Das Haus in den Dünen

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Das Haus in den Dünen
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Ulrich Hefner

Das Haus in den Dünen

Ostfrieslandkrimi


Zum Autor

Ulrich Hefner wurde 1961 in Bad Mergentheim geboren. Er wohnt in Lauda-Königshofen, ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Hefner arbeitet als Polizeibeamter und ist freier Autor und Journalist. Er ist Mitglied in der IGdA (Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren), im DPV (Deutschen Presseverband) und im Syndikat. Weiterhin ist er Gründungsmitglied der Polizei-Poeten. Die Polizei-Poeten veröffentlichten inzwischen vier Bücher, die nicht nur in Polizistenkreisen auf großes Interesse stießen. Neben der Krimiserie um den Ermittler Martin Trevisan, die inzwischen aus sechs Bänden besteht, sind inzwischen auch drei Thriller erschienen, die bereits in mehrere Sprachen übersetzt wurden. www.ulrichhefner.de und www.autorengilde.de.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2008 im Leda-Verlag)

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © DR pics / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6504-8

Widmung

Gewidmet all meinen Kolleginnen und Kollegen,

die mich unterstützen –

insbesondere

dem Polizeirevier Tauberbischofsheim

und der Dienstgruppe »C«.

Das Haus in den Dünen

Hinter den Dünen, weit draußen in der Dunkelheit,

umgeben vom Sand

steht ein einsames Haus,

in der Stille.

Die Schreie verebbten,

im Tosen des Sturms,

hallten unhörbar wider

in der Einsamkeit der

verwundeten Seele.

Spiekeroog, Mai 1981:

Der kühle Wind strich über seine heißen Wangen. In der Ferne flimmerte der glühend rote Horizont und helle Schwaden stiegen dem dunklen Himmel entgegen. Der Geruch von Feuer und Rauch bedeckte das zarte Sanddornaroma und durchsetzte die salzig frische Luft mit einer beißenden Schärfe. Im flackernden Licht tanzten die Gräser auf den Dünen und bogen sich im Wind. Die Kraft des reinigenden Feuers. Er liebte diesen Anblick. Er brachte ihm eine tiefe innere Zufriedenheit. Die gelben Flammen schlugen aus dem riedgrasgedeckten Dach und kleine glühende Flammenteufel tanzten beflügelt von der Hitze in die schwarze Höhe. Das Feuer vertilgte die Schreie der Dämmerung und eine friedliche Ruhe legte sich über den Strand.

Feuer, Wasser, Luft und Erde. Die Elemente allen Daseins. Feuer bedeutete Wärme und Reinheit zugleich. Es war viel­leicht nicht das maßgebliche aller Elemente, aber für ihn war es das wichtigste, denn es hatte die Macht, alle Sünden und alle Schuld zu tilgen.

Einst wurden die Hexen der reinigenden Kraft des Feuers übergeben, weil das Böse, das in ihnen wohnte, nur durch die Kraft der Reinheit besiegt werden konnte. Er hatte aufgepasst, als dieses Kapitel in der Schulstunde behandelt wurde. Ein dunkles Kapitel der Kirche, hatte der Lehrer damals gesagt. Aberglaube, übersteigerte Phantasien, Produkte einer unaufgeklärten und mystischen Zeit voller Angst und Misstrauen. Der Lehrer hatte keine Ahnung, er machte sich über­haupt keine Vorstellung von der Macht der Flammen. Waren es nicht Ezechiel und Gabriel, die ein flammendes Schwert mit sich geführt hatten, um gegen die Ausgeburten der Hölle gefeit zu sein?

Prometheus hatte den Menschen einst das Feuer gebracht und damit ihr Leben bereichert. Zeus, der Gott aller Götter, hatte ihn dafür zur Strafe an einen Felsen schmieden lassen. Gefesselt und zu keiner Bewegung fähig ertrug Prometheus sein Schicksal. Nacht um Nacht kamen die Adler vom Olymp und labten sich an seiner Leber, während er sich unter Schmerzen wand. Feuer war eine göttliche Gabe, ein Geschenk an die Menschen, der Opferbereitschaft eines göttlichen Schöpfers der Menschheit zu verdanken, der nun tagaus, tagein für sein Tun leiden muss, bis in alle Ewigkeit. Feuer, Gottes Gabe in jeder Mythologie. Lehrer, was wussten die schon vom Leben.

… denn der Herr, dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer …

Er horchte auf. Stimmen, lautes Rufen überlagerte das Knis­tern der Flammen. Sie kamen über den Dünenweg, doch es war zu spät, sie würden das fressende und wütende Feuer nicht mehr aufhalten können. Krachend stürzte das Dachgebälk in die Mauern. Funken stoben dem Himmel entgegen. Wie ein Feuerwerk erhellten sie den Strand.

Schon huschten die ersten Gestalten durch die sandige Mond­landschaft. Sie hasteten auf das Haus in den Dünen zu, das nur noch ein gleißender Feuerball war.

Er erhob sich, die abendliche Vorstellung hatte ihren Höhepunkt erreicht und es wäre unklug, sich hier draußen erwischen zu lassen. Er stolperte den Dünenabhang hinab und wandte sich in Richtung Osten, während im Hintergrund der Horizont im Feuerschein erglühte.

Jahre später, im Süden …

Die Taschen wogen schwer. Es war Freitag, der Nachmittag war angebrochen und Regenwolken lagen über der Stadt. Früher war sie öfter in die Stadt gegangen, doch in der letzten Zeit empfand sie eine tiefe Müdigkeit und musste sich zwingen, den beschwerlichen Weg auf sich zu nehmen. In einer Stunde würde Veronika in die kleine Dreizimmerwohnung im Osten der Stadt zurückkommen, und Veronika würde hungrig sein. So wie immer, wenn sie nach ihrer harten Arbeit nach Hause kam. Und nach dem Essen würde Veronika auf ihrem Zimmer verschwinden, sich auf das Bett legen und den kleinen Fernseher einschalten. Das hatte sie sich verdient, schließ­lich ernährte sie die Familie oder das, was von ihr übrig geblieben war.

Paps lag schon seit Jahren in seinem kühlen Grab auf dem Westfriedhof und ruhte sich von einem harten und arbeitsreichen Leben aus. Und Thomas lag nicht weit entfernt davon. Der arme Junge, viel zu früh aus dem Leben gerissen.

Ein Verkehrsunfall, hatte die Polizei damals gesagt. Er war auf gerader Strecke mit seinem Wagen von der Fahrbahn abgekommen und hatte einen Brückenpfeiler gerammt. Der Wagen war in Flammen aufgegangen. Die Polizisten waren in Begleitung eines Pfarrers gekommen und hatten versucht, Trost zu spenden. Und wissen wollen, was für ein Leben Thomas geführt hatte, ob es Probleme gegeben und ob er Tabletten genommen hatte. Unter Tränen hatte sie den Kopf geschüttelt. Es war ihr nicht schwergefallen, überrascht und fassungslos zu wirken. Auch wenn man eigentlich weiß, was geschehen wird, ist es erschütternd, wenn die Vorahnung von der Wirklichkeit eingeholt wird. Denn von diesem Zeitpunkt an ist alles Hoffen und Beten vergebens.

Die Polizisten hatten sich in seinem Zimmer umgeschaut. Ein aufgeräumtes Zimmer. Thomas hatte Schlamperei gehasst und war mit seinen Sachen stets penibel umgegangen. Sie hatten den Brief nicht gefunden, wie auch. Er war längst in der Schublade des Wohnzimmerschrankes verschwunden. Dort lag er noch heute. Sie hatte ihn nie mehr hervorgeholt.

Jetzt waren sie nur noch zu dritt.

Sie überquerte die Fahrbahn und ging den Gehweg der Frankfurter Straße entlang. Die Stofftaschen wogen immer schwerer. Sie atmete tief. Schließlich brachen die Wolken und der Regen ergoss sich über die Stadt. Jetzt hätte sie den Schirm gut gebrauchen können, den ihr Veronika, ihre Tochter, vor einer Woche mitgebracht hatte. Ein Werbegeschenk, hatte sie gesagt. Veronika brachte oft Dinge mit nach Hause, die ihr von einem Vertreter geschenkt worden waren. Die Werbeaufdrucke störten nicht weiter, die Funktionalität stand im Vordergrund. Und wenn es umsonst war, umso besser. So dachte die alte Frau nun mal. Sie gehörte einer Generation an, die noch den Kampf ums Überleben führen musste. Während des Krieges hatte sie oft genug gehungert und wäre froh gewesen, wenn ihr jemand ein Stück Brot zugesteckt hätte. Doch das war ein ganzes Leben her. Ihre Generation starb langsam aus und die jungen Leute von heute wussten nicht, wie es ist, wenn man hungert und wenn man friert.

Sie hatte den leichten Anstieg hinter sich gebracht und ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Bestimmt würde Veronika wieder mit ihr schimpfen, weil sie so viel eingekauft und nun so schwer zu tragen hatte. Trotzdem würde sie sich auch am nächsten Freitag wieder auf den Weg machen. Sie hasste die großen Supermärkte, in denen sich die Menschen zwischen den Regalen anrempelten. Diese Menschentrauben, die sich rücksichtslos durch die Gänge wälzten und lange Schlangen vor den Discounterkassen bildeten. Sie kaufte in dem kleinen Laden unten in der Stadt. Da konnte sie in Ruhe aussuchen und überdies auch noch ein kleines Schwätzchen halten.

 

Ach, wenn doch Veronika nur einen Mann gefunden, geheiratet und Kinder bekommen hätte, so wie es sich für eine junge Frau gehörte! Dann würde sie jetzt mit den Enkeln spielen können und alles wäre um so vieles einfacher.

Aber zu Hause, im Zimmer, vor dem Fernseher, würde Veronika nie einen Mann finden. Sie bemühte sich ja nicht einmal.

Der Regen nahm zu, doch es war ein warmer und angenehmer Sommerregen, der ihr Kopftuch durchnässte. Zu Hause würde sie sich einen Tee kochen und ihre Haare abtrocknen. Sie hatte noch ein wenig Zeit.

An der nächsten Straßenecke verschnaufte sie eine kurze Weile, ehe sie auf die Straße trat. Plötzlich ertönte ein lautes Hupen. Reifen quietschten. Ihr blieb keine Zeit mehr für den Schreck, noch nicht einmal den Schmerz nahm sie wahr, als ihr Körper unter dem Lastwagen verschwand. Ihr letzter Ge­dan­ke galt Lucia, ihrer weiteren Tochter. Dann überkam sie eine tiefe Schwärze.

*

»Sie musste nicht leiden, sie war sofort tot«, sagte der Polizist und bemühte sich, seiner Stimme ein gehöriges Maß an Anteilnahme zu verleihen. Fassungslos blickte Veronika auf das Foto des Ausweises, der vor ihr auf dem Tisch lag.

»Wir könnten einen Pfarrer …«

»Nein!«, wehrte Veronika vehement ab. »Ich brauche niemand.«

Sie hatte keine Tränen. Sie wusste, dass sie nüchtern und gefasst wirkte, wenngleich sie innerlich auch zitterte und bebte.

Und dabei hätte ihre Mutter gar nicht in die Stadt zum Einkaufen gehen müssen. Wie oft hatte sie ihr schon gesagt, dass sie warten sollte. Der nächste Supermarkt war nicht einmal fünf Fahrminuten von der Wohnung entfernt.

»Ich werde Sie jetzt alleine lassen«, sagte der Polizist. »Soll ich wirklich niemand rufen lassen? Verwandte, Bekannte, einen Arzt?«

Veronika schüttelte den Kopf. Der Polizist erhob sich und legte eine Visitenkarte auf den Tisch. »Falls Sie noch Fragen haben.«

Sie versuchte ein Lächeln, das ihr jedoch gründlich misslang.

Nachdem der Polizist gegangen war, verließ auch sie die Wohnung. Das leise Stöhnen aus dem Zimmer neben dem Bad nahm sie dabei nicht wahr.

Mit einer Taschenlampe bewaffnet ging sie in den Keller hin­un­ter. Ein modriger Geruch schlug ihr entgegen, als sie die Tür öffnete. Das schummrige Licht erhellte den in mehrere Parzellen unterteilten Raum nur unzulänglich. Die Holzgittertüren waren mit Bügelschlössern gesichert, die Verschläge vollgepfropft mit allerlei Kram aus dem Leben der Hausbewohner. Spielsachen aus der Kindheit, Fotoalben aus der Jugendzeit, Liebesbriefe längst vergessener Verehrer, Tagebücher mit all den Hochs und Tiefs einer rastlosen und längst vergangenen Zeit. Dinge, die nicht mehr gebraucht wurden, die zu Geschichte geworden waren, zu wertvoll, um sie einfach wegzuwerfen.

Vor der Holzgittertür mit der Nummer 4 blieb sie stehen. Sie öffnete das Bügelschloss. Knarrend und ächzend schwang die Tür auf. Es war Jahre her, dass sie das letzte Mal hier unten gewesen war. Staub bedeckte die Regale. Das Licht blieb draußen zurück. Im Schein der Taschenlampe suchte sie den Verschlag ab. Im Lichtkegel erschienen zwei Kartons, einer schmutzig weiß, der andere rot wie Blut. Veronika schob den Deckel des roten auf. Sie musste eine Weile im Karton suchen, ehe ihr das kleine lederne Buch mit dem rot eingefassten Buchrücken in die Hände fiel.

Der Staub der Vergangenheit war bis in die feinsten Ritzen vorgedrungen, sogar das kleine Tagebuch war nicht davon verschont geblieben.

1

Wilhelmshaven, 22. August 2000:

Dichter weißer Qualm stieg in den blauen Morgenhimmel über dem Südwestkai. Die letzten Flammen verendeten in einem Schwall aus Wasser und Gischt. Nach vier Stunden war der Brand gelöscht, der die Feuerwehrmänner in Atem gehalten hatte. Es war fünf Uhr und bald würde auch abseits des Hafens, wo die Menschen in dieser Nacht keine Ruhe hatten finden können, die Stadt wieder zum Leben erwachen. Monika Sander warf ihrem Kollegen Dietmar einen erleichterten Blick zu und griff nach ihrer Schreibkladde, die sie auf die Motorhaube des Dienstwagens gelegt hatte.

»Hast du Kleinschmidt irgendwo gesehen?«, fragte sie und schlenderte gemächlich in Richtung der qualmenden Ruine.

»Wir werden entsetzlich stinken.« Dietmar Petermann zupfte ein Stück verkohlter Asche von seiner hellen Jacke.

Ein Feuerwehrmann in orangeroter Schutzjacke kam zielstrebig auf sie zu. Die Eins auf der Vorderseite seines Helms zeigte an, dass es sich um den Kommandanten handelte. Sein Gesicht war rußgeschwärzt.

»Sie können jetzt ran«, krächzte er. »Aber nicht zu nah, es ist stellenweise noch verdammt heiß.«

Monika umrundete die Feuerwehrwagen, stieg über die am Boden verlegten Schläuche und blieb schließlich bei einer Gruppe Feuerwehrmänner stehen. Dietmar folgte ihr und rümpfte die Nase. Nicht weit von den Männern entfernt lag ein schwarzes Tuch über den Boden ausgebreitet. Darunter waren die Konturen eines menschlichen Körpers zu erkennen.

»Monika!«

Sie wandte sich um und sah Martin Trevisan zusammen mit Till Schreier hinter dem Tanklöschwagen auftauchen. »Was ist hier passiert?«, fragte er atemlos.

Trevisan machte einen verschlafenen Eindruck. Sein Gesicht war zerknittert und die Haare hingen ihm wirr in die Stirn. Er war erst vor zwei Tagen aus dem Urlaub zurückgekehrt. Ein Urlaub, den er sich redlich verdient hatte, nachdem er einem Serienmörder das Handwerk legen konnte. Und prompt lag schon der nächste Fall auf dem Schreibtisch.

»Ein toter Mann.« Monika Sander wies in Richtung der schwarzen Plastikplane. »Wahrscheinlich ein Landstreicher, der sich die alte Lagerhalle als Übernachtungsmöglichkeit ausgesucht hat. Ist kein schöner Anblick mehr.«

»Habt ihr seinen Namen?«

»Wir fanden einen angekohlten Rucksack, in dem Papiere steckten. Alles deutet darauf hin, dass es sich um Brandstiftung handelt. Wir warten noch auf Kleinschmidt.«

»Brandstiftung?«, murmelte Trevisan.

»Es sieht so aus, als ob der Feuerteufel wieder zugeschlagen hat«, antwortete Monika Sander. »Zumindest trägt der Brand seine Handschrift. Beck meint, das es jetzt unser Fall ist.«

Sie reichte Trevisan eine Plastiktüte aus ihrer Schreibkladde, in der ein Bogen Papier steckte.

Trevisan las den Spruch, der auf dem Bogen stand: »Der Unreine aber, auf dem sich alles Übel zeigt, soll verbrannt werden, denn es ist ein bösartiger Aussatz, den er trägt, als Zeichen seiner Ruchlosigkeit!«

»Das lag mit einem Stein beschwert auf dem Feldweg, der zum Gebäude führt. Feuerwehrmänner haben es gefunden.«

»Der Feuerteufel?«

»Der Feuerteufel vom Wangerland«, bestätigte Monika. »Das ist bereits Brand Nummer elf. Und immer lässt er ein Bibel­zitat zurück. Das geht schon seit Juli so, aber in Griechenland hast du davon wohl nichts mitgekriegt.«

Kleinschmidt schob sich wortlos durch die kleine Gruppe der Feuerwehrleute und kniete neben dem Toten nieder. Er warf einen Blick unter die Leichendecke und schaute griesgrämig drein, als er sich wieder erhob. »Das gibt wieder mal eine ganz besondere Leichenidentifizierung«, murmelte er.

»Über die Fingerabdrücke müsste etwas zu machen sein«, erwiderte Monika Sander. »Wir haben einen Ausweis gefunden. Demnach heißt der Tote Jens Baschwitz und ist schon mehrfach polizeilich in Erscheinung getreten. Seine Fingerabdrücke müssten gespeichert sein. Ein Wohnsitzloser, der sich mit Diebereien über Wasser hielt. Wahrscheinlich ein Zufallsopfer. Hat sich den falschen Platz zum Übernachten ausgesucht.«

Kleinschmidt füllte seine Pfeife mit Tabak. »Dann können wir froh sein, dass die Feuerwehr schnell genug war, um zu verhindern, dass auch noch seine rechte Hand verkohlte. Aber mit Spuren kann ich dir leider nicht dienen. Da ist nichts mehr übrig, wenn fünfzig Mann durch das Gelände stapfen.«

»Für heute reicht mir schon, wenn du mir definitiv sagen kannst, dass der Tote wirklich Jens Baschwitz ist«, sagte Trevisan. »Ich muss mich erst einmal in die Akten einlesen. Bei elf Brandstiftungen wird doch wohl ein Ansatzpunkt für uns hängengeblieben sein. Und was soll das mit diesen Bibelzitaten?«

»Das ist jetzt das fünfte Mal in den letzten vier Wochen, dass ich mitten in der Nacht zu einem Brand gerufen werde«, klagte Kleinschmidt. »Wir haben jedes Mal die gesamte Umgebung abgesucht, aber nie einen Hinweis gefunden, den wir dem Täter zuordnen können. Außer den Zitaten aus dem Alten Testament. Er schreibt sie auf DIN-A5-Format und schweißt sie in Folie ein. Er sucht sich einsame Gebäude aus, die leicht entflammbar sind. Legt an allen Ecken Feuer und ver­wendet Benzin als Brandbeschleuniger. Mehr wissen wir bis­lang nicht. Es ist das erste Mal, dass es eine Leiche gab. Aber rede mit Schneider, der wird gottfroh sein, wenn er den Fall endlich vom Tisch hat.«

Trevisan seufzte. »Wieder so ein Spinner, der im Namen des Herrn einen heiligen Auftrag erfüllt. Nimmt das denn über­haupt kein Ende?«

»Schaut euch doch nur einmal draußen in der Welt um«, antwortete Dietmar Petermann. »Die heutige Generation hat längst den Blick für die Mitmenschen verloren. Sie vergraben sich in ihren dunklen Kammern und sind nur noch fähig, über den Cyberspace miteinander zu kommunizieren. Sie schlüp­fen in ihre programmierten Heldenrollen und mischen das ganze Universum auf, aber außerhalb ihrer künstlichen Welt sind sie hilflos wie kleine Kinder. Sie sind nicht einmal mehr in der Lage, einen einfachen Satz zu formulieren, geschweige denn Kontakte herzustellen und zu pflegen. Die Welt wird ärmer und die Menschen immer schwachsinniger. Kein Wunder, dass es immer mehr Idioten gibt, die ein Computerprogramm nicht mehr von der realen Welt unterscheiden können.«

Schweigend blickte Trevisan auf den Leichnam. Wenn es auch nicht oft geschah: Manchmal traf sogar Dietmar den Nagel auf den Kopf.

Kleinschmidt entzündete seine Pfeife und blies den Rauch in den Morgenhimmel. »Ich mach mich jetzt an die Arbeit, die Gerichtsmedizin ist verständigt. Ich fahre dann gleich rüber, damit wir die Identifizierung so schnell wie möglich vornehmen können. Ich lasse Hanselmann hier. Er soll sich ein wenig umsehen, wenn die Feuerwehr das Feld geräumt hat.«

Trevisan nickte. Er ließ Kleinschmidt mit der Leiche zurück und machte sich auf die Suche nach Till Schreier, der den Feuerwehrmann vernahm, der die Leiche aus dem brennenden Schuppen geborgen hatte.

Jetzt war Trevisan gerade mal seit einem Tag wieder im Dienst und schon wartete wieder ein Serientäter auf ihn. Der Fall des Wangerlandmörders war vor ein paar Wochen erst abgeschlossen worden, und jetzt hatte Trevisan das Gefühl, das ganze Spiel ging von vorne los. Wie fing man einen Brandstifter?

»Hey, Martin!«, riss ihn Till aus den Gedanken. »Ich suche nach dir. Dietmar hat einen Zeitungsausträger ausfindig gemacht, der kurz vor Brandausbruch einen Wagen über die Jachmannbrücke davonbrausen sah. Er vernimmt ihn gerade.«

Hoffnung keimte in Trevisan auf. Sollte es doch einen Ansatzpunkt geben?

*

Er stand auf der Kaiser-Wilhelm-Brücke und beobachtete aus sicherer Entfernung die Szenerie. Die zuckenden Blaulichter der Feuerwehrwagen spiegelten sich im Lack des großen, weißen Frachters, der am Südwestkai festgemacht hatte. Am Horizont durchbrach die Sonne allmählich die weißen Schwaden, die der Wind dorthin blies, wo die hohen Kräne am Kai ihre Hälse dem Himmel entgegenreckten.

Seine Gefühle waren zweigeteilt. Auf der einen Seite eine tiefe Zufriedenheit, auf der anderen Seite war er schockiert. Es hatte einen Toten gegeben.

Die anderen Schaulustigen, die über das Geländer gelehnt gebannt das Treiben am Kai beobachteten, schienen noch nicht genug Sensation eingesaugt zu haben. Ihm jedoch reichte diese Prise Nervenkitzel für den heutigen Tag. Die Männer in ihren orangeroten Jacken, mit ihren feuerfesten Handschuhen und den cremefarbenen Helmen auf ihren Häuptern hatten die Schlacht gegen das Feuer verloren. Von dem alten Lagerschuppen war nicht viel mehr als die Grundmauern übrig geblieben. Die verzehrende Kraft des Feuers. Er wandte sich ab und humpelte in Richtung des Fliegerdamms davon.

*

Sie hatten sich wie immer nach der Tatortarbeit im Konferenzraum der Dienststelle versammelt. Monika kochte Kaffee, während Dietmar seine Jacke mit einem Deodorant besprühte.

»Muss das sein?« Till Schreier hielt sich die Nase zu. »Hier stinkt es schlimmer als in einem Puff.«

 

»Ich finde es toll, wenn sich der Duft von Frühlingsblumen mit dem Aroma von frischem Hochlandkaffee und dem Gestank von verkohlten Holzbalken mischt«, unkte Monika. »Es hat so etwas Exotisches.«

Trevisan war in die Akte vertieft, die Schneider vom 3. Fachkommissariat kommentarlos in seinem Büro hinterlassen hatte. Kleinschmidt hatte recht behalten, den Kollegen vom 3. konnte es gar nicht schnell genug gehen, sie wollten die Akte vom Schreibtisch haben. Der Grund dafür war offensichtlich: Bislang gab es keinerlei Ansatzpunkte. Elf Brände waren gelegt worden, den heutigen eingeschlossen. Meist war nur Sachschaden an leerstehenden oder abbruchreifen Gebäuden entstanden. Die Serie hatte am 26. Juli draußen in Voslapp begonnen, an der Deponie war ein alter Lagerschuppen angezündet worden. Der oder die Täter hatten Benzin als Brandbeschleuniger benutzt und an allen vier Seiten des Ge­bäudes Feuer gelegt. Offenbar um sicherzugehen, war zu­sätzlich ein Molotowcocktail durch ein eingeschlagenes Fenster geworfen worden.

Am aufgeschnittenen Zaun, der zu dem abgebrannten Schup­pen in Voslapp führte, hatte der erste laminierte Bibelspruch gehangen: … er vertrieb den Menschen und stellte östlich des Gartens von Eden die Cherubim auf und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten …

Ein Spruch aus der Schöpfungsgeschichte, Genesis 3, der Fall des Menschen, nachdem Gott Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben hatte. Doch welcher Sinn steckte dahinter? Gab es überhaupt einen Sinn? Oder ging es nur darum, ein Feuer zu entfachen? War hier ein verrückter Pyromane am Werk, der sich an der Hitze der Flammen labte, oder übte der Brandleger eine ganz eigentümliche Art der Rache?

Till Schreier überflog eine Auflistung der Taten. »Am 26. Juli in Voslapp, drei Tage später der Schuppen am Kanalhafen. Am 2. August zündet er eine Garage in Coldewei an, dann sind sieben Tage Pause, bevor in Wehlens eine Scheune brennt. Am 12. in Breddewarden, am 14. eine Lagerhalle am Friesendamm, am 16. August ein Schuppen in Westerhausen, zwei Tage später ein leerstehendes Wohnhaus in Schaar, einen Tag darauf die Lagerhalle im Industriegebiet West, vor zwei Tagen eine Gartenlaube in Roffhausen und heute Morgen der Schuppen am Südwestkai. Der Junge ist ganz schön aktiv.«

»Ein Junge?«, fragte Trevisan.

»Na ja«, antwortete Till Schreier. »Zumindest glaube ich, dass es ein Einzeltäter ist. Kein politisches Motiv, keine wirtschaftlichen Interessen, offenbar eine rein willkürliche Vorgehensweise ohne System. Keine Hinweise, außer Bibelzitate, die sich mit dem heiligen Feuer beschäftigen. Entweder will er Feuer sehen oder es gefällt ihm, wenn die großen, roten Feuerwehrautos mit Blaulicht und Signalhorn durch die Gegend brausen.«

»In den Akten vom FK 3 ist ein Gutachten eines Brand­sachverständigen«, sagte Trevisan. »Der attestiert unserem Feuerteufel ein großes Maß an Insiderwissen.«

»So ein Blödsinn«, antwortete Dietmar. »Man gießt Benzin aus und zündet es an. Und schon hat man einen Brand.«

»Da irrst du dich gewaltig«, konterte Till. »Wir hatten da­mals bei der Freiwillen Feuerwehr einen Lehrgang über die Brand­ausbreitung. Es ist gar nicht einfach, ein Gebäude so an­zustecken, dass am Ende nichts mehr davon übrig bleibt. Außer den Grundmauern natürlich.«

»Du warst bei der Feuerwehr?!«, warf Dietmar hämisch ein.

Monika Sander schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. »Wusstet ihr eigentlich, dass in fast fünfundfünfzig Prozent aller Brandstiftungen der Täter ein Feuerwehrmann ist?«

»Dann sollten wir den Jungs vielleicht mal auf den Zahn fühlen«, antwortete Dietmar und wandte sich Till zu. »Und mit dir haben wir schon unseren ersten Verdächtigen.«

»Weißt du, wie viele Feuerwehrleute es in Wilhelmshaven und der Umgebung gibt?«, fragte Monika.

»Wieso Wilhelmshaven?«, entgegnete Trevisan. »Auch in Wehlens, in Westerhausen und in Roffhausen hat es gebrannt.«

»Mittwoch, Samstag, Mittwoch, Mittwoch, Samstag, Mon­tag, Mittwoch, Freitag, Samstag, Sonntag und Dienstag«, las Till laut von der Auflistung ab. »Er hat bislang an jedem Wochentag zugeschlagen. Das heißt, er hat eine Menge Zeit.«

»Und er ist aus dieser Gegend und kennt sich gut hier aus«, bestätigte Trevisan. »Die Zeiten des Brandausbruchs sind eben­so unregelmäßig. Sie liegen sowohl vor Mitternacht als auch danach. Wie lässt sich das mit einem Job vereinbaren?«

Dietmar war mit der Reinigung seiner Jacke am Ende und hängte sie vor ein offenes Fenster. »Der Zeitungsausträger hat einen dunklen Kleinwagen beobachtet, der kurz nach drei Uhr die Jachmannstraße in Richtung Ebertstraße davongerast ist. Zu diesem Zeitpunkt ist ihm aber nichts Besonderes aufgefallen. Der Brand wurde erst eine halbe Stunde später von einem Hafenarbeiter entdeckt, der zur Schicht gefahren ist. Der Wagen könnte also mit der Sache in Verbindung stehen, muss aber nicht.«

»Noch etwas?«, fragte Trevisan.

»Er kann keine nähere Beschreibung abgeben«, antwortete Dietmar. »Es kam ihm bloß ungewöhnlich vor, weil der Wagen sehr schnell fuhr und mit quietschenden Reifen abgebogen ist. So als wäre der Fahrer auf der Flucht.«

»Weiß inzwischen jemand, woher das heutige Zitat stammt?«, fragte Trevisan.

»Na, aus der Bibel«, antwortete Dietmar ernsthaft.

»Danke, da wäre ich alleine nicht draufgekommen«, entgegnete Trevisan sauer.

»Es ist ein Spruch aus dem Alten Testament«, erklärte Monika Sander. »Genauer gesagt aus dem Levitikus, dem drit­ten Buch Mose, Vers 13.«

»Levitikus? Ist das nicht das Kapitel, in dem es um Regeln für den Umgang mit Gott geht?«

»Das muss aber nichts bedeuten«, mischte sich Till Schreier ein. »Die anderen Sprüche findet man in anderen Teilen der Bibel, egal ob in der Genesis oder im Buch Exodus. Es sind einfach nur Zitate aus dem Alten Testament. Ich glaube nicht, dass ein tieferer Sinn dahintersteht, sie sind wahllos ausgesucht.«

»Ich hoffe, dass du damit recht behältst und er nicht mittler­weile der Auffassung ist, dass zu Opfergaben aus Holz und Kunststoff auch Fleisch und Blut gehören.«

Trevisan erhob sich und trat vor die große Tafel an der Stirnseite des Tisches. Er nahm Kreide und schrieb Feuerwehrmann, möglicherweise arbeitslos, Religion, Bibelsprüche, Pyromane, aus der Gegend, dunkler Kleinwagen auf den grünen Untergrund. Bevor er fertig war, wurde die Tür zum Konferenzraum geöffnet und ein junges, blasses Mädchen mit einem langen blonden Zopf trat schüchtern ein. Trevisan warf ihr einen überraschten Blick zu.

»Hallo, Anne«, begrüßte Monika sie. »Wir sind schon mitten in der Arbeit.«

Ihr leises »Guten Morgen« ging im Gemurmel unter.

Monika wies auf Trevisan. »Das ist übrigens unser Chef. Martin Trevisan.«

Das Mädchen reichte ihm die Hand.

»Anne Jensen ist uns seit dem 1. August als Praktikantin zugeteilt«, erklärte Monika. »Sie kommt übrigens aus Sande,­ so wie du.«

Trevisan musterte das Mädchen. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. »So, Praktikantin«, wiederholte er. »Das ist gar nicht schlecht, dann sind wir schon zu fünft im 1. FK. Wir können jede Hilfe gebrauchen. Heute Nacht ist ein Lagerschuppen am Südwestkai abgebrannt. Ein Wohnsitzloser ist dabei ums Leben gekommen. Es war offensichtlich Brandstiftung. Das heißt, wir haben es mit einem Verbrechen zu tun, vielleicht sogar mit Mord.«

»Mord?«, mischte sich Dietmar ein. »Wie kommst du auf Mord, dafür gibt es doch überhaupt keine Anhaltspunkte?«

Trevisan lächelte. »Haben wir seit dem letzten Fall nicht beschlossen, erst einmal offen an die Sache heranzugehen und uns nicht wieder frühzeitig festzulegen? Wir können nicht aus­schließen, dass dieser Baschwitz Opfer eines gezielten Mord­anschlages wurde. Vielleicht reichte es dem Brandstifter nicht mehr, nur Häuser brennen zu sehen, oder es gab einen Streit unter Pennbrüdern. Und es ist auch gar nicht so abwegig, den Brandstifter vielleicht sogar in diesem Milieu zu vermuten. Die Brandorte liegen in der Einsamkeit und kämen alle auch als Übernachtungsplätze für Wohnsitzlose in Betracht.«

Dietmar schüttelte den Kopf. »Ein Penner fährt aber keinen Kleinwagen.«

»Der Kleinwagen muss nicht mit dem Fall in Verbindung stehen«, konterte Trevisan. »Dazu gibt es bislang noch keine ausreichenden Indizien.«

»Trevisan hat recht«, bestätigte Monika Sander. »Also, wie gehen wir vor?«

Trevisan wies auf einen freien Stuhl und wartete, bis sich Anne gesetzt hatte. »Ich werde mich um die Obduktion und zusammen mit Kleinschmidt um die Identifizierung kümmern. Dietmar und Till nehmen sich den Lebenslauf des Toten vor, vielleicht ergeben sich daraus irgendwelche Anhaltspunkte. Und du überprüfst mit Anne die Feuerwehrmänner.«