Die Wiege des Windes

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4

Das Haus schwieg. Im Flur, im Wohnzimmer, in den Zimmern im Obergeschoss und vor allem im Kinderzimmer, überall nur lastende Stille. Trevisan saß in seinem Ohrensessel und hielt die Augen geschlossen. Sie waren feucht. Alles um ihn herum erschien sinnlos, dem Tod näher als dem Leben. Grit hatte sich von ihm getrennt. Sie hatte Paula mitgenommen. Paula, die ihm alles bedeutete. Vor einem Monat war sie elf Jahre alt geworden. Er hatte sie angerufen und danach hatte er sich sinnlos betrunken. Sie fehlte ihm. Er fühlte sich einsam und verlassen.

Der Heilige Abend war angebrochen, doch in diesem Jahr zog kein Bratenduft durch den Flur, kein Weihnachtsbaum schmückte das Wohnzimmer, kein Kinderlachen erfüllte die Stille. Niemand fragte ungeduldig, wann es denn endlich die Geschenke gäbe.

Trevisan öffnete die Augen und schaute auf die Uhr. Es war kurz nach acht. Draußen fielen dicke, weiße Flocken und bedeckten die noch unvollendete Terrasse. Er griff zu seinem Weinglas und leerte es in einem Zug. Seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit und wollten sie festhalten, das Lächeln seiner Tochter, die liebevollen Umarmungen, doch nur die Kälte eines leeren Hauses blieb. Grit hatte die Koffer gepackt und war einfach weggefahren. Weg aus Sande, zurück nach Kiel. Sie hatte sich bei einer Freundin eingenistet. Vorerst, so lange, bis sie etwas Passendes gefunden hatte. Die Endgültigkeit sprach aus diesen Worten. Hart und unnachgiebig. Dabei hatte er sich bemüht, hatte ihre Launen über sich ergehen lassen, hatte still gehalten, wo er am liebsten widersprochen hätte.

An diesen verfluchten Feiertagen, wenn er sich nicht mit Arbeit ablenken konnte, war seine Sehnsucht unerträglich. Er schaute auf den Tisch. Dort lag das Telefon, in greifbarer Nähe, damit er keine Sekunde versäumte, falls Paula doch noch anrufen würde. Doch der Apparat schwieg ihn eisern an.

Das Schicksal war in den letzten Wochen hart mit Martin Trevisan ins Gericht gegangen. Kurz nach Grits Auszug hatte er seinen Vater beerdigen müssen. Ein Schlaganfall. Grit war noch nicht einmal zur Beerdigung gekommen. Als er sie am Telefon gebeten hatte, wenigstens Paula zu schicken, hatte sie geantwortet: »Du kannst sie ja abholen und am Abend wieder vorbeibringen.« Das hatte ihn schwer getroffen. Wie hätte er das bewerkstelligen sollen? Schließlich lagen alle Vorbereitungen zur Bestattung seines Vaters bei ihm. Niemand aus der Familie konnte ihm dabei helfen. Doch er hatte nichts gesagt. Er hatte einfach aufgelegt.

Trevisan goss sein Glas voll. Der Wein machte ihn müde und würde helfen, auch diesen Tag zu überstehen. Er hob seinen schweren Kopf. Es war mittlerweile zehn Uhr. Jetzt würde ihn Paula bestimmt nicht mehr anrufen. Er dachte daran, was sie wohl gerade tat, und ob sie sich über das Barbie-Puppenhaus, das er ihr geschickt hatte, auch wirklich freute. Falls Grit es überhaupt unter den Weihnachtsbaum gestellt hatte.

Seine Gedanken zerflossen in einer dumpfen und trägen Dunkelheit. Er leerte das Glas, erhob sich und schwankte nach oben. Das schnurlose Telefon hielt er fest umklammert in seiner Hand.

*

Kriminaloberrat Kirner vom Staatsschutzdezernat saß in der Schützenstraße in seinem Büro im dritten Stock und schaute hinaus in den Innenhof. Dort waren drei Mechaniker damit beschäftigt, einen zerbeulten Streifenwagen von einem Abschleppwagen zu hieven. Sie hatten alle Hände voll zu tun, denn die Räder an dem zerknautschten Opel Omega waren nicht mehr rollfähig und der Kran am Abschleppwagen konnte die Last offenbar nicht heben.

»Ich glaube nicht, dass Esser die Explosion überlebt hätte«, sagte Köster, ein Mitarbeiter der Kriminaltechnikabteilung.

»Und die Technik?«

Köster grinste. »Banal, eine Negativschaltung. Sobald die Alufolie keinen Kontakt mehr hat, ist der Widerstand abgeschaltet und der Strom kann fließen. Lernt man in den ersten beiden Wochen Elektrotechnik am Berufskolleg.«

»Das heißt also, es waren keine Profis?«

»Es gehört viel Konzentration und Feingefühl dazu, mit Kaliumchlorat und Thermit zu hantieren. Aber die technischen Kennt­nisse, die man braucht, sind eher bescheiden. Die Bediensteten hatten Glück, dass es draußen kalt und feucht war und der Brief wohl schon einige Zeit im Briefkasten heruntergekühlt worden war. Als wir das Zeug im Labor hatten, war es schon äußerst aggressiv.«

»Was habt ihr über den Briefumschlag herausgefunden?«

Köster griff nach seiner Akte und blätterte in den Seiten. »Die Umschläge sind aus Umweltpapier. Sie werden in Dänemark hergestellt und in Dritte-Welt-Läden vertrieben. Nicht gerade Massenware, aber weit verbreitet. Die Briefmarken waren interessanter. Sie reichen nicht für die Umschlaggröße und das Gewicht und waren nicht abgestempelt. Wir gehen davon aus, dass der Brief nicht mit der Post geliefert wurde. Wir haben sie abgelöst und hoffen, darauf DNA-Spuren zu finden. Außerdem wird der Innenumschlag, in dem sich das Thermit befand, gerade im Labor bedampft. Offenbar sind Fingerabdrücke darauf.«

Mittlerweile hatten die Mechaniker den Wagen frei baumelnd am Kran aufgehängt. Das Auto schwankte bedrohlich.

»Wann ist mit ersten Ergebnissen zu rechnen?«

»Gemach, gemach«, antwortete Köster. »Die Hälfte der Abteilung hat zwischen den Jahren Urlaub und das Erkältungswetter hat die übrige Hälfte stark dezimiert. Frühestens in drei Wochen haben wir eine DNA-Analyse auf dem Tisch. Vorher geht nicht viel. Wir haben auch noch den Mordanschlag auf die Kollegen in Osnabrück.«

Kirner lächelte verächtlich. »Ich richte dem Mörder aus, dass wir wegen Neujahr geschlossen haben.«

»Gibt es denn sonst keine Hinweise?«

»Eine ganze Menge«, antwortete Kirner. »Das ist es ja gerade, was mich stutzig macht.«

*

Das Flugzeug landete mit zwei Stunden Verspätung. Rike war froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Der Flug von Perth nach Frankfurt am Main hatte über fünfzehn Stunden gedauert. Zum Glück war die Zugverbindung zwischen Frankfurt und Bremen so gut ausgebaut, dass sie trotz der Verspätung noch heute einen Zug erwischen konnte. Von Bremen würde sie schon irgendwie nach Wilhelmshaven kommen. Sie war müde, ihre Beine schmerzten und außerdem hatte sie kaum mehr als fünfundzwanzig Mark und ein paar australische Dollars in ihrer Geldbörse. Im Flugzeug hatte sie sich kurz vor der Landung noch einmal satt gegessen. Die Zugfahrkarte war bereits bezahlt und von Bremen konnte sie auch trampen. Sie war kein ängstlicher Typ. Und sie würde sich zu wehren wissen, sollte jemand zudringlich werden. Schließlich war sie Trägerin des schwarzen Gurtes in Karate.

Rike war achtundzwanzig Jahre alt und als einziges Kind eines reichen Kieler­ Kaufmanns, der sich innig einen Sohn gewünscht hatte, wie ein Junge aufgewachsen. Puppen und schöne Kleidchen waren tabu gewesen. Sie hatte schon im Kindergarten so manchen Zwist mit ihren männlichen Artgenossen ausgetragen. Und meist war sie die Siegerin geblieben. Eine Amazone eben, hatten die Freunde der Familie lächelnd gesagt. Sie hatte Leichtathletik betrieben und Kampfsport erlernt und später in den Fitnesscentern die Hantelbank der Sonnenbank vorgezogen. So war sie eine kräftige und schlagfertige junge Dame geworden. Ihr Aussehen mit der schwarzen Bubikopffrisur hatte oft dazu geführt, dass sie für einen Jungen gehalten wurde. Für sie war es eine Bestätigung. Nur ihrer Mutter missfiel es von Zeit zu Zeit. Du bist ein Mädchen, lass dir doch mal deine Haare lang wachsen, hatte die Mutter oft gesagt, doch Rike hatte nur den Kopf geschüttelt und war in die Arme ihres Vaters geflüchtet, den sie abgöttisch liebte und der viel zu früh sterben musste.

Später hatte sie Meeresbiologie in Kiel studiert und ihren Abschluss mit Bestnote gemacht. Rike war in allen Dingen, die ihr wichtig erschienen, ehrgeizig.

Vielleicht hatte sie deshalb vor fünf Wochen diesen heftigen Streit mit Larsen gehabt. In letzter Zeit hatte er sich verändert. Und Rike wusste, dass es an diesem Gift lag. Es machte ihn nicht nur abhängig, sondern auch habgierig. Wenn er kam, um sich von ihr Geld zu borgen – Geld, das er sowieso nicht mehr zurückzahlen konnte – kam sie sich nur noch ausgenutzt vor. Als er ihr dann auch noch die Reise nach Australien mit allerlei fadenscheinigen Gründen madig machen wollte, um sie eine Atempause später um dreitausend Mark anzupumpen, hatte sie ihn hinausgeworfen.

Jetzt, nach diesen Wochen in der Kälte der Antarktis, tat es ihr fast ein wenig leid. Im Grunde genommen hatte Larsen Recht gehabt. Acht Rettungseinsätze für die Wale waren sie gefahren, doch nur ein einziges Mal war es ihnen gelungen, die Jäger von ihrem Vorhaben abzubringen. Der Preis dafür war hoch gewesen. Ein zerstörtes Schlauchboot, Knochenbrüche, Prellungen – und beinahe hätte Bob sogar mit seinem Leben dafür bezahlt.

Nachdem Rike die Passkontrolle hinter sich gebracht und ihren Koffer am Zoll geöffnet hatte, fuhr sie auf den Rolltreppen hinunter zu den Bahngleisen. Die unzähligen Menschen in der Ankunftshalle flößten ihr Unbehagen ein. Sie wäre jetzt am liebsten alleine gewesen. Vielleicht sollte sie noch mal mit Larsen reden. Auch wenn er sich seit Wochen nicht mehr bei ihr gemeldet hatte.

Ein einsamer Weihnachtsbaum stand neben der Rolltreppe. Einige seiner Glühbirnen waren bereits defekt. Achtlos ging Rike vorüber auf dem Weg zu ihrem Zug.

*

Der Kahle saß zusammengesunken auf dem Rand der Badewanne seiner Hotelsuite in Bremen und strich sich mit fahrigen Fingern über die Glatze. Es war mitten in der Nacht, draußen stürmte es. Ihm liefen kleine Schweißperlen über die Stirn. Irgendjemandem schien es eine infernalische Freude zu bereiten, ihm ständig Steine in den Weg zu rollen. Zum ersten Mal in seinem Leben empfand er so etwas wie Angst. Selbst als Kind war ihm nie so jämmerlich zumute gewesen. Das kam dabei heraus, wenn man sich mit den Falschen einließ. Er wusste, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing. Keine seiner Erklärungen würde die anderen daran hindern, das mit ihm zu tun, was auch er mit einem Betrüger tun würde. Selbst wenn er jetzt einfach in ein Flugzeug stieg, sie würden ihn in jedem Winkel der Erde finden. Nur wenn alles gut vorbereitet war, hatte er vielleicht den Hauch einer Chance. Er würde sich darum kümmern müssen. In den nächsten Tagen schon. Es war nur ein klitzekleiner Schritt zwischen einem kalten Grab draußen auf See und einer sicheren Zukunft, irgendwo in der Karibik, am blauen Meer, unter Palmen und mit allem, was ein Mann sich erträumte.

 

Schon oft in seinem Leben hatte er vor einem Abgrund gestanden, war er gestrauchelt, aber nie gestürzt. Doch seit einigen Tagen sah es danach aus, als könnte ihm das passieren. Dieser Mikrokosmos, in dem er lebte und den er lenkte, schien stillzustehen. Und Stillstand war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte. Nur noch einen einzigen Trumpf hielt er in den Händen. Es wurde langsam Zeit, ihn auszuspielen.

»Liebling, kommst du?«, ertönte die helle Frauenstimme aus dem Schlafzimmer.

Der Kahle erhob sich, legte das Telefon auf das Waschbecken und schaute in den Spiegel.

»Wir warten auf dich!« Diesmal war das Timbre dunkler als zuvor.

Er stützte sich auf das Becken und schaute in den Spiegel. Er sah schrecklich aus. Vielleicht war es besser, die beiden Nutten einfach an die Luft zu setzen. Seine Stimmung war sowieso auf den Nullpunkt abgesackt. Er wandte sich zur Tür. Doch dann überlegte er es sich anders. Einsamkeit konnte er jetzt am wenigsten brauchen. Er drehte den Wasserhahn auf und ließ das kalte Wasser über seine Hände rinnen. Schließlich hielt er seinen Kopf unter den Wasserstrahl.

5

Trevisan lag quer im Doppelbett. Die Decke war verrutscht und sein Körper entblößt. Er schnarchte leise. Der grelle Ton des Telefons zerschnitt die morgendliche Stille. Trevisan öffnete die Augen. Schlaftrunken suchte er nach der Nachttischlampe. Es dauerte eine Weile, bis er den Schalter fand. Sein Blick streifte den Radiowecker. Es war kurz nach sieben Uhr. Erwartungsvoll folgte er den Tonintervallen, doch er fand den kleinen schwarzen Handapparat nicht und fluchte. Endlich entdeckte er das Mobilteil in dem kleinen Graben, der die beiden Matratzen voneinander trennte. Mit zitternden Fingern griff er danach. Oh, Gott, dachte er, lass es jetzt bloß nicht aufhören.

Er drückte mit fahrigen Fingern auf die kleine grüne Taste. Noch bevor sich der Teilnehmer meldete, raunte er ein fragendes »Paula?« in das Mikro.

»Bitte?«, drang die Stimme eines Mannes aus dem Lautsprecher. »Martin, bist du es?«

Trevisan schluckte. »Wer denn sonst. Bist du das, Johannes?« Sein Kopf schmerzte, als ob eine Horde Hummeln darin ein Wett­fliegen veranstaltete.

»Ja. Ich habe eine schlechte Nachricht. Draußen im Hafen treibt eine Leiche und wir beide haben Bereitschaft. Wir treffen uns in einer halben Stunde im Büro.«

Johannes Hagemann gehörte schon seit einer Ewigkeit zum 1. Fachkommissariat. Nach dem Unfalltod von Lutger Bornemann oblag ihm als Ältesten die Leitung, bis Bornemanns Nachfolger bestimmt war. Hagemann trieb es trotz seiner achtundfünfzig Jahre noch immer auf die Straße. Einen Posten im Innendienst hatte er nie angestrebt. »Weißt du, ich halte es wie die alten Cowboys, ich will auch in meinen Stiefeln sterben«, hatte er immer gesagt, wenn man ihn fragte, warum er sich in seinem Alter den Stress des Ermittlungsdienstes antat. Wie ernst dieser lockere Spruch gemeint war, hatte damals niemand geahnt. Doch seit ein paar Monaten war es traurige Gewissheit. Johannes hatte Krebs. Unheilbar. Alle Versuche der Kollegen ihn zu schonen hatte er abgelehnt. Er wollte nicht zu Hause oder an einem Schreibtisch in der Direktion auf sein Ende warten. Er gehörte noch immer zum Team des ersten Fachkommissariats.

Und das war gut so, denn üppig war die Personalsituation in diesen Tagen nicht. Neben Johannes Hagemann gab es nur noch den kauzigen Dietmar Petermann und Markus Sauter, der sich zu Höherem berufen fühlte und die Aufnahmeprüfung für das Studium an der Polizeihochschule bestanden hatte. Spätestens im Februar würde der seine Koffer packen. Zwar hatte Kriminalrat Beck, der Leiter der Kriminalpolizei, Besserung in Aussicht gestellt, doch den Termin für Zuversetzungen hatte er wie immer offen gelassen. »Sie müssen jetzt erst einmal so zurechtkommen.«

Also blieb Trevisan nichts übrig, als sich aus dem Bett zu erheben, obwohl er sich am liebsten krank gemeldet hätte. In der Küche schaltete er den Wasserkocher ein, ohne einen starken Kaffee würde er den Vormittag nicht überstehen. Dann verschwand er ins Bad. Eine halbe Stunde, hatte Johannes gesagt. Als Trevisan in den Spiegel schaute, wusste er, dass auch eine oder zwei Stunden nicht reichen würden, um aus ihm wieder einen ansehnlichen Menschen zu machen. Seine dunkelblonden Haare standen wirr zu Berge und seine faltige Haut hatte eine Farbe wie vergilbtes Papier. Er stieg unter die Dusche. Das eiskalte Wasser schmerzte auf seinem Rücken.

*

Rikes Heimfahrt hatte sich zu einer wahren Tortur entwickelt. Der Zug von Frankfurt war zwar fast planmäßig um 17.54 Uhr auf dem Bremer Hauptbahnhof angekommen, aber jetzt ärgerte sie sich darüber, dass sie ihre Euroscheckkarte zu Hause gelassen hatte. Welcher Busfahrer akzeptierte schon American Express? Zu allem Überfluss wusste sie ihren PIN-Code nicht mehr genau und brach nach dem zweiten Fehlversuch am Geldautomaten lieber den Vorgang ab. Sie konnte sich Codes nicht merken, deswegen schrieb sie die Zahlen meist als Telefonnummern oder kleines Zahlenrätsel auf. Doch ausgerechnet diesen Zettel hatte sie verloren.

Mit ihren fünfundzwanzig Mark kam sie mit dem Regionalzug bis nach Oldenburg und versuchte sich von dort aus als Anhalterin. An der Autobahnauffahrt hielt nach kurzer Zeit ein dänischer Laster, mit dem sie nach Wilhelmshaven fahren konnte. Obwohl Rike in Marienhafe, also quasi auf der gegenüberliegenden Seite der ostfriesischen Halbinsel, wohnte, war ihr damit erst einmal gedient. Larsen würde ihr schon von Wilhelmshaven aus weiterhelfen können. Hoffentlich war er überhaupt zu Hause und trieb sich nicht in den Spelunken oder bei Corde herum.

Sie stieg in der Peterstraße aus und ging zu Fuß in die Ahrstraße. Es war kurz nach neun Uhr, als sie auf die obere Klingel ohne Namensschild drückte. Es kam, wie sie befürchtet hatte: Niemand öffnete. Larsen lag entweder im Vollrausch oder zugekifft bis an die Oberkante in seiner Bude oder war wieder mal auf Achse. Nach dem siebten Versuch gab sie auf.

Sie hatte jetzt noch vier Mark und siebenunddreißig Pfennige in ihrer Geldbörse. Die Nacht war frostig kalt und weit und breit gab es keine Telefonzelle. Also machte sie sich wieder auf den Weg in Richtung City. Vor der Nordseepassage fand sie eine Zelle mit einem Münzapparat und telefonierte die Liste ihrer Bekannten durch, bis sie schließlich Maike erreichte. Maike wohnte in Schortens. Sie war Kindergärtnerin, alleinstehend und lesbisch, doch Rike hatte keine Berührungsängste. Das Terrain war schon vor Jahren abgesteckt worden. Maike war nicht begeistert, bei diesem Wetter und dazu am Heiligen Abend nach Wilhelmshaven fahren zu müssen. Doch schließlich stimmte sie zu.

Als Rike endlich in das warme Auto einstieg, begannen ihre gefrorenen Hände wild zu kribbeln.

»Sag mal, was ist denn in dich gefahren?«, fragte Maike. Die Begrüßung schenkte sie sich. »Was treibst du um diese Zeit in Wilhelmshaven?«

Rike rieb sich ihre kalten Finger. »Ich bin gerade aus Australien zurückgekommen und hatte nicht genug Geld für die Rückfahrt dabei.«

»Aus Australien? Ach, deswegen war Larsen bei mir.« Maike lächelte grimmig. »Ich hab mich fast erschrocken, als er vor mir stand. Das ist jetzt knapp drei Wochen her. Der Typ ist ja ganz schön runtergekommen. Bist du noch mit ihm zusammen?«

Rike starrte gedankenverloren durch die Windschutzscheibe. Die bleichen Häuserfassaden flogen im Scheinwerferlicht an ihr vorbei. »Wir hatten Streit. Was wollte er von dir?«

»Was schon. Er wollte, dass ich ihm vierhundert Mark borge. Er sei da an einer großen Sache dran. Aber ich habe ihn weggeschickt. Wenn du mich fragst, ist der ganz schön drauf.«

»Drauf …?«

»Der wirft Pillen ein, oder? Lass ihn sausen, der ist nichts für dich.«

»Wohin fahren wir eigentlich?«, fragte Rike, als sie sah, dass sie auf der Straße nach Schortens waren.

»Zu mir, wohin sonst. Du glaubst doch nicht, dass ich dich jetzt nach Marienhafe fahre. Ich habe zwar Besuch, aber du kannst in der Küche auf der Eckbank schlafen, wenn es dich nicht stört.«

Rike verzog das Gesicht. »Kannst du mir zweihundert Mark borgen? Dann nehme ich mir ein Taxi.«

Maike lachte. »Mensch Mädchen, heute ist Heiligabend. Ich glaube nicht, dass du jetzt noch ein Taxi findest. Na gut, dann fahre ich dich halt in Gottes Namen rüber.«

Rike entspannte sich. »Ich gebe dir einen Hunni. Und jetzt stört es dich wohl nicht, wenn ich ein wenig schlafe.«

»Geritzt«, erwiderte Maike und trat auf das Gaspedal ihres altersschwachen Fiats.

*

Als Rike weit nach Mitternacht ihre gemütliche kleine Drei-Zimmer-Wohnung über der Immobilienvermittlung am Markt von Marienhafe betrat, konnte sie nur noch mühsam ihre Augen offen halten. Sie stellte ihren Koffer in den Flur, ging ins Badezimmer und knipste das Licht an. Schlaftrunken schaute sie in den Spiegel. Ihr Gesicht war weiß und sah aus wie ein faltiges Tuch. Sie drehte den Wasserhahn auf und temperierte den Wasserstrahl. Ein schaler Geschmack erfüllte ihren Mund. Sie griff nach der Zahncreme im Regalschrank. Plötzlich stutzte sie. Der blaue Plastikbecher mit der Zahnbürste stand nicht am gewohnten Platz. Er war in die Ecke verschoben. Schon mehr als hundert Mal hatte sie in der Vergangenheit Krach mit Larsen gehabt, weil er nie etwas an seinen Platz zurückstellte und man ihm ständig hinterherräumen musste. Es gab nicht viele Gewohnheiten in ihrem Leben. Der Kaffee zur Morgenzeitung, die weiten Nachthemden und ihre Utensilien im Badezimmer. Wenn sie sich morgens wusch und mit nassen Händen über das Waschbecken gebeugt nach der Zahnbürste tastete, dann brauchte sie nicht den Kopf zu drehen. Blind wusste sie, wo alles stand. Und dieser Zahnputzbecher stand nicht an seinem Platz.

War Larsen während ihrer Abwesenheit in der Wohnung gewesen? Nein, sie hatte ihm nach der Auseinandersetzung den Wohnungsschlüssel abgenommen. Und dass er einen Zweitschlüssel angefertigt hatte, daran glaubte sie nicht. Konnte trotzdem jemand in ihrer Wohnung gewesen sein? Ein Einbrecher?

Ihre Nackenhaare richteten sich auf. Mit einem Mal war sie hellwach. Sie nahm Kampfhaltung an. Vorbereitet auf das Unerwartete durchsuchte sie Zimmer um Zimmer. Nirgends gab es Spuren einer Veränderung. Nichts deutete darauf hin, dass ein Fremder in der Wohnung gewesen war, wäre da nicht der verschobene Zahnputzbecher im Bad gewesen. Sie schaute sich die Eingangstür noch einmal genau an. Keine Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens.

Sicherheitshalber schloss sie zweimal ab und legte den Sperrriegel vor. Sie ging ins Wohnzimmer und warf einen Blick aus dem Fenster. Es war kurz nach ein Uhr, mitten in der Nacht. Der Marktplatz von Marienhafe schlummerte friedlich im gelben Licht der Gasdampflampen. Drüben stand Störtebeker auf seiner Empore und blickte die Rosenstraße hinunter.

Plötzlich zuckte sie zusammen: Auf dem Parkplatz gegenüber stand in den ansonsten leeren Parkbuchten ein einzelner dunkler Wagen. Ein gelbes Nummernschild und schwarze Buchstaben, aber die Zahlen- und Buchstabenkombination unterschied sich von der des Nachbarlandes Holland. Wahrscheinlich französisch, dachte sie.

In unregelmäßigen Intervallen glühte ein orangerotes Licht im Wageninnern auf. Wie das Auge eines Raubtiers. Sie hielt den Atem an.

Dann hörte sie das Kratzen an ihrer Tür.

*

Trevisan beeilte sich. Das kalte Wasser hatte seinen Kreislauf in Schwung gebracht und die Kopfschmerzen vertrieben. Er zog seinen dunklen Anzug an und suchte den warmen Parka mit dem Teddyfutter und der Kapuze in seinem Kleiderschrank. Er fand ihn nicht gleich und warf die anderen Jacken achtlos auf den Boden. Nur eine hielt er erst ein paar Sekunden gedankenverloren in der Hand. Es war die Jacke seines Hochzeitsanzuges. Endlich fand er den Parka und zog ihn über. Als er das Haus verließ, blies ihm der kalte Wind ins Gesicht. Er kämpfte sich gegen die Böen zur Garage vor.

 

Die Straßen waren an diesem Morgen leer, kaum fünfzehn Minuten später parkte er im Areal des Dienstgebäudes in der Peterstraße.

»Da bist du ja endlich«, empfing ihn Johannes Hagemann, als Trevisan durch die Glastür in den langen Gang des zweiten Stocks trat. Johannes trug seinen Anglerparka, eine grüne, dicke Hose und Gummistiefel. Die obligatorische Mütze hing wie immer schief auf seinem Kopf. »Auf geht’s. KW-Brücke, Nordufer.«

»Eine Wasserleiche?«

»Eine ganz hässliche sogar«, antwortete Johannes Hagemann.

»Wer ist draußen?«

»Die Feuerwehr und zwei Streifen. Fährst du?« Hagemann warf ihm den Autoschlüssel zu.

Trevisan parkte den grauen Opel Omega unterhalb der Kaiser-Wilhelm-Brücke. Zwei Wagen der Feuerwehr, ein Rettungswagen und zwei Streifenwagen standen auf dem Feldweg. Davor parkte der weiße Mercedes-Bus der Spurensicherung. In einem schwarzen Schlauchboot, das nahe dem Ufer an den alten Poldern trieb, saßen drei Feuerwehrmänner in signalroten Einsatzjacken und ertasteten mit langen Sondierstangen den Grund des Hafens. Ein Taucher saß in Decken eingehüllt auf dem Trittbrett des Rettungswagens und ließ sich von einem Sanitäter eine dampfende Tasse Tee reichen.

Mittlerweile hatten die Kollegen der Streifenpolizei den Uferbereich mit rot-weißem Absperrband markiert. Inmitten des kleinen abgegrenzten Platzes sah Trevisan eine schwarze Plastikplane. Er konnte sich denken, was er darunter vorfinden würde.

Einer der Polizisten drehte sich zu ihnen um. Trevisan kannte den Oberkommissar vom 1. Revier.

»Moin«, grüßte der Beamte. »Leider ein unappetitlicher Anblick.«

Trevisan beobachtete, wie Horst Kleinschmidt von der Spurensicherung mit einem jungen Kollegen auf die schwarze Plane zuging. Nur kurz hob er die Plastikfolie an, dann ließ er sie wieder sinken. Der Jüngere wandte den Kopf ab.

»Ein Selbstmörder?«, fragte Hagemann.

Der Oberkommissar schüttelte den Kopf. »Eher nicht, dem Toten sind die Hände auf dem Rücken zusammengebunden.«

»Also dann raus mit der Sprache.«

Der Kollege verzog den Mundwinkel. »Gut, in Kurzform also«, erwiderte er angekratzt. »Heute Morgen gegen sieben erhielten wir von einem Angler einen Notruf. Er hatte im Schein seiner Taschenlampe die Leiche noch halb unter Wasser treibend entdeckt. Wir haben die Feuerwehr informiert. Die zogen ihn raus. Hatte sich offenbar in den Schlingpflanzen verfangen und bekam jetzt durch den Fäulnisprozess Auftrieb. Ein Mann zwischen zwanzig und fünfzig. Lag bestimmt schon über einer Woche in der Suppe, wahrscheinlich sogar länger. Das kalte Wasser konserviert.«

»Gibt es Hinweise auf seine Identität?«

»Schwer zu sagen. Wo normalerweise der Kopf sitzt, ist jetzt nur noch Hackfleisch. Wahrscheinlich die Schiffsschraube eines Außenborders. Er trägt eine zerschlissene Jeans und einen dunklen Pullover. Die Hosentaschen sind leer.«

»Eine unbekannte männliche Leiche«, resümierte Hagemann. »Also dann, frohe Weihnachten.«

»Der Taucher hat die Umgebung des Fundortes unter Wasser abgesucht«, fuhr der Oberkommissar fort. »Er fand in der Nähe einen Rucksack. Aber es ist alles sehr dunkel dort unten. Jetzt suchen die Feuerwehrmänner mit ihren Stangen weiter. Für den Taucher ist es bei den Wassertemperaturen nach zehn Minuten vorbei.«

Trevisan nickte. »Habt ihr den Rucksack untersucht?«

»Wir fanden darin eine Regenjacke, eine leere Geldbörse mit ein paar unidentifizierbaren Papieren und die Plastikkarte einer Bücherei in Würzburg. Das liegt im Norden von Baden Württemberg. Die Karte ist ausgestellt auf einen gewissen Peter Luksch. Aber es gibt kein Bild und kein Geburtsdatum, nur eine Mitgliedsnummer.«

»Bayern«, antwortete Trevisan.

»Was?«, fragte der Kollege erstaunt.

»Würzburg liegt in Bayern«, erklärte Trevisan und ließ ihn stehen.