger Schmerz. Er wirbelte durch die Luft. Als er hart auf dem Boden landete, schwanden ihm die Sinne. Am Straßenrand blieb er liegen, während der rote Wagen im hohen Tempo in Richtung der Bundesstraße davonraste.

*

47 Minuten, nachdem Mathias Wegener angefahren worden war, wurde er mit einem Rettungshubschrauber nach Cuxhaven in die Klinik gebracht. Er lebte, doch befand er sich in akuter Lebensgefahr. Niemand wusste, ob er die Nacht durchstehen würde.

Die Polizei fahndete mit Hochdruck nach dem Unfallwagen, einem roten Nissan Juke, von dem allerlei Teile an der Unfallstelle zurückgeblieben waren und von dem es eine Beschreibung einer Zeugin gab, die mit ihrem Kind vom Spielplatz im Nordholzer Weg gekommen war.

Eine Streife fand den Wagen am späten Nachmittag in einem Waldstück bei Sievern, und auch den Fahrer fand sie vor, der volltrunken hinter dem Steuer kauerte und seinen Rausch ausschlief. Zwei Flaschen Wodka lagen im Fond. Sie nahmen den Fahrer namens Anatol Rogoff fest und sperrten ihn nach einer Blutprobe in Cuxhaven in eine Zelle, denn der Wagen war am frühen Morgen vom Parkplatz einer Baufirma gestohlen worden.

 

Der Richter ordnete Untersuchungshaft an. Anatol Rogoff war nicht das erste Mal betrunken und ohne Führerschein mit einem gestohlenen Wagen unterwegs gewesen. Und auch, wenn er sich mit seinen 2,89 Promille, wie sich später herausstellte, an nichts mehr erinnern konnte, so sprach alles gegen ihn. Anatol Rogoff war der Täter und, sollte Mathias Wegener, der im Koma lag, an den Folgen des Unfalls sterben, so würde den polizeibekannten Russen eine lange Haftstrafe erwarten.

Norderland

1

Kriminalkommissariat Wilhelmshaven, Mozart­straße

Trevisan hob sein Glas in die Höhe und prostete Eike zu. »Auf deinen Hauptkommissar«, sagte er und trank einen kleinen Schluck.

Anlässlich der Beförderung von Eike Brun zum Hauptkommissar hatten sich Trevisan und seine Crew im Soko-Raum der Dienststelle zu einer kleinen Feierstunde versammelt. Es gab Sekt und Häppchen. Als Eike mit einem Löffel gegen das Glas schlug, verstummte das Lachen und alle Augen richteten sich auf den jungen Mann, der sichtlich gerührt war.

»Ich danke euch, liebe Kolleginnen und Kollegen«, sagte er mit hölzerner Stimme. »Ich bin nicht besonders gut im Redenhalten, aber ich bin stolz darauf, dieser Crew anzugehören. Mit Trevisan als unseren Kapitän und Monika, quasi als Steuerfrau, im Rücken und mit euch an der Seite sind wir unschlagbar. Ich hoffe, dass wir auch weiterhin so gut zusammenarbeiten, und möchte an dieser Stelle sagen, dass es Lentje oder Lisa ebenso verdient gehabt hätten wie ich. Ich hoffe, dass sich an unserer Zusammenarbeit nichts ändert, nur weil es zufällig mich getroffen hat.«

Lentje Kaplani winkte ab. »Mir kommen gleich die Tränen«, scherzte sie. »Die paar Kröten, die du jetzt mehr kriegst als wir, machen den Kohl nicht fett. Ist noch Sekt da?«

Alle lachten und prosteten sich zu.

Draußen schien die Julisonne, keine Wolke trübte den Himmel. Es war warm geworden im Norden, und Trevisan schaute auf seine Uhr. Es war kurz nach 16 Uhr am späten Nachmittag. In 20 Minuten war Feierabend, und er musste noch einen Blumenstrauß besorgen, einen großen Blumenstrauß, denn Paula hatte in der Nacht entbunden und einen strammen Sohn zur Welt gebracht.

Während die anderen miteinander scherzten, gesellte sich Monika an Trevisans Seite. »Wie geht es der jungen Mutter und dem neuen Erdenbürger?«, fragte sie.

»Bei meinem Anruf heute Mittag ging es beiden gut«, entgegnete Trevisan. »Der Kleine schläft und Peer ist bei ihr. Ich fahre später zu ihnen.«

»Wie fühlt es sich an, Opa zu sein?«

Trevisan lächelte. »Ich weiß es nicht, ist wohl noch zu früh, um was zu sagen. Zuerst will ich ihn mal in den Armen halten.«

Monika Sander nickte. »Es ist schon komisch: An den Kindern merkt man, dass man alt wird. Es ist, als hätte ich meine Kinder vor Kurzem in meinen Armen gehalten – und jetzt ist das Haus leer. Du wirst Opa, und ich bin schon Oma, nur bekomme ich davon nichts mit. Meine Enkel wohnen 400 Kilometer weit entfernt, und die Besuche halten sich in Grenzen. Ostern vielleicht, an Weihnachten, und das war es auch schon. Da hast du Glück, du siehst deinen Enkelsohn vor deiner Nase aufwachsen. Hat der Kleine schon einen Namen?«

Trevisan wiegte mit dem Kopf hin und her. »Er soll Ayk heißen.«

»Mike?«

»Nein, Ayk, A, Y, K«, buchstabierte Trevisan.

»Ist das dänisch?«

Trevisan schüttelte den Kopf. »Ayk ist ein alter friesischer Name, Paula hat ihn ausgegraben.«

»Das ist toll, Ayk Trevisan, ein Stammhalter.«

Trevisan lächelte. »Ja, ich bin nicht unglücklich darüber, dass Paula bei ihrer Trauung den Mädchennamen beibehalten hat. Obwohl Stenmark auch nicht schlecht klingt. Ich hoffe nur, dass sie glücklich wird, nach allem, was sie durchmachen musste.«

»Hey, ihr dort drüben!«, rief Eike. »Steht in der Ecke und blast Trübsal, und das bei meiner Beförderung.«

Trevisan und Monika nickten entschuldigend. »Keine Angst, wir freuen uns mit dir, wir schwelgen nur ein klein wenig in Erinnerungen.«

»Wann willst du es ihnen sagen?«, flüsterte Monika, denn außer ihr wusste niemand darüber Bescheid, dass Trevisan Opa geworden war.

»Ich möchte ihn erst einmal in den Händen halten«, entgegnete Trevisan, bevor sie ihre Ecke verließen und sich zu den anderen gesellten. Eike schenkte Trevisans Glas erneut voll. Plötzlich wurde die Tür geöffnet und Thorke Oselich betrat den Raum.

»Schön, es sind ja noch alle da«, sagte sie.

»Kommt wohl auch zum Gratulieren«, bemerkte Lentje leise. Eike schüttelte den Kopf. »Hat sie doch heute früh schon, als ich die Urkunde bekam.«

»Ich muss einen Augenblick um Ruhe bitten«, ergriff Thorke Oselich erneut das Wort. Sie wartete, bis im Raum Ruhe eingekehrt war.

»Mich hat soeben der Polizeipräsident angerufen«, fuhr sie fort. »Bürgermeister Enno Ollmert aus Diekenhörn wird seit drei Tagen vermisst. Der Präsident will, dass wir den Fall übernehmen.«

Trevisan runzelte die Stirn. »Wieso wir? Dafür ist doch die Vermisstenstelle zuständig.«

»Jetzt nicht mehr«, entgegnete Thorke Oselich. »Die Küstenwache hat heute vor Baltrum seine Jacht aufgebracht. Führerlos ist sie dort herumgetrieben. Es ist eine Menge Blut an Bord.«

2

Polizeikommissariat Wittmund, Kriminalermittlungsdienst

Trevisan hatte den Besuch bei seiner Tochter verschieben müssen. Zusammen mit Monika Sander war er nach Wittmund zum Polizeikommissariat gefahren, um sich mit Hauptkommissar Janson zu treffen, bei dem die bisherige Leitung der Fahndung nach dem verschollenen Bürgermeister von Diekenhörn gelegen hatte.

Unterwegs unterhielten sie sich über den verschwundenen Bürgermeister namens Enno Ollmert. Trevisan war der Mann gänzlich unbekannt, doch Monika hatte bereits von ihm gehört. Sie wusste, dass er vor seinem Amtsantritt in Diekenhörn beim NDR gearbeitet und einige Jahre lang eine Nachtsendung im Dritten Programm zusammen mit einer Kollegin moderiert hatte, die später Nachrichtensprecherin bei »NDR-Aktuell« geworden war. Ansonsten, so hieß es, wäre er als Tausendsassa und Frauenheld bekannt, der selbst vor Affären mit verheirateten Frauen nicht zurückschreckte.

»Dann kennen wir vielleicht den Grund seines Verschwindens und müssen nur noch den gehörnten Ehemann finden«, scherzte Trevisan, als sie den Dienstwagen auf dem Parkplatz der Wittmunder Polizeidienststelle parkten.

Hauptkommissar Janson war klein, neigte zu Übergewicht und trug ein weißes Hemd mit Schweißrändern am Kragen. Er wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn, als er die Ermittler aus Wilhelmshaven in sein Büro führte.

»Haben Sie schon eine Idee, weswegen er verschwunden ist?«, fragte Trevisan, nachdem ihnen Janson Platz angeboten hatte.

Janson zuckte mit der Schulter. »Er hatte eine Woche Urlaub genommen und sollte am Montag wieder seinen Dienst antreten«, berichtete Janson. »Er hatte ein paar wichtige Termine an diesem Tag. Seine Sekretärin rief mehrfach bei ihm an, Festnetz und Handy, aber kein Erfolg. Am Mittag schickte sie den Büroboten zum Wohnhaus des Bürgermeisters, doch der stand vor verschlossener Tür. Am Abend erstatteten sie Anzeige bei den Kollegen der Streife. Bis heute Mittag gingen wir davon aus, dass er womöglich seinen Urlaub etwas ausgedehnt hat, sein Handy ist seit Sonntag vor einer Woche vom Netz. Er geht gerne zum Windsurfen an den Gardasee. Wir dachten, dass er dort möglicherweise einen Unfall hatte und im Krankenhaus liegt, aber sein Boot treibt vor Baltrum, und darauf gibt es eine Menge Blut. Wir müssen wohl davon ausgehen, dass er vor Baltrum über Bord gegangen ist.«

»Unfall?«

»Zumindest war niemand an Bord, als man die Jacht in der Nähe des Bergumer Wracks in der Nordsee treibend fand.«

Trevisan warf Monika einen kurzen Blick zu.

»Ehrlich, Trevisan«, fuhr Janson fort, »Ich bin froh, dass ihr aus Wilhelmshaven die Sache übernehmt, mein Telefon stand den ganzen Tag nicht still. Ollmert ist in der Gegend eine bekannte Persönlichkeit. Noch dazu stehen bald Wahlen an, ihr könnt euch sicher vorstellen, dass die Presse neugierig ist.«

Trevisan nickte. »Was war oder was ist er denn für ein Typ?«

Janson erhob sich, ging zum Regalschrank und zog einen Ordner aus dem Fach. Er schlug ihn auf und reichte ihn Trevisan. Auf der ersten Seite prangte ein großformatiges Pressefoto des Bürgermeisters. »Auf den ersten Blick könnte man meinen, das ist Johnny Depp, dieser Schauspieler aus diesen Piratenfilmen. Er ist ledig, lebt alleine in einem angemieteten Haus in Basdorf, fährt einen Porsche, hat eine Jacht in Neßmersiel und offenbar jede Menge Frauengeschichten am Laufen. Er war Fernsehmoderator, bevor er im ersten Wahlgang Bürgermeister wurde. Das ist seine erste Amtszeit, und es ist nicht sicher, ob es eine zweite geben wird.«

»Kam er damals bei den Leuten so gut an, dass er seine Gegenkandidaten gleich im ersten Wahlgang ausstach?«, fragte Monika.

Janson zuckte mit der Schulter und nahm an seinem Schreibtisch Platz. »Sein Vorgänger war alt und trat nicht mehr an. Der andere Kandidat war eher unbekannt, Ollmert kam vom Fernsehen, und reden kann er, so wie alle Politiker. Große Versprechen und am Ende, nach der Wahl, nur heiße Luft.«

»Dann war er wohl nicht sehr beliebt?«, mutmaßte Trevisan.

Janson lächelte. »In der Damenwelt und bei Empfängen schon, aber wer gute Politik von ihm erwartete, der wurde wohl enttäuscht. Gerüchten nach wäre er wohl nicht mehr wiedergewählt worden, aber wie gesagt, die Wahlen sind erst im nächsten Jahr.«

Trevisan blätterte den Ordner durch. »Ah, im Haus ward ihr schon«, stellte er anhand der Fotos auf den weiteren Seiten fest.

»Ja, zur Nachschau«, bestätigte Janson. »Richtig durchsucht haben wir es nicht, gab ja keinen Grund dafür. Er war nicht da und hing auch nicht irgendwo im Gebälk. Einbruchspuren gab es nicht, in der Wohnung war alles in Ordnung. Nur im Kleiderschrank waren ein paar leere Fächer, was dafür sprach, dass er tatsächlich im Urlaub ist. Sein Porsche steht verschlossen in der Garage.«

Trevisan räusperte sich. »Okay, das Boot wird von der Wasserschutzpolizei nach Wilhelmshaven geschleppt. Die Spurensicherung aus Oldenburg ist auf der Anfahrt, die sollen sich danach das Haus vornehmen. Gibt es denn jemanden in seinem Bekanntenkreis, der mehr weiß, mit dem er vielleicht darüber gesprochen hat, was er in seinem Urlaub unternimmt?«

Janson zuckte mit der Schulter. »Seine Sekretärin, Frau Haferkamp, mit der haben wir gesprochen, ansonsten scheint er keine engeren Freunde zu haben. Die Nachbarn konnten auch nicht viel sagen.«

»Was heißt nicht viel?«

»Eine Nachbarin hat ihn am Samstag vor einer Woche das letzte Mal in seinem Garten gesehen. Er winkte ihr zu, ehe er ins Haus ging. Seither ist er verschwunden.«

»Da war er alleine?«

»Ja.«

Monika kratzte sich an der Stirn. »Man ging davon aus, dass er in den Urlaub gefahren ist, an den Gardasee oder wohin auch immer, aber sein Wagen steht verschlossen in der Garage. Und heute findet man seine Jacht, ich meine, habt ihr die Jacht nicht überprüft?«

Janson zuckte mit der Schulter. »Wir wussten nichts von einer Jacht«, sagte er zu seiner Entschuldigung.

Trevisan runzelte die Stirn. »Wie ist er nach Neßmersiel gekommen, wie viele Kilometer sind das von seinem Wohnhaus?«

Janson zuckte mit der Schulter. »Drei, vier vielleicht.«

»Die ist er wohl kaum zu Fuß gegangen«, erwiderte Monika Sander. »Dazu noch mit Koffern im Schlepptau.«

Janson faltete die Hände vor seiner Brust. »Vielleicht mit dem Rad oder mit dem Taxi.«

»Wurde das überprüft?«

»Die Taxis ja, ob er ein Fahrrad besaß, wissen wir nicht. Eine Taxifahrt gab es aber nicht. Zumindest nicht von seiner Adresse aus.«

Trevisan blätterte weiter im Ordner und stieß auf einen Brief, der in einer Klarsichthülle steckte.

Wenn du deine Finger nicht bei dir halten kannst, dann wirst du bald merken, wie gefährlich es sein kann, sich an fremden Früchten zu vergreifen.

»Was ist das?«, fragte Trevisan und zeigte auf das Blatt, das aus einem Drucker stammte.

 

»Ein Drohbrief, da sind noch zwei weitere. Das sind die Kopien, die Originale sind auf dem Weg zur Spurensicherung nach Oldenburg.«

Trevisan blätterte weiter.

Ich habe dich gewarnt, das nächste Mal bist du tot!

Der zweite Brief glich dem ersten und stammte augenscheinlich aus demselben Drucker.

Du hast deine Lektion nicht gelernt, jetzt reicht es, sieh dich besser um, wenn du in der Nacht nach Hause gehst.

Auch dieses Schriftbild stimmte mit den anderen überein.

»Woher habt ihr die?«, fragte Trevisan.

»Frau Haferkamp gab sie uns, sie kamen in den letzten drei Wochen und waren in einem neutralen Kuvert ohne Briefmarke. Leider wurden die Umschläge bereits weggeworfen, es sind nur noch die Briefe da.«

Trevisan schüttelte den Kopf. »Hier stimmt etwas nicht, das passt alles nicht zusammen. Drohbriefe, Urlaub am Gardasee, fehlende Klamotten aus dem Kleiderschrank und die Jacht vor Baltrum. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.«

Janson lächelte. »So ging es mir auch, deshalb bin ich auch nicht beleidigt, dass ich den Fall vom Tisch habe und ihr euch damit herumschlagen müsst.«

»Können wir den Ordner mitnehmen?«

Janson nickte. »Meinen Bericht mit den bisherigen Erkenntnissen schicke ich euch zu, aber das ist auch nicht mehr, als wir gerade besprochen haben. Ich kann nur sagen, an Feinden, die ihm an den Kragen wollten, mangelt es nicht. Und er hat offenbar jeden Tag fleißig daran gearbeitet, dass die Anzahl der Leute, die ihm die Pest an den Hals wünschen, größer wurde. Auch im Rathaus lief nicht alles rund. Am besten wird es sein, ihr macht euch selbst ein Bild. Redet doch mal mit der Sekretärin, sie weiß eine ganze Menge über Enno Ollmert.«

Trevisan schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, ehe er sich erhob. »Gut, dann machen wir uns an die Arbeit. Vielen Dank, Kollege.«

Als Trevisan neben Monika im Wagen auf dem Beifahrersitz Platz nahm, war seine Miene eher finster.

»Was grübelst du?«, fragte sie.

Trevisan zeigte auf den Ordner, den er im Fußraum abgelegt hatte. »Dieser Fall gefällt mir nicht. Janson ist gottfroh, dass er die Sache vom Tisch hat. Viel hat er nicht herausgefunden. Ich fürchte, wir müssen ganz von vorne beginnen.«

»Okay, wo fangen wir an?«

»Mit der Sekretärin.«

»Dann gib mir die Adresse, damit ich weiß, wohin ich fahren muss.«