Die Wiege des Windes

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Die Wiege des Windes
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Ulrich Hefner

Die Wiege des Windes

Kriminalroman


Zum Autor

Ulrich Hefner wurde 1961 in Bad Mergentheim geboren. Er wohnt in Lauda-Königshofen, ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Hefner arbeitet als Polizeibeamter und ist freier Autor und Journalist. Er ist Mitglied in der IGdA (Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren), im DPV (Deutschen Presseverband) und im Syndikat. Weiterhin ist er Gründungsmitglied der Polizei-Poeten. Die Polizei-Poeten veröffentlichten inzwischen vier Bücher, die nicht nur in Polizistenkreisen auf großes Interesse stießen. Neben der Krimiserie um den Ermittler Martin Trevisan, die inzwischen aus sechs Bänden besteht, sind inzwischen auch drei Thriller erschienen, die bereits in mehreren Sprachen übersetzt wurden. www.ulrichhefner.de und www.autorengilde.de.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2006 im Leda-Verlag)

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © uhotti/sstock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6422-5

Widmung

Für Heidi, die Kinder

und die Drachen im Wind

Gedicht

An der Wiege des Windes,

dort wo die Sonne das Wasser berührt,

glutrot und in vibrierender Luft,

strömen die Kraft und die Energie

mitten hinein in die durstige

Seele

Ostfriesland im November 1997

Horst Winterberg stand vor dem Spiegel im Badezimmer und betrachtete sein vom Leben zerfurchtes Gesicht. Die grauen Bartstoppeln wirkten wie ein abgeerntetes Kornfeld im Herbst. Seine grauen, feuchten Augen, umgeben von bläulichen Schatten, wirkten starr und leblos.

Die letzten Tage hatten den Rest an Energie aufgebraucht, die noch in ihm gesteckt hatte. Er fühlte sich alt, abgenutzt und ausgelaugt wie eine leere Batterie, nutzlos und überflüssig. Die Augenblicke vergingen, bis sein Spiegelbild in der feuchtwarmen Luft langsam verblasste. Er öffnete seinen Bademantel, zog ihn aus und legte ihn sauber zusammengefaltet auf den kleinen Hocker neben der Badewanne.

Mit seiner Hand prüfte er das Wasser. Es war heiß, doch er hatte gehört, je heißer das Wasser, umso weniger Schmerzen würde er empfinden. Bevor er in die Wanne stieg, nahm er noch einen kräftigen Schluck aus der schwarzen Flasche. Er hatte schon immer einen Faible für trockenen Sherry gehabt. Die Hausbar in diesem Hotel war gut bestückt, ausgezeichneter Cognac, hochprozentiger Gin, Martini, Magenbitter und sogar Champagner hatte er in dem kleinen Kühlfach vorgefunden. Dennoch hatte er auf das Bewährte zurückgegriffen, und der Sherry war wirklich gut. Ob er auch dafür taugte, die Rezeptoren im Gehirn abzuschalten und ihn vor allzu heftigen Schmerzen zu bewahren, würde sich noch herausstellen.

Er hatte sich entschieden. Er hatte in den letzten Tagen überlegt, welche Auswege ihm noch offen standen, und war zu dem Schluss gekommen, dass es nur noch diesen einen für ihn gab, um seinen Ruf und seine Familie zu schützen. Seine Frau, die in verschiedenen sozialen Organisationen tätig war, seine älteste Tochter Annika, die erst vor kurzem die neue Praxis in der Altstadt eingerichtet hatte, und Hannes, seinen Sohn, der gerade vor dem Aufstieg in der Firma stand.

Nur wenn er, Horst Winterberg, nicht mehr wäre, dann würde über alles der Mantel des Schweigens fallen. Depressionen und Angstzustände waren häufige Gründe, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Und dass es hinterher nach einem solchen Lebensdrama aussehen würde, dafür hatte er gesorgt. Die Polizei würde kommen, würde Fragen stellen und die richtigen Antworten finden. Als junger Mann war er wegen Depressionen in Behandlung gewesen. Das Bild war schlüssig. Also würden die Ermittlungen schnell zu dem gewünschten Ergebnis führen. Er wusste, wovon er sprach, schließlich war er lange genug Beamter. Er wusste, wie diese Sorte Menschen dachte, wie sie agierten und welche Schlüsse sie zogen.

Für ihn gab es keine Zweifel mehr, und kein Zurück. Er hatte sich zu tief in den Dschungel verstrickt, er war zu weit gegangen. Dabei hätte er es sich nie vorstellen können, dass ausgerechnet er in solch eine Situation kommen konnte. Er hatte immer ehrlich und redlich gehandelt, hatte sich nie auf irgendwelche dunklen Geschäfte eingelassen. Bis auf dieses eine Mal.

Der Schweiß rann ihm über die Stirn. Die Hitze machte ihn müde und der Sherry zeigte langsam Wirkung. Der Zeitpunkt war gekommen – wenn er jetzt nicht handelte, dann würde er langsam dahindämmern.

Der Brief lag auf der kleinen Kommode neben dem Waschbecken. »Für Ines«, stand darauf in großen Buchstaben. Er griff noch einmal zur Flasche. Die Flüssigkeit brannte in seiner Kehle und hinterließ ihre Schärfe auf seiner Zungenspitze.

Er nahm das Tapetenmesser, das er in einem Baumarkt gekauft hatte. Längs, nicht quer, sagte er sich. Das ist der Fehler, den die meisten begehen, die hinterher in einem weißen Zimmer auf ein Bett geschnallt aufwachen und mit ihrem Makel zum Weiterleben gezwungen werden. Längs also!

Er setzte das Messer an und schnitt in das Fleisch. Es war, als ob man eine Spritze bekam, ein kurzer, beißender Schmerz zu Beginn der Prozedur, doch als die Klinge durch die Haut in die Fasern eindrang, war es ganz einfach und fast schmerzlos.

Er beobachtete, wie sich das Wasser färbte. Es war der letzte Eindruck, den er wahrnahm, bevor sich das rote Leben im weißen Schaum verlor.

Drei Wochen später …

Seit vierundzwanzig Stunden hatte er nicht mehr geschlafen. Seine Hände zitterten vor Kälte, dennoch presste er das Fernglas fest an seine brennenden Augen. Der kleine Kreuzer mit dem rostroten Anstrich ankerte nun schon seit einer Stunde westlich der Nordergründe.

Sie hatten dort drüben etwas an einer Winsch heruntergelassen. Das straff gespannte Seil dehnte sich im Wellengang. Die Männer drüben auf dem Schiff schienen im unruhigen Wasser nach etwas zu suchen. Doch was war so interessant hier draußen?

Was am Ende des Seiles schwamm, konnte Larsen nicht erkennen, dazu waren sie zu weit entfernt. Dennoch vermied er es, Corde anzuweisen, näher heranzufahren.

NH-C 210 war die Kennung des Kreuzers. Eine schwedische Fahne wehte am Mast. Schon als das Schiff vor zehn Stunden Wilhelmshaven verlassen hatte, war er sicher gewesen, dass etwas nicht stimmte. Er hatte Erkundigungen über Schiff und Besatzung eingeholt: eine russische Forschungsgesellschaft, die ein Projekt zur Erforschung des Wattenmeers und seine Auswirkungen auf die klimatischen Verhältnisse durchführte. Aber da musste etwas anderes dahinterstecken.

»Wie lange willst du noch Löcher in die Luft starren, mein Junge«, riss ihn Corde aus seinen Gedanken. »Es kommt Sturm auf, wir sollten nicht zu lange warten, der Himmel gefällt mir heute nicht.«

Larsen warf Corde einen geringschätzigen Blick zu. »Du machst dir zu viele Sorgen. Wir bleiben so lange wie die da drüben. Ich muss wissen, was hier vorgeht.«

Der Alte wandte sich um und ging mit langsamen Schritten auf das Ruderhaus zu. Larsen nahm das Fernglas wieder vor die Augen. Auf dem Kreuzer herrschte noch immer hektische Betriebsamkeit. Männer in gelbem Ölzeug beugten sich über die Reling und starrten ins Wasser. Larsens Fernglas streifte ihre Gesichter. Plötzlich erstarrte er mitten in der Bewegung und sein Blick verharrte auf einer Gestalt, die abgesetzt von den anderen am Vormast stand. Der große und stämmige Mann mit dem dichten, schwarzen Vollbart trug eine dunkelblaue Daunenjacke mit Fellbesatz und hatte eine schwarze Wollmütze tief in das Gesicht gezogen. Vor seinen Augen lag ebenfalls ein Fernglas, das genau auf Larsen gerichtet war. Larsen zuckte zusammen. Es schien fast, als ob der Riese ihn hämisch anlächelte. Dann formte der Mann mit seiner rechten Hand eine imaginäre Pistole, indem er mit dem Zeigefinger auf Larsen zeigte und den Daumen wie einen Abzugshahn aufrichtete. Larsen blickte gespannt zu. Plötzlich ließ der Riese seinen Daumen nach vorne schnellen. Larsen hastete zum Ruderhaus und öffnete die Tür. »Wir müssen hier weg!«

Warme Luft strömte ihm entgegen. Corde saß hinter dem Ruder und blätterte in einem alten, zerschlissenen Anglermagazin. Er blickte auf. »Was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

Larsen schloss die Tür. »Sie haben uns bemerkt. Es ist besser, wenn wir verschwinden.«

 

Mit einem Seufzer richtete sich der alte Corde auf. Behäbig startete er den Motor des alten Kutters. Als der Motor nach einem gurgelnden Grollen ansprang, atmete Larsen tief ein. Der riesige Mann auf dem fremden Schiff machte ihm Angst. Auf dem rostroten Kreuzer stimmte etwas nicht, und er würde herausfinden, was die Kerle dort draußen im Roten Sand im Schilde führten. Noch heute Nacht.

»Holt dich Rike am Hafen ab, mein Junge?«, durchbrach Corde nach einer Weile das dröhnende Schweigen im Ruderhaus.

»Rike? Nein, ich fahre nicht mit in den Hafen. Bring mich nach Langeoog und wenn dich jemand nach mir fragt, dann hast du mich nicht gesehen, verstanden!«

Corde musterte ihn skeptisch. Larsen sah fast noch aus wie ein sommersprossiger Teenager, obwohl er Mitte dreißig war. Die strohgelben Haare hingen wirr in das bleiche Gesicht und die Pupillen der wässrig blauen Augen flatterten nervös hin und her.

»Ihr habt doch nicht wieder etwas angestellt?«

Larsen schüttelte den Kopf. »Nicht viel, nur ein paar Reifen platt gemacht und zwei, drei Briefe geschrieben. Jemand muss es diesen korrupten Schweinen doch mal zeigen. Sie sollen wissen, dass ihnen jemand auf die Finger sieht und sich wehrt.«

Der Alte verzog das Gesicht. »Du hast dich erwischen lassen? Sie suchen dich?«

Larsen druckste herum. »Sind wohl ein paar Fingerabdrücke auf dem Kuvert. Aber es steht nichts Schlimmes drin.«

»An wen hast du die Briefe geschrieben?«

»Einen nach Hannover und die anderen nach Oldenburg«, antwortete Larsen. »Sie sollen die Hände vom Wattenmeer lassen, sonst …«

»… sonst?«

Larsen seufzte. »… sonst sollen sie schon mal eine Seebestattung buchen.«

Corde schüttelte den Kopf. »Ich habe deiner Mutter am Sterbebett versprochen, auf dich Acht zu geben, aber du reitest dich immer wieder selbst in die Scheiße. Ein Jahr hinter Gittern war wohl nicht genug?«

Betreten blickte Larsen zu Boden. »Sie haben schon wieder die Fahrrinne am Borkumgrund vertieft. Schau dir die Küste an. Das Watt ist mittlerweile löchrig wie ein Käse. Bald fahren sie mit den großen Fähren zu den Inseln. Zweimal so groß wie die von Frisia. Im Sommer tummeln sich die Bootsausflügler an den Sandbänken und das Robbensterben hält noch immer an.«

»Trotzdem hast du nicht das Recht, sie zu bedrohen«, sagte Corde. »Du musst sie überzeugen, aber in der Sache und nicht mit Gewalt.«

»Es geht nur um Profit, das ist ihre einzige Religion«, erwiderte Larsen. »Hast du nicht selbst gesagt, man muss für seine Überzeugungen einstehen, auch wenn’s manchmal weh tut?«

Corde lächelte. »Ja, genau das habe ich gesagt, mein Junge, aber das ist doch etwas ganz anderes.«

»Was ist daran anders? Diese Welt geht langsam aber sicher vor die Hunde. Da kann ich nicht einfach zuschauen. Das ist meine Überzeugung, verstehst du?«

Der Alte nickte. »Du bist wie dein Vater«, sagte er sanft.

Den Rest des Weges schwiegen beide. Als der Kutter in den Hafen von Langeoog einfuhr, peitschte der starke Wind die Wellen auf. Noch bevor Corde mit Larsens Hilfe sein Schiff vertäut hatte, lief der rostrote Kreuzer durch das Hafentor in das ruhigere Hafenwasser ein.

Corde richtete sich überrascht auf. »Hast du davon gewusst?«, fragte er Larsen, der gerade das starke Schiffstau um den Poller legte.

Ein Lächeln huschte über Larsens Lippen. »Sie haben sich gestern ein paar Zimmer im Hotel Flörke bestellt«, antwortete er, bevor er die Kapuze seines Parkas tief ins Gesicht zog.

*

Nachdem der rostrote Kreuzer im Hafen von Langeoog vertäut war, stiegen die Männer von Bord und gingen zum kleinen Bahnhof hinüber, wo ein Zug der Langeoogbahn auf die Versorgungsfähre der Frisia-Fährgesellschaft wartete. Auch der Riese war unter ihnen. Es dauerte beinahe eine Stunde, bis die kleine rote Bahn mit der Besatzung des Kreuzers hinüber in das Dorf fuhr.

Larsen atmete auf, als die Männer in den Zug gestiegen waren. Corde brühte einen Tee auf, während Larsen ungeduldig wartete, bis der Zug hinter der nächsten Biegung verschwand. Als die Nacht über die Insel hereinbrach, ging er von Bord des Kutters und verschwand im Dämmerlicht.

Corde hatte es sich im Ruderhaus bequem gemacht und schreckte kurz vor Mitternacht auf, als jemand ans Fenster pochte. »Verdammt, was soll das denn?« Im schwachen Licht erkannte er Larsen. »Du spinnst wohl, Junge, wo kommst du her?«

Larsen reichte ihm einen Brief in einem braunen Umschlag. »Versteck ihn gut. Gib ihn Rike, wenn sie wieder zurück ist. Aber sei vorsichtig. Es ist am besten, wenn du gleich aufbrichst.«

Der Alte schaute den Brief ungläubig an. »Junge, ich will mit deinen Machenschaften nichts zu tun haben.«

»Dafür ist es zu spät. Du steckst schon mitten drin. Es ist wichtig, dass du gleich ausläufst«, sagte Larsen eindringlich. »Und du weißt nicht, wo ich bin und du hast mich schon lange nicht mehr gesehen.«

Ehe Corde noch etwas erwidern konnte, verschwand Larsen in der Dunkelheit. Eine halbe Stunde später legte Corde ab.

*

Corde vertäute den Kutter im Hafen von Greetsiel und fuhr in seinem alten, klapprigen Wagen nach Hause. Drei Tage waren inzwischen vergangen. Weder Rike noch Larsen hatten sich bei ihm gemeldet. Es war auch besser so. Der Junge zog das Unheil an wie an heißen Sommertagen der Süßmost die Wespen. Dabei war er überhaupt nicht schlecht, er war nicht kriminell. Er war nur rebellisch, ein wenig halsstarrig und rebellisch. Corde schaltete das Licht am Wagen ein. Die Dämmerung war hereingebrochen und die dicken Wolken verhießen nichts Gutes. Hoffent­lich würde er es noch vor dem Regen nach Hause schaffen. Mit seinen knapp siebzig Jahren war er froh, wenn er seinen Wagen noch bei Tageslicht in seinem kleinen Hof hinter dem Deich abstellen konnte. Den Kutter über die See zu steuern, war etwas ganz anderes. Das machte er seit frühester Kindheit.

Einen Kilometer hinter der Abzweigung nach Hauen lenkte er den alten VW in den schmalen Feldweg zu seinem Haus, das einsam etwas außerhalb des Ortes lag. Nach wenigen hundert Metern tauchte das von zwei hohen Birken flankierte Häuschen hinter den braunen Hecken auf. Corde steuerte seinen Wagen auf den geschotterten Hof.

Schon als er auf die Haustür zuging, fiel ihm auf, dass etwas nicht stimmte. Sie stand einen Spalt breit offen und in dem kleinen Rechteck oberhalb der Klinke, wo sich normalerweise eine in einem Holzrahmen eingefasste Glasscheibe befand, gähnte ein schwarzes Loch. Er blieb stehen und schaute sich um. Die Stille wirkte beängstigend, nur der aufkommende Wind raschelte in den wenigen welken Blättern der Birken.

Corde überlegte. Er war alleine und die nächste Ansiedlung über einen Kilometer entfernt. Was, wenn der Einbrecher noch im Haus war – oder hier irgendwo auf ihn lauerte?

Er hatte das Haus noch nicht erreicht, als plötzlich ein Schatten auf ihn zu flog. Corde erschrak und wich aus. Er strauchelte, der Schotter knirschte unter seinen festen Schuhen, dann verlor er den Halt und stürzte rücklings zu Boden. Er schloss die Augen und erwartete den Schmerz.

Der Schmerz kam, doch nicht so, wie er erwartet hatte. Nur ein Stechen im Arm, auf den er gefallen war. Er öffnete die Augen und sah gerade noch, wie der Schatten mit einem heiseren Krächzen in den Ästen einer Birke verschwand.

1

Der Raum war zu warm. Die trockene Heizungsluft und der Zigarrenrauch reizten ihre Augen und Schleimhäute, dennoch blieben die Fenster verschlossen. Niemand durfte von dieser Unterredung wissen. Zu viel stand auf dem Spiel.

»Die Zeit rinnt uns durch die Finger«, sagte der dunkel gekleidete, untersetzte und kahlköpfige Mann an der Stirnseite des Tisches. Er rollte das »r« in seinen Worten, als ob der Nachklang nie enden sollte. Die drei anderen Männer, in teuren Anzügen, gepflegt und distinguiert, nickten, ehe sie reumütig ihre Häupter senkten.

Der schwarzhaarige, drahtige Aufpasser, der abseits des Tisches neben der Tür saß, betrachtete ungerührt seine Fingernägel.

»Und wenn wir die Sache einfach stoppen?«, fragte einer am Tisch.

Der Kahlköpfige blickte ihn ungläubig an. Sogar der Mann an der Tür hob kurz seinen Kopf. Eine Weile herrschte düsteres Schweigen.

Plötzlich brach der Kahlköpfige in herzhaftes Lachen aus. Sein Bauch hüpfte auf und ab wie eine Jolle in schwerer See. »Natürlich. Wir packen einfach zusammen und gehen alle nach Hause. Das Geld spielt keine Rolle. Es ist ja nur bunt bedrucktes Papier.« Das Lachen erfror in eisiger Kälte. »Wir haben einen Kontrakt, meine Herren, und wir haben einen Weg gemeinsam zu gehen. Und wir werden ihn gehen, bis zum Ende.«

Ein dumpfes Hämmern an der Tür. Der Drahtige schnellte in die Höhe. Mit der rechten Hand fasste er unter seine Jacke. »Da?«, fragte er.

Unterdrücktes Gemurmel drang in den Raum. Der Wächter entspannte sich und drehte den Schlüssel herum. Durch den Türspalt schob sich ein stämmiger Mann in einem Nadelstreifenanzug aus den frühen Siebzigern in das Zimmer. Er verbeugte sich vor dem Kahlen, als wäre er zu nichts anderem als zum Dienen geboren.

»Es … es … gibt … Probleme!«, stammelte er unterwürfig.

Gemurmel erfüllte den Raum. Der Kahlköpfige schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Die Gespräche verstummten.

»Probleme?« Die Stimme des Kahlköpfigen klang noch eine Spur gefährlicher als zuvor.

*

Larsen ließ sich mit einem Seufzer auf dem zerschlissenen Sofa nieder und starrte an die Decke. Der Raum war schmuddelig und düster. Die beiden kleinen Fenster ließen nur wenig Licht herein. Zudem türmten sich dunkle Wolken am Himmel.

»Es wird bald schneien.« Töngen saß in einem fleckigen, rosa­farbenen Ohrensessel. Er hielt Larsen seinen Tabaksbeutel hin. »Willst du auch eine? Der Stoff ist direkt aus Delfzijl.«

Larsen schüttelte den Kopf. »Ich brauche klare Gedanken. Sie sind wieder draußen, aber ich weiß nicht, was sie suchen.«

»Es muss wichtig sein, wenn sie bei diesem Schietwetter hinausfahren.« Töngen fuhr mit der Zunge über den Klebestreifen des Zigarettenpapiers. »Was ist mit Rike?«

»Rike spinnt«, erwiderte Larsen. »Sie ist wieder im Camp und bereitet sich auf eine Aktion vor. Wir hatten Zoff. Sie meint noch immer, es reicht, ein paar Plakate in die Höhe zu halten. Wir müssen die Kerle da treffen, wo es wirklich weh tut. Nur dann können wir etwas bewirken.«

»Darüber hast du früher auch anders gedacht.«

Larsen seufzte und schaute dem Rauch nach, den Töngen in die Luft blies. Schließlich griff er nach dem Tabaksbeutel auf dem Tisch. »Und wohin hat uns das gebracht?« Der Beutel fiel ihm aus der Hand und klatschte auf den staubigen Boden. Ein Teil des Inhalts krümelte über die wurmstichigen Holzbohlen.

»Mensch, pass doch auf, das Zeug ist teuer!«, fauchte Töngen.

»Schon gut. Hast du nichts Stärkeres?« Larsen kniete sich auf den Boden und klaubte den Inhalt des Beutels wieder zusammen.

»Wie soll ich das bezahlen? Außerdem brauchst du doch einen klaren Kopf, dachte ich, oder?«

Larsen betrachtete seine schmutzigen Hände. »Du könntest ruhig mal sauber machen.«

Töngen lächelte. »Ist doch egal, ob wir ein bisschen Dreck mitrauchen. Ist sowieso nur Verschnitt. Der Markt ist wie leergefegt.«

Larsen setzte sich wieder auf das Sofa und drehte sich eine Zigarette.

»Die Holländer haben Lieferprobleme«, sagte Töngen. »Immer mehr Bullen tummeln sich auf Booten und in den Häfen, seit sie an den Grenzen nichts mehr zu tun haben. Drei Lieferungen haben sie letzten Monat abgefangen. Es wird langsam eng.«

Larsen zündete seine Zigarette an. Er legte den Kopf zurück und entspannte sich. Sie schwiegen eine Weile und rauchten.

»Du hast gesagt, es sind Russen?« Töngen schnippte die Asche auf den Boden.

»Russen, Schweden, Chinesen, wo ist der Unterschied?«

»Na, die Russen sind mittlerweile für alles gut, Gift oder Uran, Plutonium …« Töngen blies den blauen Rauch stoßweise in die Luft. »Vielleicht liegen da draußen ein paar Container voller bunter Träume im Wasser und die suchen danach.«

»Du spinnst.«

»Wieso, was würdest du tun, wenn ein Zollboot auf dich zuhält, um dir dein schönes Pulver abzujagen?«

»Es sind Forscher«, antwortete Larsen. »Sie haben ein Boot mit allem technischen Schnickschnack und sie lassen etwas ins Wasser …«

»… und sie haben eine Genehmigung von ganz oben. Die fahren doch winkend an jeder Streife vorbei.«

 

»Aber die Computer an Bord und die Sonargeräte?«, wandte Larsen ein.

»Mit was würdest du rausfahren, wenn du offiziell Studien machen willst? Mit ’ner Jolle? Mensch, denk doch nach, Junge«, entgegnete Töngen. »Wie viel bezahlen wir heutzutage für die Unze? Zwanzig, fünfundzwanzig Mark. Die schicken das Zeug tonnenweise, da fallen doch die Miete für so ein Boot und die paar Kröten für das Schmieren einiger Beamter gar nicht ins Gewicht.«

Larsen zerdrückte seine Zigarette im Aschenbecher. Er ging zum Fenster und warf einen Blick nach draußen. Noch hielten die dunklen Wolken ihre kalte Fracht zurück.

Er nahm seine graue Daunenjacke vom Haken. »Wo steht dein Fahrrad?«

»Was hast du vor?«

»Ich fahre ins Dorf. Ich muss etwas überprüfen«, antwortete Larsen.

»Bring ein paar Flaschen Bier mit. Ich sitze schon seit gestern auf dem Trockenen und mir ist es zu kalt, um ins Dorf zu fahren.«

»Hast du Geld?«

»Keinen Pfennig«, entgegnete Töngen grinsend.

Larsen öffnete die Tür. Ein Schwall eiskalter Luft ergoss sich in das Zimmer.

»Pass auf dich auf! Mit Russen ist nicht zu spaßen.«

Larsen nickte und trat hinaus in die Kälte.

*

»Das ist der Preis dafür, dass man hier draußen in aller Ruhe wohnt«, sagte der Polizist und nahm die Kamera vors Gesicht.

Das Blitzlicht schmerzte in Cordes Augen. Mit einem Kopfschütteln besah er sich das Zimmer. Die Schubladen der beiden Schränke waren herausgerissen und mit dem Inhalt auf dem Boden verteilt. Die alte Stehlampe lag in der Ecke, der Tiffanyschirm war zerbrochen. Corde atmete tief ein. Die Stehlampe bedeutete ihm viel. Es war die einzige Hinterlassenschaft eines verstorbenen Freundes.

Die Einbrecher hatten ganze Arbeit geleistet und sogar den Stoffbezug des Sofas mit einem Messer aufgeschnitten. Die wenigen Bücher aus dem Regal lagen zerfleddert daneben. Corde fuhr sich mit der linken Hand durch die Haare. Die rechte Hand steckte in einem dicken Gipsverband.

»Oben sieht es genauso aus«, sagte er. »Ich frage mich, wer so etwas macht? Haben die etwas Bestimmtes gesucht?«

»Da gibt es genug, die dafür in Frage kommen«, antwortete der Polizist und fotografierte erneut. »Und die suchen immer nach etwas Bestimmten. Geld und Wertsachen. Da gibt es die tollsten Verstecke. Und Ihnen fehlt wirklich nichts, sagen Sie?«

Hilko Corde schüttelte den Kopf. »Ich besitze nichts und ich vermisse auch nichts. Schauen Sie sich das Haus an. Sieht es aus, als ob hier drinnen Reichtümer verborgen wären?«

Der Polizist nickte verlegen. »Das kann man nie wissen. Und Junkies geben sich auch mit wenig zufrieden. Hauptsache, das Geld für den nächsten Schuss springt heraus.«

Cordes Handy klingelte. »Entschuldigung«, murmelte er und ging in den Flur. Er drückte umständlich den grünen Knopf mit dem Telefonsymbol und meldete sich.

»Hallo, Hilko, ich bin es«, drang Larsens Stimme aus dem Lautsprecher. »Ich habe nur wenig Geld. War Rike schon bei dir? Hast du ihr den Brief gegeben?«

»Rike? Mensch, Junge, ich habe andere Sorgen. Bei mir ist gerade eingebrochen worden. Alles durchwühlt. Sogar das Sofa haben die Kerle aufgeschnitten.«

»Hast du überhaupt schon mit ihr gesprochen?«

»Junge, ich sagte doch, ich habe gerade andere Sorgen.«

Ein greller Signalton unterbrach Corde. Er schaute ratlos auf das Display. Das Gespräch war abgebrochen. Corde ging kopfschüttelnd zurück in das Zimmer.

Der Polizist packte den Fotoapparat wieder ein. »Sie gehen mit der Zeit und haben ein Handy«, stellte er überrascht fest.

Corde lächelte. »Ich mache im Sommer Kutterausflüge ins Watt und wenn der Herbst kommt, fahre ich Gesellschaften oder einzelne Fahrgäste, manchmal auch Waren hinaus auf die Inseln. Ein Handy ist da Gold wert. Ich bin nicht oft hier zu Hause.«

Der Polizist deutete mit dem Kopf an die Decke. »Dann werde ich mich jetzt mal um das Chaos dort oben kümmern. Aber ich will Ihnen keine Hoffnungen machen. Spuren habe ich nicht gefunden. Wahrscheinlich trugen sie Handschuhe.«

Corde nickte und griff sich an den rechten Arm. Die Schmerzen kehrten langsam zurück.

*

Larsen legte nachdenklich den Hörer zurück auf die Gabel. Hatte er richtig gehört? Hatte Onkel Hilko wirklich gesagt, dass bei ihm eingebrochen worden war? Larsen suchte nach Kleingeld, doch außer einem Zehnmarkschein in der Hosentasche hatte er nichts bei sich. Er musste unbedingt zurück aufs Festland, aber die Frachtfähre würde erst morgen früh wieder anlegen. Und das auch nur, wenn sich das Wetter nicht wieder verschlechterte.

Er rieb mit den Fingern über den Zehnmarkschein. Hing der Einbruch bei Corde mit dem angeblichen Forschungsschiff zusammen?

Er überlegte, ob er das Geld wechseln sollte. Er wollte mit Rike telefonieren. Larsen ging zu dem kleinen Laden an der Ecke. Im Sommer tummelten sich in dieser Straße die Touristen, da gab es nicht einmal Sitzplätze in den Straßencafés. Jetzt wirkte das Dorf wie ausgestorben.

Hatte Töngen Recht? Suchten die Kerle im Boot tatsächlich nach ein paar versenkten Containern mit Rauschgift oder sogar nach radioaktivem Material? Wenn die Russenmafia dahintersteckte, hätten die längst herausgefunden, wem der Kutter gehörte, von dem sie dort draußen abseits des Mellumer Fahrwassers im Roten Sand beobachtet worden waren. Schließ­lich stand der Name Molly in großen Lettern am Bug. Wenn sie in Hilkos Haus eingebrochen waren, dann hatten sie sich bestimmt auch schon den Kutter vorgenommen. Ob sie das Versteck gefunden hatten? Er schüttelte den Kopf. Nein, das Versteck auf dem Kutter war einfach zu gut, nicht einmal Hilko selbst würde es entdecken. Die Beute seines nächtlichen Besuches auf dem Kreuzer musste ja sehr wichtig für die Kerle sein, wenn sie danach suchten. Welches Geheimnis verbarg sich dahin­ter? Wenn ihm jemand helfen konnte, dann war es Rike. Doch die trieb sich in dem Greenpeace-Camp rum und spielte Umweltaktivistin.

Manchmal fand er sie naiv. Sie glaubte noch immer, dass man mit Sprüchen und Protestaktionen die Welt verändern konnte. Doch auf der anderen Seite war sie intelligent. Und stark. Er erinnerte sich noch daran, wie sie einem aufdringlichen Verehrer mit ihren fernöstlichen Kampfkünsten fast den Arm gebrochen hatte. Du frigide Zicke, hatte der Kerl sie angebrüllt, als er in der schlammigen Pfütze lag, nachdem sie ihn mit einem eleganten Fußfeger zu Boden gebracht hatte. Rike war weder frigide noch war sie ein Mannweib, wie die anderen Kerle aus der Gruppe damals behauptet hatten. Sie wusste, was sie wollte. Vielleicht fehlte sie ihm auch deshalb so sehr. Er musste unbedingt mit ihr reden.

Die Ladenglocke bimmelte zweimal, der Verkaufsraum war leer. Bier und etwas zu essen brauchte er jetzt. Dafür genügte sein Zehnmarkschein, aber wenn er danach noch mit Rikes Handyanschluss telefonieren wollte, würde es kaum für ein »Hallo, wie geht’s dir« reichen. Sinnlos.

Morgen würde er diese Insel verlassen. Er musste in Erfahrung bringen, was es mit diesem ominösen Einbruch auf sich hatte. Vielleicht war alles nur ein dummer Zufall.